Bahr: Möglichst viele Menschen sollen für die Pflege privat vorsorgen
Im Streit um die geplante Förderung der privaten Pflege-Zusatzversicherung erwartet Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) eine Einigung mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). "Über den richtigen Weg diskutieren wir gerade, aber das läuft sehr, sehr sachlich", sagte Bahr.
Deutschlandradio Kultur: Die Deutschen werden immer älter. Ein Mädchen zum Beispiel, das heute geboren wird, hat eine Lebenserwartung von 82 Jahren. Darauf muss sich die Gesellschaft einstellen. Millionen Menschen müssen im Alter gepflegt werden, zum Beispiel wegen Demenz. Wir brauchen mehr Fachpersonal, das auch ordentlich bezahlt wird – und das alles, ohne den Staat mit den Kosten zu überlasten. Pflege und Pflegepolitik, darüber sprechen wir jetzt mit Daniel Bahr, Bundesgesundheitsminister von der FDP. Guten Tag.
Daniel Bahr: Guten Tag, Herr Steinhage, guten Tag, Herr Zantow.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, einer aktuellen repräsentativen Umfrage zufolge, hat jeder zweite Deutsche davor Angst, im Alter dement zu werden, also zum Beispiel an Alzheimer zu erkranken. Haben Sie als vergleichsweise junger Mensch von Mitte 30 diese Angst manchmal auch?
Daniel Bahr: Nein und ich glaube auch, Angst ist der völlig falsche Ratgeber. Insofern freue ich mich, wenn bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auch mit ihrer Demenzerkrankung in die Öffentlichkeit gehen. Wir hatten ja Fälle, wo bekannte Persönlichkeiten Selbstmord begangen haben wegen der Angst vor Demenz. Wie wir dann häufig nachher feststellen, ist es wohl gar nicht Demenz, sondern sind es wohl eher Depressionen.
Ich glaube, keiner sollte in Angststarre verharren oder sollte sich zu viel Angst vor Demenz machen.
Das ist sicherlich ein Schicksalsschlag, den ich auch persönlich in meiner Familie erlebt habe und der einen vor große Herausforderungen stellt, auf die man sich kaum vorbereiten kann. Aber man muss damit umgehen. Demenz wird immer mehr Menschen in den Familien erreichen. Und wer nur die Augen davor verschließt und Angst hat, der verkennt, dass das weiterhin unsere Angehörigen sind, die wir begleiten müssen und denen wir helfen müssen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade schon Prominente angesprochen. Zum Beispiel Rudi Assauer ist ein anderes Beispiel, ein ehemaliger Fußballer und Fußballmanager von Schalke 04. Er ist sogar ins Fernsehen gegangen mit seiner Alzheimererkrankung. Sie sagten danach, es mache vielen Menschen Mut, dass Assauer seine Erkrankung öffentlich gemacht habe. Was finden Sie daran ermutigend?
Daniel Bahr: Weil es uns zeigen kann, dass man mit dementen Menschen weiterhin zusammenleben kann und dass sie sich sicherlich verändern. Gerade Rudi Assauer war ja ein Typ, der unglaubliche Männlichkeit und unglaubliche Stärke ausstrahlte, ein gewisser Machotyp vielleicht. Und plötzlich erlebt man, dass auch so jemand verwirrt ist und nicht mehr alleine vieles machen kann.
Insofern macht es Mut, gerade Angehörigen, die demente Mütter oder Väter oder demente Großmütter oder Großväter zu betreuen haben, dass man damit umgehen kann und dass man sich nicht schämen muss, dass man weiter am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, dass man nicht ausgegrenzt wird, dass das auch etwas ist, was man nicht verneinen muss oder wegschieben muss, sondern das in die Mitte der Gesellschaft gehört. Demenz wird ein immer größeres Thema für uns alle in der Gesellschaft und kann immer mehr Familien betreffen.
Deswegen finde ich gut, dass wir die Öffentlichkeit erreichen, es zum Thema wird, es nicht verdrängt wird.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagten eben zu Recht, das Thema wird immer größer, immer bedeutender. Aber bis dato sind doch die Fakten eher entmutigend. Eine Therapie gegen Alzheimer ist nicht in Sicht. Heutzutage leiden hierzulande rund 1,2 Millionen Menschen an Demenz, zwei Drittel davon etwa an Alzheimer. Die Zahl wird sich vermutlich in den nächsten knapp 30 Jahren verdoppelt. Wie wollen Sie diese tickende Zeitbombe entschärfen?
Daniel Bahr: Ich will es mal nicht so martialisch ausdrücken, weil eine tickende Zeitbombe ist Demenz nicht. Demenz ist eine enorme Herausforderung. Sie haben es beschrieben, dass wir seit Jahren erleben, dass man in der Forschung keinen Durchbruch schafft. Es gibt aber auch viele andere Krankheiten, wo wir keine Heilungschancen haben oder noch keine Therapien haben, um wieder komplett zu gesunden.
Wir haben aber Fortschritte gemacht, was die Versorgung angeht. Und wir haben auch einige erfreuliche erste Erkenntnisse, dass man vielleicht herauszögern kann die Entwicklung. Das sind zarte Pflänzchen. Die wollen wir weiter unterstützen. Die Bundesregierung hat ein Leuchtturmprojekt Demenz gestartet, in dem wir Versorgungsforschung, insbesondere aber auch Forschung der Therapie weiter mit vielen Millionen unterstützen wollen.
Es geht aber darum, dass überhaupt erstmal das Thema Demenz erkannt wird, dass es in der Gesellschaft eine Rolle spielt. Es betrifft immer mehr Menschen und wir müssen damit umgehen. Wir müssen insbesondere Angehörige unterstützen mit dementen Menschen, entsprechende Betreuungsleistungen auch zu bekommen. Demenz wurde bisher nicht berücksichtigt bei Pflegebedürftigkeit. Das ändern wir jetzt erstmals.
Deutschlandradio Kultur: Zur Unterstützung von Demenzkranken haben Sie jetzt ja auch einen Reformentwurf vorgelegt. Danach werden ungefähr eine halbe Million Demenzkranker erstmals mehr Leistungen aus der Pflegekasse erhalten.
Ein kurzes Beispiel: Pflegestufe 1, dort würde ein Betroffener dann nach Ihrem Entwurf, der den Angehörigen zu Hause pflegt, 70 Euro mehr im Monat erhalten. Ist das genug?
Daniel Bahr: Die Pflegeversicherung ist und bleibt eine Teilkostenabsicherung. Das will auch keine Partei in Deutschland infrage stellen. Sie haben jetzt ein – Pardon – zugespitztes Beispiel gewählt. Wenn ich mir die vielen Pflegebedürftigen anschaue, die bisher keine Leistung aus der Pflegeversicherung bekommen, in der so genannten Pflegestufe Null sind, für die sind natürlich die Summen schon eine erhebliche Unterstützung. Das heißt, für jemand, der bisher keine Leistung aus der Pflegeversicherung bekommt, aber dement ist, der kann sich künftig jede Woche einen Tag eine Betreuung leisten. Das ist deutlich eine Verbesserung gegenüber dem heutigen Zustand.
Deutschlandradio Kultur: Warum dann nicht zwei Tage zum Beispiel?
Daniel Bahr: Na, das muss ja alles im Rahmen sein der Finanzierbarkeit. Und wir haben ja lange genug in der Koalition Gespräche geführt. Wir wissen das seit Jahren, (seit) es die Pflegeversicherung gibt, seit Mitte der 90er Jahre. Es ist nichts geschehen für Demenz. Erstmals haben wir jetzt eine Beitragssatzerhöhung beschlossen, in der vollständig das Geld dann für die Leistungsverbesserung zur Verfügung steht. Da legen wir auch einen klaren Schwerpunkt auf die ambulante Pflege. Wir sagen, dass diese Mittel aus der Beitragssatzerhöhung von 0,1 Prozent, das sind einfach 1,1 Milliarden, auch voll für die Verbesserung der ambulanten Pflege zur Verfügung stehen und dann insbesondere für die, die bisher kaum oder keine Leistung bekommen. Aber für die ist das ein Unterschied.
