Im Röckchen gegen die Bigotterie
Für viele Ägypter ist Tanzen nicht mit dem Islam vereinbar. Doch die einzige Ballettschule in Oberägypten setzt sich gegen den Spott der Ultrakonservativen zur Wehr. Kinder aus muslimischen und christlichen Familien leben dort ihr Hobby aus − ein Zeichen gegen alle Vorurteile.
Die kleinen Mädchen heben ihre Arme über den Kopf und tippeln über die pastellfarbenen Matten auf dem Boden. Die Haare streng nach hinten gebunden. Weiße Strumpfhosen, schwarzen Gymnastikanzüge. Sie laufen im Kreis, schwingen die Arme auf und ab wie Flügel und betrachten sich in den großen Spiegeln an der Wand.
Trainerin: "Ein Bein neben das andere! Durchstrecken!"
Die siebenjährige Reni hört den Anweisungen der Lehrerin aufmerksam zu, setzt einen Fuß neben den anderen und versucht, ihre Knie durchzustrecken. Oberkörper gerade, Kopf hoch! Eine wackelige Angelegenheit. Nur ein kleiner Ausfallschritt rettet Reni vor dem Umfallen. Nach der Probe stehen noch Dehnübungen auf dem Plan. Der Weg zur perfekten Ballerina ist schmerzhaft:
"Du musst deine Beine so weit strecken, dass du mit dem Kopf auf den Boden kommst. Ich habe das Gefühl, sie brechen gleich. Ehrlich gesagt tut das ziemlich weh. Aber das ist es mir wert."
Reni, die ihr Englisch durch Youtube-Videos gelernt hat, kommt seit ein paar Monaten ins Alwanat-Zentrum, die einzige Ballettschule in Oberägypten. Eigentlich möchte sie Popstar werden und am liebsten singt sie. Aber hier in Minya, etwa 250 Kilometer südlich von Kairo, gibt es nicht so viele Angebote. Also tanzt Reni erst einmal. Das sei eine gute Übung auf dem Weg zum Popstar, findet die Siebenjährige:
"Das Beste am Ballett ist, dass du einfach tanzt, als würde niemand zuschauen. Du spürst einfach die Musik in der Luft und du hast das Gefühl: Ja, du kannst das jetzt machen, sei nicht nervös, es ist alles gut."
Inspiriert von dem Film "Billy Elliott"
Neben Reni steht der kleine Mark. Er ist einer von nur drei Jungs in der Ballettschule und er ist Christ. Die meisten anderen Kinder haben muslimische Eltern. Mark ist ruhiger, zurückhaltender als Reni, aber durchaus selbstbewusst. Schließlich muss er sich immer gegen die Jungs in seinem Heimatort durchsetzen:
"Wenn wir in die Kirche gehen, machen sie sich immer über mich lustig, weil ich Ballett tanze. Meist gehe ich dann einfach weg. Sie sagen, Ballett ist nur was für Mädchen und dass ich ein Mädchen bin. Oder sie nennen mich Esel."
Doch Mark hat den Film "Billy Elliott" im Fernsehen gesehen. Auch über Billy haben alle gelacht – und am Ende ist er ein berühmter Tänzer geworden. Deswegen will Mark weitermachen:
"Es ist einfach wunderschön. Und manchmal, wenn Mama und Papa mit mir schimpfen, dann gehe ich in mein Zimmer und tanze. Das beruhigt mich."
Die Kinder kommen gerne ins Alwanat-Zentrums im Süden Ägyptens. Vielleicht auch, weil der Zweckbau von innen sehr freundlich gestaltet ist. Tiere und Blumen schmücken die Flure im zweiten Stock. Am Eingang steht groß das Wort "Welcome" – gebastelt aus bunten Pappbuchstaben. Verantwortlich sind Marco Adel und seine Freunde. Sie haben vor zwei Jahren das Zentrum eröffnet – zunächst als Musikschule und Fotografie-Club. Im vergangenen Jahr kam dann die Ballettschule hinzu:
"Alle haben gesagt, ich bin verrückt. Ich habe viel Spott geerntet, als wir mit der Idee kamen, eine Ballettschule zu eröffnen. Die Leute haben immer gesagt, ihr betretet jetzt dunkle Pfade und möge Gott mit euch sein. Kunst ist immer lächerlich, denn wenn du ein ordentlicher Mensch bist, dann wirst du entweder Arzt oder Ingenieur oder Lehrer. Aber nicht Künstler."
Die Leute haben sich nicht nur lustig gemacht, erzählt Marco Adel. Vielen war die Idee einer Ballettschule wirklich ein Dorn im Auge. Adel solle doch lieber ein Krankenhaus oder eine Koranschule bauen, schrieben Gegner auf Facebook. Wochenlang war die Seite des Alwanat-Zentrums einem regelrechten Shitstorm im Internet ausgesetzt:
"Viele Menschen haben sehr dunkle und negative Gedanken. Sie meinen, Kunst ist eine Schande und verboten durch die Religion. Sie sind der Meinung, wir verderben die Traditionen und Bräuche in der Gesellschaft. Und dass wir Nudismus praktizieren und sowas."
