Balkon-Projekt

Künstler rufen die „Europäische Republik“ aus

Menschen jubeln vor dem Balkon des Reichstagsgebäudes
Sozialdemokrat Philipp Scheidemann rief am 9. November 1918 auf einem Balkon des Reichstagsgebäudes die Republik aus. © imag o/ United Archives International
Mit Balkon-Aktionen wollen heute Künstler europaweit symbolisch eine „Europäische Republik“ ausrufen. In der Politik haben Verkündigungen vom Balkon eine lange Tradition, mit der sich der Buchautor Lothar Binger beschäftigt hat.
In Deutschland und anderen europäischen Ländern wollen Künstler heute symbolisch eine "Europäische Republik" ausrufen. Europaweit soll auf mindestens 150 Theaterbalkonen und öffentlichen Plätzen ein Manifest verlesen werden. Darin erklären die Politologin Ulrike Guérot und der Autor Robert Menasse das "Europa der Nationalstaaten" für gescheitert und fordern stattdessen die "Souveränität der Bürger". Anlass des "European Bacony Project" sind das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren und die fast gleichzeitige Ausrufung von Republiken in verschiedenen europäischen Staaten.
Wunderbar findet die Aktion der Kunsthistoriker und Buchautor Lothar Binger, der sich in einem Buch mit Berliner Balkongeschichten beschäftigt hat. Er fände es schön, wenn überall in Europa Demokraten auf den Balkons erschienen und sich zur Demokratie bekennen, sagte Binger im Deutschlandfunk Kultur.

Balkonhauptstadt Europas

Um 1900 sei Berlin einmal die Balkonhauptstadt Europas gewesen, sagte der Autor. Aus Paris seien damals Abgesandte gekommen, um sich das anzusehen. Die Balkons seien schon erheblich begrünt gewesen. Schon um 1640 habe es Balkons gegeben und der erste Balkon in Berlin sei am Stadtschloss gewesen. Damals sei bereits der große Kurfürst auf den Balkon getreten, um sich huldigen zu lassen. "Das war so üblich", sagte Binger. "Friedrich II. hat es dann 1740 ähnlich gehalten." Der Balkon sei bis ins 19. Jahrhundert ein zentrales Fassadenschmuckelement gewesen und habe eigentlich Herrschaft signalisiert. 1848 habe sich der König vor den Toten, die vorbei getragen wurden, verneigen müssen und den Hut abgenommen.
Ein maskierter Mensch hält ein Transparent mit der Aufschrift "Heraus zum revolutionären 1. Mai" von einem Balkon. 
Auch für Proteste jeder Art bieten Balkons die ideale Bühne © dpa/Britta Pedersen
Neben den geschichtspolitischen bedeutsamen Auftritten auf Balkons von Adolf Hitler, aber später in der Nachkriegszeit von Willy Brandt oder Hans-Dietrich Genscher, erinnerte Binger auch an Protestaktionen von Bürgern auf deren Balkons. Auch Berliner Mieterproteste oder die Hausbesetzerszene hätten Transparente auf ihren Balkons gehisst.

Lothar Binger und Susanne Hellemann: Von Balkon zu Balkon. Berliner Balkongeschichten
Nishen Verlag 1988, 4,49 Euro

Mehr zum Thema