Das muss finanzierbar sein. Pflege, auch gerade dementer Menschen, ist insbesondere immer eine Arbeit, die in der Familie geleistet wird und die auch die Pflegebedürftigen weiter in der Familie sehen wollen. Familie ist ja nicht nur für gute Zeiten da, sondern auch für schwierige, wo man einander unterstützen muss. Und da wollen wir genau ansetzen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Minister, Sie haben es selber gesagt, der Beitragssatz zur Pflegeversicherung wird um 0,1 Prozent angehoben zum Jahr 2013. Das Geld soll im Wesentlichen den Demenzkranken zugute kommen. Gleichwohl die Frage, wenn wir schon beim Geld sind: Warum eigentlich erst im nächsten Jahr? Die bräuchten doch die Leistung jetzt und sofort.
Daniel Bahr: Die Beitragssatzerhöhung wird erst wirksam zum 1. Januar 2013. Und das war gemeinsamer Konsens in der Koalition, dass die Leistungsverbesserungen auch dann in Kraft treten, wenn die Beitragssatzerhöhung in Kraft tritt. So ist sie ja finanziert.
Ich will auch noch mal sagen: Es ist für Betroffene schon eine deutliche Unterstützung, wenn in Pflegestufe Null als Pflegesachleistung, wo bisher keiner was bekommt...
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht kurzer Einschub für all die, die sich nicht so auskennen. Pflegestufe Null ist für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz.
Daniel Bahr: Genau die kriegen bisher keine Leistung aus der Pflegeversicherung, aber sind dement und sind natürlich dann auch betreuungsintensiv. Sie brauchen Unterstützung. Die kriegen jetzt pro Monat 225 Euro zur Verfügung. Das ist natürlich schon etwas. Mit dem kann man Vorlesezeit, Spaziergang, Spiele oder anderes mehr – es geht ja manchmal einfach für die Tochter, die Schwiegertochter, den Schwiegersohn, den Sohn, dass die auch mal einen Tag was ganz anderes erledigen wollen, mal Abstand nehmen wollen. Dann freuen sie sich natürlich, wenn sie eine solche Unterstützung in Anspruch nehmen können.
Das wird ab ersten Januar und damit jetzt auch schnell wirksam, bevor wir den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff angehen. Das ist eine große Herausforderung. Die braucht einige Zeit. Das heißt, schnell wirksam kommen Verbesserungen für die Menschen.
Deutschlandradio Kultur: Hätten Sie den Bedürftigen denn gern mehr Geld gegeben? Oder sind Sie damit jetzt zufrieden?
Daniel Bahr: Ich finde, das ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Und wir wissen, dass wir in den nächsten Jahren noch weiterarbeiten müssen, um die menschenwürdige Pflege im Alter auch weiterhin finanzierbar, bezahlbar, aber eben auch leistungsfähig zu halten. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich verdoppeln. Es gibt Studien, die sogar von Verdreifachen sprechen. Wir werden also mehr Bedarf haben in einer alternden Bevölkerung und immer weniger Junge, die nachkommen.
Umso mehr werden wir auch dafür tun müssen, für die Pflege. Das gehört zur Ehrlichkeit hinzu. Es kann keine Reform geben, die in einem Jahr eine Entscheidung trifft und dann für 30 Jahre nichts mehr geändert werden muss, erst recht nicht im Umlagesystem. Die soziale Pflegeversicherung ist ein Umlagesystem. Von den laufenden Beiträgen werden die laufenden Ausgaben gedeckt. Das heißt, es muss immer wieder zu Anpassungen kommen.
Ich habe ja als Liberaler immer dafür geworben, dass wir auch zusätzlich auf Kapitaldeckung Wert legen und auch Kapitaldeckung und Eigenvorsorge hier ganz besonders stärken. Das wollen wir auch machen. Aber zur Ehrlichkeit gehört hinzu: Wer auf ein Umlagesystem setzt, der weiß, dass auch entsprechende Entscheidung immer wieder zu treffen ist. Es wird nie eine Reform geben können, die aus der Pflegeversicherung eine Vollkaskoabsicherung macht, dass alles der Staat, alles die Gesellschaft finanziert.
Und ich halte das auch nicht für sinnvoll und richtig. Das Pflegerisiko ist eines, worauf man sich vorbereiten kann. Das Pflegerisiko ist eines, was im hohen Alter trifft, auch übrigens nicht jeden trifft. Insofern ist es auch sinnvoll, dass eine Teilkostenabsicherung ist und auch ein Eigenanteil zu tragen ist. Keine Partei, wie gesagt, im Deutschen Bundestag stellt dieses Grundprinzip, Pflege ist eine Teilkostenabsicherung, infrage.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, bei Ihrem jetzt vorliegenden Reformentwurf bleibt der stationäre Bereich nicht nur bei den Demenzkranken weitgehend außen vor. Warum gibt es keine zusätzlichen Mittel für die Heimpflege, also immerhin für jeden Dritten, der insgesamt rund 2,4 Millionen Pflegefälle?
Daniel Bahr: Wir haben uns konzentriert auf diejenigen, die bisher keine oder kaum Leistungen bekommen, wenn sie dement sind. Und das sind die Fälle, die in der ambulanten Pflege sind. In der stationären Pflege ist die Belastung durch Demenz sicherlich auch da. Wir haben ja auch zusätzliche Betreuungskräfte heute schon im Gesetz stehen. Aber die dringende Handlungsnotwendigkeit haben wir insbesondere bei den Familien und Angehörigen gesehen von pflegebedürftigen dementen Menschen, die häufig sich ganz alleingelassen fühlen.
Deswegen haben wir bewusst gesagt, wir wollen nicht mit der Gießkanne allein ein bisschen was geben, dann wirkt es nicht, sondern uns konzentrieren da, wo wir als Koalitionsparteien den nötigsten Handlungsdruck sehen. Und das ist zu Hause, das ist bei dementen Menschen, die von Angehörigen gepflegt werden und bisher kaum Pflegeleistungen bekommen. Deswegen wollen wir denen lieber mehr zur Verfügung stellen. Es sind immerhin 500.000 Menschen, die in Deutschland von diesen Maßnahmen konkret profitieren. Ich finde, das ist schon eine Menge an Betroffenen, für die wir ganz konkret etwas tun.
Deutschlandradio Kultur: Sind die Kosten denn einer professionellen Pflege im Heim einfach auch so hoch, dass man sie stiefmütterlich behandeln muss, diese stationäre Pflege?
Daniel Bahr: Nein, darum geht’s mir nicht. Ich will nicht was gegeneinander ausspielen. Wir brauchen stationäre Pflege, die sicherlich sehr kostenintensiv ist. Und sie muss auch professionell sein. Die braucht auch eine Wertschätzung. Und das ist nicht besser oder schlechter, ob stationär oder ambulant.
Aber es ist der Wunsch der Menschen. 70 Prozent der Pflegebedürftigen wird heute zu Hause gepflegt. Und die Menschen wollen so lange wie möglich zu Hause bleiben, in ihrer Familie, in ihrem häuslichen Umfeld. Also entspricht es dem Wunsch der Menschen, wenn wir etwas dafür tun, dass Menschen auch so lagen wie möglich zu Hause bleiben können. Keiner geht gerne ins Heim.
Dazu kommt natürlich, dass ich als Gesundheitsminister auf die Kosten achte, das ist richtig, und einen Trend oder einen Anreiz nicht schaffen möchte, dass Heimpflege attraktiver ist für Betroffene, erst Recht, wenn sie es eigentlich auch nicht wollen, vor allem aber natürlich, weil es kostenintensiver ist. Und deswegen setzen wir Anreize, ambulant vor stationär. Wenn die Menschen so lange wie möglich zu Hause bleiben wollen, wollen wir die Rahmenbedingungen schaffen, dass es sich auch finanziell lohnt, so lange wie möglich zu Hause zu bleiben.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, bei all dem, was wir jetzt bereden, sagt ja die Kritik im Grunde genommen auch, Bahr ist auf dem richtigen Weg, aber die umfassende Reform der Pflegeversicherung, die steht immer noch aus. Ihr Amtsvorgänger Philipp Rösler, da waren Sie noch Staatssekretär, hatte das Jahr 2011 zum Jahr der Pflege ausgerufen. Den Worten folgten keine Taten. Und mit dem ganz großen Wurf soll es ja erst nach der Bundestagswahl 2013 etwas werden, wenn überhaupt? – Warum eigentlich dieser Zeitverzug?
