Eine Parabel für Corona-Zeiten
06:21 Minuten
Wer 70 wird, soll sterben. Diese Losung gilt in der "Ballade von Narayama", einer alten Geschichte aus Japan, die zweimal verfilmt wurde. Was es bedeutet, die "Risikogruppe" der Alten zu opfern, wird hier spürbar.
"Wir dürfen nicht zulassen, dass die Maßnahmen schlimmer sind als das Problem", sagt Donald Trump.
Nicht nur der derzeit sichtlich überforderte US-Präsident stellt sich in aller Öffentlichkeit die Frage, ob die weltweiten Corona-Maßnahmen nicht gravierendere Folgen haben werden als die Krankheit selbst.
Angesichts dieser Frage lohnt sich vielleicht ein Blick auf eine Gesellschaft, die sich in Zeiten von Not – völlig utilitaristisch – dem größtmöglichen Nutzen für alle Betroffenen verschrieben hat. Diese Gesellschaft lernen wir in der "Ballade von Narayama" kennen.
Angesichts dieser Frage lohnt sich vielleicht ein Blick auf eine Gesellschaft, die sich in Zeiten von Not – völlig utilitaristisch – dem größtmöglichen Nutzen für alle Betroffenen verschrieben hat. Diese Gesellschaft lernen wir in der "Ballade von Narayama" kennen.
Klauen oder verhungern
Vor langer Zeit, in einem abgelegenen Tal am Fuße des heiligen Berges Narayama liegt ein Dorf. Es herrscht Nahrungsmittelknappheit. Die, die etwas Essbares ergattern, hamstern es, andere klauen oder verhungern. Um das kritische Gleichgewicht der Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, gilt, dass jeder Bewohner, der 70 Jahre alt wird, vom ältesten Sohn der Familie auf den Narayama-Berg getragen wird – um zu sterben.
Bald muss auch die 69-jährige Orin auf den Berg. Ihr ältester und verwitweter Sohn Tatsuhei sieht dem Tag mit Sorge entgegen.
Bald muss auch die 69-jährige Orin auf den Berg. Ihr ältester und verwitweter Sohn Tatsuhei sieht dem Tag mit Sorge entgegen.
Die "Ballade von Narayama" ist eine Kurzgeschichte des japanischen Autors Shichiro Fukazawa aus dem Jahr 1956. Er bediente sich dafür bei einer alten japanischen Legende, deren Wurzeln bis ins achte Jahrhundert zurückverfolgt werden können; und die beschreibt, wie Gesellschaften in Zeiten des Notstands und Hungers die ältesten Mitglieder – manchmal sogar Säuglinge – sterben lassen, um das Überleben der Gruppe zu sichern. Ob es diese Praxis je gegeben hat, wird bezweifelt. Aber die Geschichten darüber wurden so populär, dass sie im Japanischen die Genrebezeichnung Ubasute bekommen haben. Ubasute bedeutet so viel wie alte Frau zurücklassen.
"Goldene Palme" für Verfilmung von 1983
Zwei Mal wurde der Stoff prominent verfilmt. Bereits 1958 von Keisuke Kinoshita als artifizielle Kabuki-Meditation, dann 1983 als vulgär-naturalistische Variante von Shohei Imamura, der dafür mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnet wurde.
Wenn wir nun aus unserer Gegenwart auf die archaischen Strukturen des Lebens im Tal von Narayama blicken, erkennen wir mit Schrecken, welchen zivilisatorischen Rückschritt es bedeutet, Risikogruppen als Last und Bürde für das Gemeinwohl zu definieren, ihnen die Würde im Sinne eines Lebensrechts abzuerkennen.
Die alte Orin ernährt ihre Familie, repariert kaputte Türen, sorgt für Feuerholz und Kleidung. Sie ist ein Symbol schier unendlicher Selbstlosigkeit. Dennoch wird sie von ihrem dämlichen Enkel ausgelacht, sie habe immer noch alle Zähne – ein Symbol für ihren angeblich maßlosen Appetit.
Beide Filmversionen steigern den düsteren Blick auf Gerechtigkeits- und Verantwortungsfragen in Zeiten der Krise, indem sie nie die Notwendigkeit dieser Lebensweise hinterfragen.
Die alte Orin kann es kaum erwarten, auf den Berg zu steigen und zu sterben. Sie will niemandem zur Last fallen. Voller Pflichtbewusstsein muss sie ihren ältesten Sohn geradezu zwingen, seinen Part zu leisten. Und so wird nicht sie, sondern Tatsuhei zu unserer Identifikationsfigur.
Tod als Lösung? Der Sohn zweifelt
Sein inneres, sachtes Zaudern, Zweifeln und Hinterfragen dieser Traditionen im Angesicht des Todes seiner geliebten Mutter, die er auf dem Rücken den Berg hochträgt, ist das Zweifeln eines Individuums, das instinktiv spürt, dass es so nicht sein muss. Dass der Mensch, der sich solchen archaischen Regeln hingibt, in einen vor-zivilisatorischen Zustand zurückfällt.
Wenn wir uns heute also laut oder leise fragen, ob wir die Wirtschaft für die Eindämmung der Corona-Pandemie opfern, dann führen uns diese Argumente auf dem einen oder anderen Weg auch durch das Tal von Narayama.
Eine eindeutige Antwort auf dieses Dilemma geben die Filme übrigens nicht. Letztlich ist das herrlich Ambivalente an beiden Versionen, dass sie keine einfache Lesart zulassen. Man kann die Ballade utilitaristisch, pflichtethisch oder evolutionsbiologisch deuten, man kann das Verhalten der Figuren ablehnen oder akzeptieren.
Wir werden mit den Folgen unseres Handelns leben müssen. Diese Folgen nüchtern und sachlich als selbstverfasstes Schicksal darzustellen, bei dem wir nicht nur Menschen, sondern auch einen großen Teil des zivilisatorischen Fortschritts opfern, ist die große Kunst der beiden Versionen von der "Ballade von Narayama".