Brennende Häuser und ein schwelender Konflikt
Die Provinz Minya mit ihren mehr als vier Millionen Einwohnern ist das Herzstück Oberägyptens. Eine Region, umgeben von Wüste, wenig entwickelt und weitgehend vergessen von der Zentralregierung in Kairo. Ins Gedächtnis gerufen wird Minya meist nur durch Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen.
Younan Khalaf steht vor dem Rohbau seines Hauses in Kom Al Loufi, einem kleinen Dorf nördlich von Minya. Zwei Etagen stehen schon wieder. Unverputzt, das Dach fehlt noch. Türen und Fenster gibt es auch noch nicht. Es dauert wohl noch eine Weile, bis Khalaf mit seiner Familie wieder einziehen kann. Es ist im vergangenen Sommer abgebrannt:
"Eines Nachts standen ungefähr 2000 Menschen vor meinem Haus und haben 'Allahu Akbar' und 'Auf in den Kampf' und solche Sachen gerufen. Sie waren sehr aggressiv."
Khalaf kann nur einen kurzen Abstecher zu seinem Haus machen. Schnell zeigt er noch die Nachbarhäuser, die ebenfalls abgebrannt sind. Die gehören seinen Brüdern. Auf der Straße mit Journalisten reden ist unmöglich. Überall steht Polizei, denn die brennenden Häuser von Kom Al Loufi sind ein heikles Thema.
Wie fast überall in der Provinz schwelt in dem Dorf ein Konflikt zwischen Muslimen und Christen. Khalaf ist Kopte, sie stellen über 30 Prozent der Bevölkerung hier, deutlich mehr als im Rest Ägyptens. Gleichzeitig gilt die Provinz Minya als Hochburg der Islamisten in Ägypten. Die Bevölkerung ist gespalten. Und seit der Muslimbruder Mohammed Mursi im Jahr 2013 Präsident war, mehren sich Angriffe gegen Christen. Auch wenn sein Nachfolger Abdel Fattah Al Sisi zur Versöhnung zwischen den Religionsgruppen aufruft, hält die Gewalt gegen Christen in dieser Region an.
Im Dorf Abu Jakoub brannten im vergangenen Sommer Häuser christlicher Familien, in Tahna el Gabal wurde die Familie eines Priesters angegriffen, ein Familienmitglied erstochen, in El Karm wurde eine ältere Frau – auch sie eine Christin – nackt durch das Dorf geschleift. Es gab Gerüchte, ihr Sohn habe eine Affäre mit einer Muslima.
Die Behörden schauen oft nur zu, erzählt Younan Khalaf. Auch als sein Haus und die seiner Brüder brannten, sei die Feuerwehr nicht eingeschritten. Die Polizei sei viel zu spät gekommen, und konnte dann nicht einmal etwas gegen die Angreifer ausrichten.
"Erst haben sie das Polizei-Auto kaputtgemacht. Und die zwölf Polizisten, die da waren, wurden geschlagen. Und plötzlich waren wir allein. Die Polizisten sind einfach geflohen. Noch nie hatte ich in dem Maße das Gefühl, dass mein Leben wertlos ist und dass ich nicht als Bürger gelte. Niemand hat uns geholfen, und ich war nicht in der Lage mich, meine Familie und meine Freiheit zu schützen."
Aufsehen erregte auch ein Fall von Brandstiftung in der Stadt Minya. Dort griff ein Mob aus Muslimen das von Jesuiten betriebene Kulturzentrum mit Molotov-Cocktails an. Das Zentrum galt als das am besten ausgestattete Theater in Oberägypten. Nach dem Überfall blieb davon wenig übrig. Computer, Kameras, Requisiten – alles wurde gestohlen. Was die Angreifer nicht tragen konnten, brannten sie nieder.
"Es gibt hier Kunst, nicht nur Extremismus"
Der Gründer der Ballettschule Marco Adel kennt all diese Geschichten. Und er ist sich der Bedrohung durch radikale Muslime durchaus bewusst:
"Natürlich haben wir Angst. Es ist ein großes Risiko. Aber was soll ich denn machen? Wir wollen, dass die Leute sehen, dass Oberägypten mehr ist als sektiererische Gewalt. Es gibt hier Kunst. Es gibt hier talentierte Kinder, die tanzen und singen können. Es gibt hier nicht nur Extremismus."