Daniel Bahr: Auch in der Pflege gilt das gleiche Prinzip wie in Gesundheit, da ist nicht mit einem Schlag alles zu lösen. Es gibt keine Revolution und danach ist alles gut, sondern es ist eine Evolution, zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Das bedeutet aber nicht, dass damit alles gelöst ist. Wir arbeiten jetzt ja aktuell auch daran, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff auf den Weg zu bringen. Das geht leider nicht von heute auf morgen. Wenn es von heute auf morgen ginge, hätte es übrigens meine Vorvorgängerin Frau Schmidt schon längst gemacht. Denn die Ergebnisse des Berichts lagen ja in der letzten Legislatur vor. Und sie hat ja auch nicht es von heute auf morgen umsetzen können.
Deutschlandradio Kultur: Aber - Entschuldigung, dass ich jetzt die Frage vorweg nehme - genau das ist doch der Punkt, an dem sich doch sozusagen auch die Kritik aufhängt. Die Vorarbeiten durch ein Expertengremium zum Pflegebedürftigkeitsbegriff sind doch geleistet worden. Die sind da. Und jetzt fangen Sie sozusagen wieder von vorne an.
Daniel Bahr: Nein, dann ist das ein Missverständnis, was ich ja gut hier auch aufklären kann.
Wir wollen ja nicht von vorne anfangen, sondern wir wollen das, was das Ergebnis des Pflegebeirats der letzten Legislatur war, zum Ausgangspunkt nehmen, jetzt die Umsetzung anzugehen. Und der Expertenbeirat der letzten Legislaturperiode sagt ja selbst, dass da noch viele offene Fragen zu beantworten sind, bis der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Realität angekommen ist.
Deutschlandradio Kultur: Dann sprechen wir doch genau noch mal über diesen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Sie haben ein Expertengremium eingesetzt, das bekannt ist, den Pflegebeirat. Der Vorsitzende ist im Dezember zurückgetreten. Nun kam die Neubesetzung. Das erste Treffen soll im März stattfinden. Wie sehen Sie jetzt die Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs?
Daniel Bahr: Der bisherige Pflegebedürftigkeitsbegriff richtet sich allein nach den Verrichtungen. Kann jemand sich Zähneputzen, Haarekämmen alleine, wie sehr ist er noch selbständig. Er richtet sich aber nicht danach, wie sehr ein Betreuungsaufwand aufgrund einer Demenzerkrankung entsteht. Theoretisch kann er alles noch alleine, aber durch die Demenzerkrankung ist eben alles nicht mehr so möglich, wie wir das uns wünschen und auch vorstellen.
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff soll sich genau danach ausrichten, wie ist der Betreuungsaufwand nicht nur nach den Verrichtungen, sondern eben auch aufgrund der Altersverwirrung, der Demenzerkrankung. Der ist erarbeitet worden in der letzten Legislaturperiode. Da sind wir schon sehr weit. Wir haben den Begriff. Aber wie das abzugrenzen ist an andere Sozialleistungen, zum Beispiel Leistungen für Menschen mit Behinderung, wie genau die Begutachtungen stattfinden, wie wir einen Bestandsschutz schaffen für diejenigen, die heute schon in den Pflegestufen sind, all das sind noch sehr offene Fragen, die zu klären sind.
Meine Vorvorgängerin Frau Schmidt, Ulla Schmidt hat übrigens erklärt, dass es dafür drei bis vier Jahre braucht, bis das wirksam ist. Deswegen gehen wir das ja jetzt auch an, damit wir nicht weitere Zeit verlieren.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, man muss jetzt gucken, dass man eben nicht zu viel reinschreibt, dass zu viele Menschen dann zu viel bekommen? Oder worum geht es?
Daniel Bahr: Nein. Es geht darum, die offenen Fragen zu klären. Die Gutachter müssen geschult werden. Es müssen neue Begutachtungen stattfinden. Es ist zu klären, was ist mit denen, die heute schon in einer Pflegestufe sind. Müssen die alle neu begutachtet werden? Haben die einen Bestandsschutz dabei? Stellen sie sich schlechter oder besser? Das sind alles sehr, sehr viele offene Fragen. Da geht’s auch um Geldfragen, gar keine Frage. Es gab Szenarien des Beirats selbst. Die gingen von kostenneutral bis zu mehreren Milliarden, die das jedes Jahr kostet. Das wird auch noch zu betrachten sein. Wir wollen ja eine Verbesserung durch den Pflegebedürftigkeitsbegriff erreichen, die nicht dazu führt, dass viele Menschen sich im alten System besser gestellt hätten als in dem neuen. Sondern wir wollen auf dem alten System aufbauen.
Deswegen haben wir ja in der Vorgriffleistung, die im aktuellen Gesetz drin steht, auch dafür gesorgt, dass es zwischen den starren drei Pflegestufen – 1, 2 und 3 – dazwischen ja auch eine besondere Berücksichtigung bei Demenzerkrankung gibt. Das heißt, das, was wir jetzt umsetzen, ist schon ein Vorgriff auf den neuen Bedürftigkeitsbegriff. Insofern die Kritik, da würde nichts erreicht, stimmt nicht. Wir leisten schon einen wesentlichen Beitrag, um zu diesem neuen Begriff zu kommen.
Deutschlandradio Kultur: Was für unsere Hörerinnen und Hörer bestimmt sehr interessant ist, die Angehörige habe, die gepflegt werden müssen wegen einer Demenz: Ist denn Ihre Idealvorstellung die oder ist sozusagen auch die Voraussetzung, mit der Sie an die Sache rangehen, dass am Ende des Tages es so aussieht, dass Demente nicht mehr schlechter gestellt sind in der Pflegeversicherung als andere mit körperlichen Gebrechen? Sollen die völlig gleichgestellt werden?
Daniel Bahr: Ja, das ist so. Demenz ist bisher gar nicht berücksichtigt und es muss endlich berücksichtigt werden. 94 hat man sich nur an den Verrichtungen orientiert. Ich will das gar nicht kritisieren, dass das ein Fehler war. Wie das immer so ist, es gibt begrenzte Ressourcen, begrenzte Finanzmittel, es gibt Kompromisse. Das war immerhin ein großer Fortschritt.
Und jetzt, übrigens eine christlich-liberale Koalition entscheidet, dass jetzt Demenz berücksichtigt wird. Und das Ziel ist, dass sich die Pflegebedürftigkeit nicht mehr nur an den Verrichtungen, sondern an dem wirklichen Betreuungsaufwand der Person richtet.
Deutschlandradio Kultur: Wann ist die Definition fertig des Pflegebedürftigkeitsbegriffs?
Daniel Bahr: Die Definition ist schon fertig, aber die ganze Umsetzung, die wird – wenn ich meine Vorvorgängerin zitiere – sicherlich noch drei, vier Jahre in Anspruch nehmen, bis es wirksam ist, bis also der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Realität angekommen ist. Aber wir tun ja was. wir haben erstmals Leistungen für Demente, die ein Vorgriff sind auf diesen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, werden jetzt schnell diese ganzen Umsetzungsfragen angehen.
Ich bin da ganz optimistisch, auch wenn ich die Kritik immer wieder höre. Aber die muss man, glaube ich, aushalten. Es wird kein Gesetz geben, mit dem alle Sozialpartner in Deutschland in der Pflege zufrieden sind und sagen, das reicht oder das ist zu viel. Das wird’s nie geben.
Deutschlandradio Kultur: Da Sie selber schon das Stichwort brachten, in drei vier Jahren, noch mal zurück aufs Geld, Stichwort umlagefinanzierte Pflegeversicherung. Mit Stand jetzt, wie lange würde das Geld denn im Topf noch reichen?
Daniel Bahr: Egal, ob wir dieses anstehende Gesetz umsetzen oder gar nichts tun, im Jahre 2015 wird erneut eine Entscheidung zu treffen sein über den Beitragssatz. Das heißt, wir haben eine gute Finanzlage in der sozialen Pflegeversicherung, die uns jetzt Spielraum gibt bis ins Jahr 2015 hinein. Aber dann wird erneut eine Entscheidung zu treffen sein. Es ist auch noch mal besser geworden, als wir ursprünglich erwartet haben. Die gute Konjunktur hat auch die Kassen bei der Pflege gefüllt. Das ist erfreulich, weil wir dadurch auch ein bisschen Spielraum haben. Aber wir kommen nicht drum herum bei der demographischen Entwicklung, die kein Politiker weg reformieren kann, dass es immer wieder in einigen Jahren Entscheidungen geben muss, um das anzupassen.
Deutschlandradio Kultur: Teilen Sie denn die Einschätzung, dass eine dem tatsächlichen Bedarf gerecht werdende Pflegereform einen Beitragssatz von fast drei Prozent nötig machen würden, also das Anderthalbfache des heutigen Satzes?
