Balance der Sinne

Von Tilman Krause |
Die "heiligen Hallen" sind als feststehender Begriff in unseren Sprachschatz eingegangen. Wir verwenden das Wort oft ironisch, meistens achtlos, immer aber ohne an den hohen Ernst zu denken, den Mozart und sein Librettist Schikaneder im Sinn hatten, als sie für die große Arie des Priesters Sarastro in der Oper "Die Zauberflöte" den Ausdruck zum geflügelten Wort machten: "In diesen heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht./Und ist ein Mensch gefallen, führt Liebe ihn zum Licht." So lautet, im Zusammenhang zitiert, die humanistische Losung, die das geistige Zentrum dieses Werkes bildet. Dem wiederum liegt die Idee zugrunde, dass nur ein würdiger Raum das Umfeld für hochherzige Gedanken und Taten sein kann.
Wie weit haben wir uns heute von dieser Überzeugung entfernt! Plattenbauten, seelenlose, noch dazu hässliche Funktionsgebäude, genormte und charakterlose Architektur bestimmen vor allem seit 1945 das Gesicht der meisten deutschen Städte. Berlin bietet besonders viel Anschauungsunterricht für diese seelenlose Nachkriegsarchitektur. Andererseits spürt man gerade darum aber vielleicht auch in keiner anderen deutschen Metropole die Sehnsucht nach dem gelungenen Raum, der heiligen Halle, der Architektur mit spiritueller Atmosphäre so stark wie hier.

Man muss die Faszination der Berliner für ausgefallene "locations", ihre Manie, an jedem Tag der offenen Tür oder des offenen Theaters in alle möglichen öffentlichen Gebäude zu rennen und dabei langes Anstehen willig in Kauf zu nehmen, für etwas anderes, Tiefergehendes als die pure Vergnügungssucht halten, die sicherlich auch hineinspielt in die allgemeine Neugier auf Gebäude.
Auch das große öffentliche Interesse, auf das alles stößt, was sich auf der Museumsinsel abspielt, weist auf eine Erwartungshaltung hin, die insgeheim auf mehr hofft als auf den angemessenen Rahmen, in dem Kunstwerke würdig präsentiert werden können. Man hat ja oft von der Kunst als einer Ersatzreligion gesprochen, die seit dem 19. Jahrhundert den schwindenden Einfluss des christlichen Glaubens kompensieren musste.

Wie aber, wenn nun ausgerechnet die Museumsbauten nicht nur Gehäuse für die Gegenstände dieser religiösen Verehrungshaltung geworden wären, sondern in ihrer baulichen Beschaffenheit auch Ausdruck des sakralen Gedankens selbst?

Auf diese Vermutung konnte jedenfalls kommen, wer vor einigen Wochen der Bespielung der noch leeren Räume des Neuen Museums durch die Tanzcompagnie von Sascha Waltz beiwohnte. Es war eine kultische Handlung, mit in Kostüm und Gebärde den diversen Kulturen, die sich im Neuen Museum dermaleinst präsentieren sollen, angepassten Bewegungen.

Hier hatte also einmal jemand den Begriff der "heil’gen Hallen" ernst genommen und was dabei herauskam, war vielleicht die schönste und sinnfälligste Beseelung eines öffentlichen Raumes, die man in Berlin erlebt hat. Auch die Tempelhaftigkeit des Neuen Museums selbst wurde dem Besucher der Sascha-Waltz-Veranstaltungen zu Bewusstsein gebracht. Und die Wirkung war so stark, weil auch die ironische Brechung hierbei zu ihrem Recht kam, weil keineswegs der Einschüchterungs-Ernst die Atmosphäre bestimmte, wie das sonst so oft bei offizieller Repräsentationsarchitektur der Fall ist.

Räume, Gebäude haben dann die Chance, zu heil’gen Hallen, also zu kreativ anregenden Orten zu werden, wenn sie ein meditatives Klima schaffen. Die Balance von einerseits spielerischen, andererseits andächtigen und zur Konzentration einladenden Elementen schafft dieses meditative Klima. Es kann durch alte Architektur ebenso hervorgerufen werden wie durch moderne. Die Architektur muss nur ein Bewusstsein davon haben, dass hier eine ihrer vornehmsten Aufgaben liegt!

Tilman Krause, 1959 in Kiel geboren, Studium der Germanistik, Geschichte und Romanistik in Tübingen. 1980/81 erster von vielen Frankreich-Aufenthalten, beginnend mit einer Stelle als Deutschlehrer am Pariser Lycée Henri IV. 1981 Fortsetzung des Studiums an der Berliner FU. Dortselbst 1991 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den Publizisten Friedrich Sieburg, den ersten ‚Literaturpapst’ der Bundesrepublik. Seitdem diverse Lehraufträge an der FU, der Humboldt-Universität, an der Universität Hildesheim und am Leipziger Literatur-Institut. Sein journalistischer Werdegang führte Tilman Krause über die "FAZ" (1990-1994) und den "Tagesspiegel" (1994-1998) zu seinem jetzigen Posten als leitendem Literatur-Redakteur bei der "Welt".