Er erhalte viel Unterstützung von den Eltern seiner Schüler, sagt Adel. Sie sprechen sich immer wieder für das Zentrum aus, versuchen den Kritikern klar zu machen, dass Adel und seine Mitstreiter keine schlechten Menschen seien. 150 Schüler kommen mittlerweile regelmäßig ins Alwanat-Zentrum. Sie sind zwischen vier und 18 Jahren alt, Mädchen und Jungen, Muslime und Christen.
Shaimaa Metalawy hat gerade ihre Tochter Leila im Zentrum angemeldet. Metalawy trägt einen langen, dunklen Mantel und Kopftuch. Islam und Ballett sind für sie kein Widerspruch:
"Das eine hat mit dem anderen doch nichts zu tun. Sie machen doch hier nichts Böses. Viele meiner Freunde schicken ihre Töchter hierher."
Doch bevor Leila mit ihrer ersten Tanzstunde starten kann, muss sie erst einmal ein bisschen Theorie pauken. Das ist Lehrerin Aya Mustafa wichtig:
"Man darf nicht sofort mit dem Training anfangen, um die Kinder nicht zu überfordern. Sie müssen erst einmal Vertrauen zu mir aufbauen und mich mögen."
Aya Mustafa, eine zierliche Frau Anfang 20 mit langem Rock, Kopftuch und Gymnastikschuhen, hat erst im Studium angefangen zu tanzen. Vorher gab es keine Möglichkeiten, ihr Hobby auszuleben:
"Ich möchte den Kindern das ermöglichen, was ich nie erreichen konnte, einfach weil es das Angebot damals nicht gab: Professionelle Tänzer zu werden."
Aya Mustafa dreht sich um und geht zur nächsten Gruppe, die schon wartet. Die Mädchen liegen auf dem Rücken und strampeln mit den Beinen in der Luft. Aufwärmübungen für das Training. Sie strecken die Knie durch, Aya Mustafa läuft durch die Reihen und korrigiert die Stellung der kleinen Füße. Sie müssen sauber gestreckt sein.
Unter den Mädchen sticht die kleine Noura heraus. Sie trägt ein hellblaues Tutu, toupierte Haare, ihre dunklen Augen sind mit Mascara umrahmt, ihre kindlichen Lippen grell rot geschminkt. Noura lebt ihren Traum einer Ballerina. Ihre Mutter, Dalia Haridi, steht vor dem Probenraum und wartet bis ihre Tochter fertig ist:
"Noura träumt jeden Tag davon, hierher zu kommen."
Fast zwei Stunden braucht Haridi von ihrer Kleinstadt im Norden der Provinz Minya bis zur Ballettschule. Über staubige Straßen, mehrmals in der Woche:
"Ich habe ein Problem mit öffentlichen Schulen. Es gibt einfach kein Bewusstsein für Kunst oder Musik oder Sport. Aber Kinder müssen doch irgendwas Schönes machen. Sie müssen ihre Energie rauslassen. Sie können doch nicht nur lernen und Hausaufgaben machen. Fußball, Musik, egal. Auch Tennis wäre für mich ok."
Der tägliche Spießrutenlauf einer Mutter
Haridi hat noch einen Sohn. Der spielt Fußball. Mit ihm ist sie genauso lange unterwegs bis zum Club, denn in ihrer Kleinstadt gibt es keine Angebote für Kinder. Noura hat neben dem Ballett noch Klavierunterricht. Sie liebt jede Art von Musik, erzählt ihre Mutter, für die das Hobby ihrer Tochter nicht immer einfach zu erklären ist:
"Musik ist nicht das Problem. Alle Menschen mögen Musik. Entweder hören sie Musik oder sie lernen selbst ein Instrument. Schwierig wird es, wenn die Leute hören, dass Noura Ballett tanzt. Dann sagen sie: Wie kannst du ihr nur erlauben, sich so zu bewegen?! Sie verliert ihre Jungfräulichkeit! Und wenn sie sich einmal ins Ballett verliebt, wirst du das nicht mehr kontrollieren können!"
Haridi ist eine durchsetzungsstarke Frau, studierte Juristin. Sie weiß sich gegen den täglichen Spießroutenlauf in ihrer Kleinstadt durchzusetzen – und sieht erste kleine Erfolge:
"Einige im Ort sind sehr beeindruckt. Sie würden das auch gerne machen, aber sie haben nicht den Mut dazu. Sie sagen mir auch, dass ich eine Art Heldin für sie bin, dass ich so weit fahre, nur um Noura zum Ballett zu schicken. Und eine Mutter habe ich auch schon überzeugt. Ihre Tochter tanzt jetzt auch Ballett. Ich hoffe, die anderen folgen unserem Beispiel."
Nouras Training neigt sich dem Ende zu. Es war anstrengend heute. Dutzende Male mussten die Mädchen die neuen Bewegungen wiederholen. Doch Noura hat ein breites Lächeln auf den Lippen. Sie freut sich schon auf die nächste Stunde. Wenn sie sich wieder in eine richtige Ballerina verwandeln darf.