Daniel Bahr: Nein, weil die Pflegeversicherung eine Teilkostenabsicherung ist und es auch bleiben soll, was alle Parteien im Deutschen Bundestag eint, auch wenn gelegentlich SPD, Grüne und Linke den Eindruck erwecken, alles, was wünschbar ist, soll auch finanziert werden. Nein, wenn ich mir die Programme anschaue und auch die Regierungsrealität anschaue, sind sich alle Parteien einig, dass auch ein Eigenanteil zu leisten ist, dass die soziale Pflegeversicherung eben eine Teilkostenabsicherung ist.
Insofern will ich nicht irgendwelche fiktiven Berechnungen anstellen, wie teuer es wäre, wenn alles gezahlt würde. Weil der politische Konsens ist, Pflege soll Teilkostenabsicherung sein, kann ich diese Zahl nicht bestimmen.
Deutschlandradio Kultur: Wir wollen sprechen über Varianten zur Finanzierung. Sie wollen, dass die Menschen, wie schon angekündigt, wie Sie gesagt haben, eben privat für ihre Pflege vorsorgen. A la Riesterrente schlagen Sie nun vor den so genannten Pflege-Bahr, eine private Vorsorge für die Arbeitnehmer. Die Arbeitgeber müssen nichts zahlen, werden also entlastet. Das Ganze soll freiwillig sein. Warum sollten denn Menschen hier investieren? Aus Angst vor dem Alter?
Daniel Bahr: Zunächst mal kommt der Begriff nicht von mir. Ich weiß, dass man mit meinem Nachnamen einige kreative Wortspiele anstellen kann.
Deutschlandradio Kultur: Unsagbar viel.
Daniel Bahr: Wir nennen es eine private Pflegevorsorgeförderung, die wir gerade angehen wollen. Es ist so, dass viele Menschen einen hohen Eigenanteil zu leisten haben in der Pflege und – ich hab das selbst in meiner Familie erlebt – es zu Überraschung führt, denn die soziale Pflegeversicherung ist ja da, aber dann noch die Rente, die Pension oder Ersparnisse auch dafür herangezogen werden müssen.
Und jetzt wollen wir den Menschen die Gelegenheit geben, dass sie auch dafür vorsorgen können, dass sie privat Geld beiseite legen können, finanziell gefördert durch den Staat, durch den Steuerzahler, so dass später dieser Eigenanteil reduziert wird und auch beherrschbar wird. Ich glaube, dass eine alternde Bevölkerung, wie wir's bei der Rente auch erleben, dazu führen wird, dass mehr Bedarf ist und wenige Junge nachkommen. Insofern ist eine zusätzliche kapitalgedeckte Säule sinnvoll, um die Finanzierbarkeit auch der menschenwürdigen Pflege im Alter auf mehrere Säulen zu stellen.
Die gleiche Diskussion hatten wir ja auch bei der Rente, bei der Riester-Rente. So ist die Riester-Rente entstanden, weil man wusste, man kann sich nicht alleine auf die gesetzliche Rente als Umlagesystem verlassen angesichts der demographischen Entwicklung. Wir brauchen zusätzliche Eigenversorgung, Kapitaldeckung.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, Sie haben eben jetzt sehr elegant den aktuellen Dissens mit dem Bundesfinanzminister übergangen. Der Bundesfinanzminister will das Ganze steuerlich fördern. Das wäre ja dann für die Leute, die wenig oder keine Steuern zahlen, nicht interessant. Sie dagegen argumentieren, so hab ich es verstanden, dass man das ja analog zu Riester fördern müsste. Sind Sie zuversichtlich, dass Sie an dieser Stelle den Finanzminister werden überzeugen können?
Daniel Bahr: Ich bin zuversichtlich, dass der Finanzminister und ich ein gutes Ergebnis der Koalition vorlegen wollen. Es gibt da auch keinen großen Dissens. Natürlich gibt es unterschiedliche Ansätze, wie man die Pflegevorsorge fördern kann. Es gibt den Vorschlag auf dem Tisch, dass man das durch einen Abzug von den Steuern machen kann. Es gibt den Vorschlag, dass man das über eine Zulage machen kann. Es gibt ja auch bei Renten private Altersvorsorgeförderung unterschiedliche Förderformen. Darüber Diskutieren wir. Welches ist der richtige Weg?
Mein Ziel ist es, dass möglichst viele Menschen die Gelegenheit haben, privat für die Pflege vorzusorgen, dass wir möglichst viele Menschen erreichen, dass es unbürokratisch ist und einfach umzusetzen. Über den richtigen Weg diskutieren wir gerade, aber das läuft sehr, sehr sachlich. Ich verstehe mich mit Wolfgang Schäuble in dieser Frage ganz gut. Wir beraten sehr gut miteinander, haben eine gute Atmosphäre und werden auch bald ein gutes Ergebnis vorlegen.
Deutschlandradio Kultur: Ist der Weg von Wolfgang Schäuble günstiger?
Daniel Bahr: Es kommt nicht darauf an, wie viel das für den Haushalt bedeutet, sondern es kommt darauf an, dass wir eine Förderung auf den Weg bringen, die auch wirklich sich für die Menschen lohnt und die einfach umsetzbar ist und die möglichst viele Menschen erreicht.
Deswegen ist mir die Förderung wichtiger als wie hoch der Haushaltsansatz ist. Das hängt ja auch davon ab, wie viele Menschen das überhaupt erst im ersten Jahr machen. Bei der Riester-Rente, die heute sehr, sehr viele Menschen abgeschlossen haben, über 15 Millionen Riester-Rentenverträge, über 16 Millionen betriebliche Altersvorsorgeverträge, das zeigt ja, dass sehr, sehr viele Menschen mittlerweile privat fürs Alter vorsorgen. Am Anfang waren das ganz wenige.
Deutschlandradio Kultur: Über den Erfolg von Riester kann man aber auch streiten. Da gibt’s ja auch verschiedene Ansichten jetzt. Wie wollen Sie denn sicherstellen, dass Ihre private Vorsorge einen wirklich durchschlagenden Erfolg hat?
Daniel Bahr: Indem sie unbürokratisch ist, indem es mit kleinen Beträgen sich schon lohnt vorzusorgen. Ich teile auch nicht die Einschätzung, dass man über den Erfolg von Riester streiten kann, im Gegenteil. Ich halte Riester-Rente, und das ist ja ein Ergebnis der rot-grünen Koalition gewesen, insofern ist es ja überraschend, wenn ein FDPler das jetzt verteidigt und lobt, aber Riester-Rente war ein großer Erfolg, weil wir erstmals eine starke kapitalgedeckte Säule haben, wie es die Schweiz, wie es die Niederländer schon seit vielen Jahren haben und deswegen viel, viel besser vorbereitet sind auf die demographische Entwicklung.
Und deswegen ist die Riester-Rente ein großer Erfolg. Am Anfang waren das wenige, die es gemacht haben, dann immer mehr. Darauf wollen wir aufbauen. Wenn viele Menschen, die heute schon einen Riester-Vertrag haben oder eine betriebliche Altersvorsorge, zusätzlich den Anreiz haben, auch noch etwas für die Pflege vorzusorgen, ich glaube, dann können wir viele Menschen erreichen. Ich glaube, dann können viele Menschen auch davon profitieren.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, das Leben ist kein Wunschkonzert. Gleichwohl unsere letzte Frage für heute: Wenn Ihnen jetzt eine gute Fee erschiene und Ihnen im Bereich Pflegepolitik einen Wunsch freigeben würde, der sich Dank der Fee ohne jede Rücksicht auf Lobbyisten, auf Parteiinteressen, auf Koalitionsinteressen erfüllen ließe, was würden Sie sich in der Pflege wünschen?
Daniel Bahr: Ich würde mir von der Fee wünschen, dass sie mir hilft, die Arbeitsbedingungen für die, die in der Pflege täglich arbeiten und das leisten für die Pflegebedürftigen und die Angehörigen, deutlich zu verbessern. Das heißt, diejenigen, die als Angehörige oder als professionelle Pflegekräfte das täglich machen, müssen mehr motiviert sein. Insbesondere beim Bürokratieabbau würde ich gerne vorankommen. Da gibt’s enorme Widerstände, gerade auch übrigens in der Medienberichterstattung. Weil, jede Regelung, die es gibt zu Qualitätssicherung oder anderem mehr, hat ja ihren Zweck. Und wenn man sie abbaut, diese Dokumentationspflicht, dann heißt es sofort, hier würde Qualität abgebaut.
Nein, wir brauchen eine Kultur des Vertrauens. Und wenn mir eine gute Fee dabei hilft, für Kultur des Vertrauens und für Motivation in der Pflege zu sorgen, dann hätte ich richtig viel erreicht.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank. Für Ihr Interesse bedanken sich Martin Steinhage und Andre Zantow.
Daniel Bahr: Guten Tag, Herr Steinhage, guten Tag, Herr Zantow.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, einer aktuellen repräsentativen Umfrage zufolge, hat jeder zweite Deutsche davor Angst, im Alter dement zu werden, also zum Beispiel an Alzheimer zu erkranken. Haben Sie als vergleichsweise junger Mensch von Mitte 30 diese Angst manchmal auch?
Daniel Bahr: Nein und ich glaube auch, Angst ist der völlig falsche Ratgeber. Insofern freue ich mich, wenn bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auch mit ihrer Demenzerkrankung in die Öffentlichkeit gehen. Wir hatten ja Fälle, wo bekannte Persönlichkeiten Selbstmord begangen haben wegen der Angst vor Demenz. Wie wir dann häufig nachher feststellen, ist es wohl gar nicht Demenz, sondern sind es wohl eher Depressionen.
Ich glaube, keiner sollte in Angststarre verharren oder sollte sich zu viel Angst vor Demenz machen.
Das ist sicherlich ein Schicksalsschlag, den ich auch persönlich in meiner Familie erlebt habe und der einen vor große Herausforderungen stellt, auf die man sich kaum vorbereiten kann. Aber man muss damit umgehen. Demenz wird immer mehr Menschen in den Familien erreichen. Und wer nur die Augen davor verschließt und Angst hat, der verkennt, dass das weiterhin unsere Angehörigen sind, die wir begleiten müssen und denen wir helfen müssen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade schon Prominente angesprochen. Zum Beispiel Rudi Assauer ist ein anderes Beispiel, ein ehemaliger Fußballer und Fußballmanager von Schalke 04. Er ist sogar ins Fernsehen gegangen mit seiner Alzheimererkrankung. Sie sagten danach, es mache vielen Menschen Mut, dass Assauer seine Erkrankung öffentlich gemacht habe. Was finden Sie daran ermutigend?
Daniel Bahr: Weil es uns zeigen kann, dass man mit dementen Menschen weiterhin zusammenleben kann und dass sie sich sicherlich verändern. Gerade Rudi Assauer war ja ein Typ, der unglaubliche Männlichkeit und unglaubliche Stärke ausstrahlte, ein gewisser Machotyp vielleicht. Und plötzlich erlebt man, dass auch so jemand verwirrt ist und nicht mehr alleine vieles machen kann.
Insofern macht es Mut, gerade Angehörigen, die demente Mütter oder Väter oder demente Großmütter oder Großväter zu betreuen haben, dass man damit umgehen kann und dass man sich nicht schämen muss, dass man weiter am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, dass man nicht ausgegrenzt wird, dass das auch etwas ist, was man nicht verneinen muss oder wegschieben muss, sondern das in die Mitte der Gesellschaft gehört. Demenz wird ein immer größeres Thema für uns alle in der Gesellschaft und kann immer mehr Familien betreffen.
Deswegen finde ich gut, dass wir die Öffentlichkeit erreichen, es zum Thema wird, es nicht verdrängt wird.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagten eben zu Recht, das Thema wird immer größer, immer bedeutender. Aber bis dato sind doch die Fakten eher entmutigend. Eine Therapie gegen Alzheimer ist nicht in Sicht. Heutzutage leiden hierzulande rund 1,2 Millionen Menschen an Demenz, zwei Drittel davon etwa an Alzheimer. Die Zahl wird sich vermutlich in den nächsten knapp 30 Jahren verdoppelt. Wie wollen Sie diese tickende Zeitbombe entschärfen?
Daniel Bahr: Ich will es mal nicht so martialisch ausdrücken, weil eine tickende Zeitbombe ist Demenz nicht. Demenz ist eine enorme Herausforderung. Sie haben es beschrieben, dass wir seit Jahren erleben, dass man in der Forschung keinen Durchbruch schafft. Es gibt aber auch viele andere Krankheiten, wo wir keine Heilungschancen haben oder noch keine Therapien haben, um wieder komplett zu gesunden.
Wir haben aber Fortschritte gemacht, was die Versorgung angeht. Und wir haben auch einige erfreuliche erste Erkenntnisse, dass man vielleicht herauszögern kann die Entwicklung. Das sind zarte Pflänzchen. Die wollen wir weiter unterstützen. Die Bundesregierung hat ein Leuchtturmprojekt Demenz gestartet, in dem wir Versorgungsforschung, insbesondere aber auch Forschung der Therapie weiter mit vielen Millionen unterstützen wollen.
Es geht aber darum, dass überhaupt erstmal das Thema Demenz erkannt wird, dass es in der Gesellschaft eine Rolle spielt. Es betrifft immer mehr Menschen und wir müssen damit umgehen. Wir müssen insbesondere Angehörige unterstützen mit dementen Menschen, entsprechende Betreuungsleistungen auch zu bekommen. Demenz wurde bisher nicht berücksichtigt bei Pflegebedürftigkeit. Das ändern wir jetzt erstmals.
Deutschlandradio Kultur: Zur Unterstützung von Demenzkranken haben Sie jetzt ja auch einen Reformentwurf vorgelegt. Danach werden ungefähr eine halbe Million Demenzkranker erstmals mehr Leistungen aus der Pflegekasse erhalten.
Ein kurzes Beispiel: Pflegestufe 1, dort würde ein Betroffener dann nach Ihrem Entwurf, der den Angehörigen zu Hause pflegt, 70 Euro mehr im Monat erhalten. Ist das genug?
Daniel Bahr: Die Pflegeversicherung ist und bleibt eine Teilkostenabsicherung. Das will auch keine Partei in Deutschland infrage stellen. Sie haben jetzt ein – Pardon – zugespitztes Beispiel gewählt. Wenn ich mir die vielen Pflegebedürftigen anschaue, die bisher keine Leistung aus der Pflegeversicherung bekommen, in der so genannten Pflegestufe Null sind, für die sind natürlich die Summen schon eine erhebliche Unterstützung. Das heißt, für jemand, der bisher keine Leistung aus der Pflegeversicherung bekommt, aber dement ist, der kann sich künftig jede Woche einen Tag eine Betreuung leisten. Das ist deutlich eine Verbesserung gegenüber dem heutigen Zustand.
Deutschlandradio Kultur: Warum dann nicht zwei Tage zum Beispiel?
Daniel Bahr: Na, das muss ja alles im Rahmen sein der Finanzierbarkeit. Und wir haben ja lange genug in der Koalition Gespräche geführt. Wir wissen das seit Jahren, (seit) es die Pflegeversicherung gibt, seit Mitte der 90er Jahre. Es ist nichts geschehen für Demenz. Erstmals haben wir jetzt eine Beitragssatzerhöhung beschlossen, in der vollständig das Geld dann für die Leistungsverbesserung zur Verfügung steht. Da legen wir auch einen klaren Schwerpunkt auf die ambulante Pflege. Wir sagen, dass diese Mittel aus der Beitragssatzerhöhung von 0,1 Prozent, das sind einfach 1,1 Milliarden, auch voll für die Verbesserung der ambulanten Pflege zur Verfügung stehen und dann insbesondere für die, die bisher kaum oder keine Leistung bekommen. Aber für die ist das ein Unterschied.
Das muss finanzierbar sein. Pflege, auch gerade dementer Menschen, ist insbesondere immer eine Arbeit, die in der Familie geleistet wird und die auch die Pflegebedürftigen weiter in der Familie sehen wollen. Familie ist ja nicht nur für gute Zeiten da, sondern auch für schwierige, wo man einander unterstützen muss. Und da wollen wir genau ansetzen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Minister, Sie haben es selber gesagt, der Beitragssatz zur Pflegeversicherung wird um 0,1 Prozent angehoben zum Jahr 2013. Das Geld soll im Wesentlichen den Demenzkranken zugute kommen. Gleichwohl die Frage, wenn wir schon beim Geld sind: Warum eigentlich erst im nächsten Jahr? Die bräuchten doch die Leistung jetzt und sofort.
Daniel Bahr: Die Beitragssatzerhöhung wird erst wirksam zum 1. Januar 2013. Und das war gemeinsamer Konsens in der Koalition, dass die Leistungsverbesserungen auch dann in Kraft treten, wenn die Beitragssatzerhöhung in Kraft tritt. So ist sie ja finanziert.
Ich will auch noch mal sagen: Es ist für Betroffene schon eine deutliche Unterstützung, wenn in Pflegestufe Null als Pflegesachleistung, wo bisher keiner was bekommt...
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht kurzer Einschub für all die, die sich nicht so auskennen. Pflegestufe Null ist für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz.
Daniel Bahr: Genau die kriegen bisher keine Leistung aus der Pflegeversicherung, aber sind dement und sind natürlich dann auch betreuungsintensiv. Sie brauchen Unterstützung. Die kriegen jetzt pro Monat 225 Euro zur Verfügung. Das ist natürlich schon etwas. Mit dem kann man Vorlesezeit, Spaziergang, Spiele oder anderes mehr – es geht ja manchmal einfach für die Tochter, die Schwiegertochter, den Schwiegersohn, den Sohn, dass die auch mal einen Tag was ganz anderes erledigen wollen, mal Abstand nehmen wollen. Dann freuen sie sich natürlich, wenn sie eine solche Unterstützung in Anspruch nehmen können.
Das wird ab ersten Januar und damit jetzt auch schnell wirksam, bevor wir den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff angehen. Das ist eine große Herausforderung. Die braucht einige Zeit. Das heißt, schnell wirksam kommen Verbesserungen für die Menschen.
Deutschlandradio Kultur: Hätten Sie den Bedürftigen denn gern mehr Geld gegeben? Oder sind Sie damit jetzt zufrieden?
Daniel Bahr: Ich finde, das ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Und wir wissen, dass wir in den nächsten Jahren noch weiterarbeiten müssen, um die menschenwürdige Pflege im Alter auch weiterhin finanzierbar, bezahlbar, aber eben auch leistungsfähig zu halten. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich verdoppeln. Es gibt Studien, die sogar von Verdreifachen sprechen. Wir werden also mehr Bedarf haben in einer alternden Bevölkerung und immer weniger Junge, die nachkommen.
Umso mehr werden wir auch dafür tun müssen, für die Pflege. Das gehört zur Ehrlichkeit hinzu. Es kann keine Reform geben, die in einem Jahr eine Entscheidung trifft und dann für 30 Jahre nichts mehr geändert werden muss, erst recht nicht im Umlagesystem. Die soziale Pflegeversicherung ist ein Umlagesystem. Von den laufenden Beiträgen werden die laufenden Ausgaben gedeckt. Das heißt, es muss immer wieder zu Anpassungen kommen.
Ich habe ja als Liberaler immer dafür geworben, dass wir auch zusätzlich auf Kapitaldeckung Wert legen und auch Kapitaldeckung und Eigenvorsorge hier ganz besonders stärken. Das wollen wir auch machen. Aber zur Ehrlichkeit gehört hinzu: Wer auf ein Umlagesystem setzt, der weiß, dass auch entsprechende Entscheidung immer wieder zu treffen ist. Es wird nie eine Reform geben können, die aus der Pflegeversicherung eine Vollkaskoabsicherung macht, dass alles der Staat, alles die Gesellschaft finanziert.
Und ich halte das auch nicht für sinnvoll und richtig. Das Pflegerisiko ist eines, worauf man sich vorbereiten kann. Das Pflegerisiko ist eines, was im hohen Alter trifft, auch übrigens nicht jeden trifft. Insofern ist es auch sinnvoll, dass eine Teilkostenabsicherung ist und auch ein Eigenanteil zu tragen ist. Keine Partei, wie gesagt, im Deutschen Bundestag stellt dieses Grundprinzip, Pflege ist eine Teilkostenabsicherung, infrage.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, bei Ihrem jetzt vorliegenden Reformentwurf bleibt der stationäre Bereich nicht nur bei den Demenzkranken weitgehend außen vor. Warum gibt es keine zusätzlichen Mittel für die Heimpflege, also immerhin für jeden Dritten, der insgesamt rund 2,4 Millionen Pflegefälle?
Daniel Bahr: Wir haben uns konzentriert auf diejenigen, die bisher keine oder kaum Leistungen bekommen, wenn sie dement sind. Und das sind die Fälle, die in der ambulanten Pflege sind. In der stationären Pflege ist die Belastung durch Demenz sicherlich auch da. Wir haben ja auch zusätzliche Betreuungskräfte heute schon im Gesetz stehen. Aber die dringende Handlungsnotwendigkeit haben wir insbesondere bei den Familien und Angehörigen gesehen von pflegebedürftigen dementen Menschen, die häufig sich ganz alleingelassen fühlen.
Deswegen haben wir bewusst gesagt, wir wollen nicht mit der Gießkanne allein ein bisschen was geben, dann wirkt es nicht, sondern uns konzentrieren da, wo wir als Koalitionsparteien den nötigsten Handlungsdruck sehen. Und das ist zu Hause, das ist bei dementen Menschen, die von Angehörigen gepflegt werden und bisher kaum Pflegeleistungen bekommen. Deswegen wollen wir denen lieber mehr zur Verfügung stellen. Es sind immerhin 500.000 Menschen, die in Deutschland von diesen Maßnahmen konkret profitieren. Ich finde, das ist schon eine Menge an Betroffenen, für die wir ganz konkret etwas tun.
Deutschlandradio Kultur: Sind die Kosten denn einer professionellen Pflege im Heim einfach auch so hoch, dass man sie stiefmütterlich behandeln muss, diese stationäre Pflege?
Daniel Bahr: Nein, darum geht’s mir nicht. Ich will nicht was gegeneinander ausspielen. Wir brauchen stationäre Pflege, die sicherlich sehr kostenintensiv ist. Und sie muss auch professionell sein. Die braucht auch eine Wertschätzung. Und das ist nicht besser oder schlechter, ob stationär oder ambulant.
Aber es ist der Wunsch der Menschen. 70 Prozent der Pflegebedürftigen wird heute zu Hause gepflegt. Und die Menschen wollen so lange wie möglich zu Hause bleiben, in ihrer Familie, in ihrem häuslichen Umfeld. Also entspricht es dem Wunsch der Menschen, wenn wir etwas dafür tun, dass Menschen auch so lagen wie möglich zu Hause bleiben können. Keiner geht gerne ins Heim.
Dazu kommt natürlich, dass ich als Gesundheitsminister auf die Kosten achte, das ist richtig, und einen Trend oder einen Anreiz nicht schaffen möchte, dass Heimpflege attraktiver ist für Betroffene, erst Recht, wenn sie es eigentlich auch nicht wollen, vor allem aber natürlich, weil es kostenintensiver ist. Und deswegen setzen wir Anreize, ambulant vor stationär. Wenn die Menschen so lange wie möglich zu Hause bleiben wollen, wollen wir die Rahmenbedingungen schaffen, dass es sich auch finanziell lohnt, so lange wie möglich zu Hause zu bleiben.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, bei all dem, was wir jetzt bereden, sagt ja die Kritik im Grunde genommen auch, Bahr ist auf dem richtigen Weg, aber die umfassende Reform der Pflegeversicherung, die steht immer noch aus. Ihr Amtsvorgänger Philipp Rösler, da waren Sie noch Staatssekretär, hatte das Jahr 2011 zum Jahr der Pflege ausgerufen. Den Worten folgten keine Taten. Und mit dem ganz großen Wurf soll es ja erst nach der Bundestagswahl 2013 etwas werden, wenn überhaupt? – Warum eigentlich dieser Zeitverzug?
Daniel Bahr: Auch in der Pflege gilt das gleiche Prinzip wie in Gesundheit, da ist nicht mit einem Schlag alles zu lösen. Es gibt keine Revolution und danach ist alles gut, sondern es ist eine Evolution, zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Das bedeutet aber nicht, dass damit alles gelöst ist. Wir arbeiten jetzt ja aktuell auch daran, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff auf den Weg zu bringen. Das geht leider nicht von heute auf morgen. Wenn es von heute auf morgen ginge, hätte es übrigens meine Vorvorgängerin Frau Schmidt schon längst gemacht. Denn die Ergebnisse des Berichts lagen ja in der letzten Legislatur vor. Und sie hat ja auch nicht es von heute auf morgen umsetzen können.
Deutschlandradio Kultur: Aber - Entschuldigung, dass ich jetzt die Frage vorweg nehme - genau das ist doch der Punkt, an dem sich doch sozusagen auch die Kritik aufhängt. Die Vorarbeiten durch ein Expertengremium zum Pflegebedürftigkeitsbegriff sind doch geleistet worden. Die sind da. Und jetzt fangen Sie sozusagen wieder von vorne an.
Daniel Bahr: Nein, dann ist das ein Missverständnis, was ich ja gut hier auch aufklären kann.
Wir wollen ja nicht von vorne anfangen, sondern wir wollen das, was das Ergebnis des Pflegebeirats der letzten Legislatur war, zum Ausgangspunkt nehmen, jetzt die Umsetzung anzugehen. Und der Expertenbeirat der letzten Legislaturperiode sagt ja selbst, dass da noch viele offene Fragen zu beantworten sind, bis der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Realität angekommen ist.
Deutschlandradio Kultur: Dann sprechen wir doch genau noch mal über diesen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Sie haben ein Expertengremium eingesetzt, das bekannt ist, den Pflegebeirat. Der Vorsitzende ist im Dezember zurückgetreten. Nun kam die Neubesetzung. Das erste Treffen soll im März stattfinden. Wie sehen Sie jetzt die Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs?
Daniel Bahr: Der bisherige Pflegebedürftigkeitsbegriff richtet sich allein nach den Verrichtungen. Kann jemand sich Zähneputzen, Haarekämmen alleine, wie sehr ist er noch selbständig. Er richtet sich aber nicht danach, wie sehr ein Betreuungsaufwand aufgrund einer Demenzerkrankung entsteht. Theoretisch kann er alles noch alleine, aber durch die Demenzerkrankung ist eben alles nicht mehr so möglich, wie wir das uns wünschen und auch vorstellen.
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff soll sich genau danach ausrichten, wie ist der Betreuungsaufwand nicht nur nach den Verrichtungen, sondern eben auch aufgrund der Altersverwirrung, der Demenzerkrankung. Der ist erarbeitet worden in der letzten Legislaturperiode. Da sind wir schon sehr weit. Wir haben den Begriff. Aber wie das abzugrenzen ist an andere Sozialleistungen, zum Beispiel Leistungen für Menschen mit Behinderung, wie genau die Begutachtungen stattfinden, wie wir einen Bestandsschutz schaffen für diejenigen, die heute schon in den Pflegestufen sind, all das sind noch sehr offene Fragen, die zu klären sind.
Meine Vorvorgängerin Frau Schmidt, Ulla Schmidt hat übrigens erklärt, dass es dafür drei bis vier Jahre braucht, bis das wirksam ist. Deswegen gehen wir das ja jetzt auch an, damit wir nicht weitere Zeit verlieren.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, man muss jetzt gucken, dass man eben nicht zu viel reinschreibt, dass zu viele Menschen dann zu viel bekommen? Oder worum geht es?
Daniel Bahr: Nein. Es geht darum, die offenen Fragen zu klären. Die Gutachter müssen geschult werden. Es müssen neue Begutachtungen stattfinden. Es ist zu klären, was ist mit denen, die heute schon in einer Pflegestufe sind. Müssen die alle neu begutachtet werden? Haben die einen Bestandsschutz dabei? Stellen sie sich schlechter oder besser? Das sind alles sehr, sehr viele offene Fragen. Da geht’s auch um Geldfragen, gar keine Frage. Es gab Szenarien des Beirats selbst. Die gingen von kostenneutral bis zu mehreren Milliarden, die das jedes Jahr kostet. Das wird auch noch zu betrachten sein. Wir wollen ja eine Verbesserung durch den Pflegebedürftigkeitsbegriff erreichen, die nicht dazu führt, dass viele Menschen sich im alten System besser gestellt hätten als in dem neuen. Sondern wir wollen auf dem alten System aufbauen.
Deswegen haben wir ja in der Vorgriffleistung, die im aktuellen Gesetz drin steht, auch dafür gesorgt, dass es zwischen den starren drei Pflegestufen – 1, 2 und 3 – dazwischen ja auch eine besondere Berücksichtigung bei Demenzerkrankung gibt. Das heißt, das, was wir jetzt umsetzen, ist schon ein Vorgriff auf den neuen Bedürftigkeitsbegriff. Insofern die Kritik, da würde nichts erreicht, stimmt nicht. Wir leisten schon einen wesentlichen Beitrag, um zu diesem neuen Begriff zu kommen.
Deutschlandradio Kultur: Was für unsere Hörerinnen und Hörer bestimmt sehr interessant ist, die Angehörige habe, die gepflegt werden müssen wegen einer Demenz: Ist denn Ihre Idealvorstellung die oder ist sozusagen auch die Voraussetzung, mit der Sie an die Sache rangehen, dass am Ende des Tages es so aussieht, dass Demente nicht mehr schlechter gestellt sind in der Pflegeversicherung als andere mit körperlichen Gebrechen? Sollen die völlig gleichgestellt werden?
Daniel Bahr: Ja, das ist so. Demenz ist bisher gar nicht berücksichtigt und es muss endlich berücksichtigt werden. 94 hat man sich nur an den Verrichtungen orientiert. Ich will das gar nicht kritisieren, dass das ein Fehler war. Wie das immer so ist, es gibt begrenzte Ressourcen, begrenzte Finanzmittel, es gibt Kompromisse. Das war immerhin ein großer Fortschritt.
Und jetzt, übrigens eine christlich-liberale Koalition entscheidet, dass jetzt Demenz berücksichtigt wird. Und das Ziel ist, dass sich die Pflegebedürftigkeit nicht mehr nur an den Verrichtungen, sondern an dem wirklichen Betreuungsaufwand der Person richtet.
Deutschlandradio Kultur: Wann ist die Definition fertig des Pflegebedürftigkeitsbegriffs?
Daniel Bahr: Die Definition ist schon fertig, aber die ganze Umsetzung, die wird – wenn ich meine Vorvorgängerin zitiere – sicherlich noch drei, vier Jahre in Anspruch nehmen, bis es wirksam ist, bis also der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Realität angekommen ist. Aber wir tun ja was. wir haben erstmals Leistungen für Demente, die ein Vorgriff sind auf diesen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, werden jetzt schnell diese ganzen Umsetzungsfragen angehen.
Ich bin da ganz optimistisch, auch wenn ich die Kritik immer wieder höre. Aber die muss man, glaube ich, aushalten. Es wird kein Gesetz geben, mit dem alle Sozialpartner in Deutschland in der Pflege zufrieden sind und sagen, das reicht oder das ist zu viel. Das wird’s nie geben.
Deutschlandradio Kultur: Da Sie selber schon das Stichwort brachten, in drei vier Jahren, noch mal zurück aufs Geld, Stichwort umlagefinanzierte Pflegeversicherung. Mit Stand jetzt, wie lange würde das Geld denn im Topf noch reichen?
Daniel Bahr: Egal, ob wir dieses anstehende Gesetz umsetzen oder gar nichts tun, im Jahre 2015 wird erneut eine Entscheidung zu treffen sein über den Beitragssatz. Das heißt, wir haben eine gute Finanzlage in der sozialen Pflegeversicherung, die uns jetzt Spielraum gibt bis ins Jahr 2015 hinein. Aber dann wird erneut eine Entscheidung zu treffen sein. Es ist auch noch mal besser geworden, als wir ursprünglich erwartet haben. Die gute Konjunktur hat auch die Kassen bei der Pflege gefüllt. Das ist erfreulich, weil wir dadurch auch ein bisschen Spielraum haben. Aber wir kommen nicht drum herum bei der demographischen Entwicklung, die kein Politiker weg reformieren kann, dass es immer wieder in einigen Jahren Entscheidungen geben muss, um das anzupassen.
Deutschlandradio Kultur: Teilen Sie denn die Einschätzung, dass eine dem tatsächlichen Bedarf gerecht werdende Pflegereform einen Beitragssatz von fast drei Prozent nötig machen würden, also das Anderthalbfache des heutigen Satzes?
Daniel Bahr: Nein, weil die Pflegeversicherung eine Teilkostenabsicherung ist und es auch bleiben soll, was alle Parteien im Deutschen Bundestag eint, auch wenn gelegentlich SPD, Grüne und Linke den Eindruck erwecken, alles, was wünschbar ist, soll auch finanziert werden. Nein, wenn ich mir die Programme anschaue und auch die Regierungsrealität anschaue, sind sich alle Parteien einig, dass auch ein Eigenanteil zu leisten ist, dass die soziale Pflegeversicherung eben eine Teilkostenabsicherung ist.
Insofern will ich nicht irgendwelche fiktiven Berechnungen anstellen, wie teuer es wäre, wenn alles gezahlt würde. Weil der politische Konsens ist, Pflege soll Teilkostenabsicherung sein, kann ich diese Zahl nicht bestimmen.
Deutschlandradio Kultur: Wir wollen sprechen über Varianten zur Finanzierung. Sie wollen, dass die Menschen, wie schon angekündigt, wie Sie gesagt haben, eben privat für ihre Pflege vorsorgen. A la Riesterrente schlagen Sie nun vor den so genannten Pflege-Bahr, eine private Vorsorge für die Arbeitnehmer. Die Arbeitgeber müssen nichts zahlen, werden also entlastet. Das Ganze soll freiwillig sein. Warum sollten denn Menschen hier investieren? Aus Angst vor dem Alter?
Daniel Bahr: Zunächst mal kommt der Begriff nicht von mir. Ich weiß, dass man mit meinem Nachnamen einige kreative Wortspiele anstellen kann.
Deutschlandradio Kultur: Unsagbar viel.
Daniel Bahr: Wir nennen es eine private Pflegevorsorgeförderung, die wir gerade angehen wollen. Es ist so, dass viele Menschen einen hohen Eigenanteil zu leisten haben in der Pflege und – ich hab das selbst in meiner Familie erlebt – es zu Überraschung führt, denn die soziale Pflegeversicherung ist ja da, aber dann noch die Rente, die Pension oder Ersparnisse auch dafür herangezogen werden müssen.
Und jetzt wollen wir den Menschen die Gelegenheit geben, dass sie auch dafür vorsorgen können, dass sie privat Geld beiseite legen können, finanziell gefördert durch den Staat, durch den Steuerzahler, so dass später dieser Eigenanteil reduziert wird und auch beherrschbar wird. Ich glaube, dass eine alternde Bevölkerung, wie wir's bei der Rente auch erleben, dazu führen wird, dass mehr Bedarf ist und wenige Junge nachkommen. Insofern ist eine zusätzliche kapitalgedeckte Säule sinnvoll, um die Finanzierbarkeit auch der menschenwürdigen Pflege im Alter auf mehrere Säulen zu stellen.
Die gleiche Diskussion hatten wir ja auch bei der Rente, bei der Riester-Rente. So ist die Riester-Rente entstanden, weil man wusste, man kann sich nicht alleine auf die gesetzliche Rente als Umlagesystem verlassen angesichts der demographischen Entwicklung. Wir brauchen zusätzliche Eigenversorgung, Kapitaldeckung.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, Sie haben eben jetzt sehr elegant den aktuellen Dissens mit dem Bundesfinanzminister übergangen. Der Bundesfinanzminister will das Ganze steuerlich fördern. Das wäre ja dann für die Leute, die wenig oder keine Steuern zahlen, nicht interessant. Sie dagegen argumentieren, so hab ich es verstanden, dass man das ja analog zu Riester fördern müsste. Sind Sie zuversichtlich, dass Sie an dieser Stelle den Finanzminister werden überzeugen können?
Daniel Bahr: Ich bin zuversichtlich, dass der Finanzminister und ich ein gutes Ergebnis der Koalition vorlegen wollen. Es gibt da auch keinen großen Dissens. Natürlich gibt es unterschiedliche Ansätze, wie man die Pflegevorsorge fördern kann. Es gibt den Vorschlag auf dem Tisch, dass man das durch einen Abzug von den Steuern machen kann. Es gibt den Vorschlag, dass man das über eine Zulage machen kann. Es gibt ja auch bei Renten private Altersvorsorgeförderung unterschiedliche Förderformen. Darüber Diskutieren wir. Welches ist der richtige Weg?
Mein Ziel ist es, dass möglichst viele Menschen die Gelegenheit haben, privat für die Pflege vorzusorgen, dass wir möglichst viele Menschen erreichen, dass es unbürokratisch ist und einfach umzusetzen. Über den richtigen Weg diskutieren wir gerade, aber das läuft sehr, sehr sachlich. Ich verstehe mich mit Wolfgang Schäuble in dieser Frage ganz gut. Wir beraten sehr gut miteinander, haben eine gute Atmosphäre und werden auch bald ein gutes Ergebnis vorlegen.
Deutschlandradio Kultur: Ist der Weg von Wolfgang Schäuble günstiger?
Daniel Bahr: Es kommt nicht darauf an, wie viel das für den Haushalt bedeutet, sondern es kommt darauf an, dass wir eine Förderung auf den Weg bringen, die auch wirklich sich für die Menschen lohnt und die einfach umsetzbar ist und die möglichst viele Menschen erreicht.
Deswegen ist mir die Förderung wichtiger als wie hoch der Haushaltsansatz ist. Das hängt ja auch davon ab, wie viele Menschen das überhaupt erst im ersten Jahr machen. Bei der Riester-Rente, die heute sehr, sehr viele Menschen abgeschlossen haben, über 15 Millionen Riester-Rentenverträge, über 16 Millionen betriebliche Altersvorsorgeverträge, das zeigt ja, dass sehr, sehr viele Menschen mittlerweile privat fürs Alter vorsorgen. Am Anfang waren das ganz wenige.
Deutschlandradio Kultur: Über den Erfolg von Riester kann man aber auch streiten. Da gibt’s ja auch verschiedene Ansichten jetzt. Wie wollen Sie denn sicherstellen, dass Ihre private Vorsorge einen wirklich durchschlagenden Erfolg hat?
Daniel Bahr: Indem sie unbürokratisch ist, indem es mit kleinen Beträgen sich schon lohnt vorzusorgen. Ich teile auch nicht die Einschätzung, dass man über den Erfolg von Riester streiten kann, im Gegenteil. Ich halte Riester-Rente, und das ist ja ein Ergebnis der rot-grünen Koalition gewesen, insofern ist es ja überraschend, wenn ein FDPler das jetzt verteidigt und lobt, aber Riester-Rente war ein großer Erfolg, weil wir erstmals eine starke kapitalgedeckte Säule haben, wie es die Schweiz, wie es die Niederländer schon seit vielen Jahren haben und deswegen viel, viel besser vorbereitet sind auf die demographische Entwicklung.
Und deswegen ist die Riester-Rente ein großer Erfolg. Am Anfang waren das wenige, die es gemacht haben, dann immer mehr. Darauf wollen wir aufbauen. Wenn viele Menschen, die heute schon einen Riester-Vertrag haben oder eine betriebliche Altersvorsorge, zusätzlich den Anreiz haben, auch noch etwas für die Pflege vorzusorgen, ich glaube, dann können wir viele Menschen erreichen. Ich glaube, dann können viele Menschen auch davon profitieren.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, das Leben ist kein Wunschkonzert. Gleichwohl unsere letzte Frage für heute: Wenn Ihnen jetzt eine gute Fee erschiene und Ihnen im Bereich Pflegepolitik einen Wunsch freigeben würde, der sich Dank der Fee ohne jede Rücksicht auf Lobbyisten, auf Parteiinteressen, auf Koalitionsinteressen erfüllen ließe, was würden Sie sich in der Pflege wünschen?
Daniel Bahr: Ich würde mir von der Fee wünschen, dass sie mir hilft, die Arbeitsbedingungen für die, die in der Pflege täglich arbeiten und das leisten für die Pflegebedürftigen und die Angehörigen, deutlich zu verbessern. Das heißt, diejenigen, die als Angehörige oder als professionelle Pflegekräfte das täglich machen, müssen mehr motiviert sein. Insbesondere beim Bürokratieabbau würde ich gerne vorankommen. Da gibt’s enorme Widerstände, gerade auch übrigens in der Medienberichterstattung. Weil, jede Regelung, die es gibt zu Qualitätssicherung oder anderem mehr, hat ja ihren Zweck. Und wenn man sie abbaut, diese Dokumentationspflicht, dann heißt es sofort, hier würde Qualität abgebaut.
Nein, wir brauchen eine Kultur des Vertrauens. Und wenn mir eine gute Fee dabei hilft, für Kultur des Vertrauens und für Motivation in der Pflege zu sorgen, dann hätte ich richtig viel erreicht.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank. Für Ihr Interesse bedanken sich Martin Steinhage und Andre Zantow.