Aufstand der "Nichtbürger" in Lettland
Sie dürfen nicht wählen und keine öffentlichen Ämter bekleiden: 300.000 Russen leben in Lettland, doch sie gelten als "Nichtbürger". Ausschließlich lettisch ist offizielle Amtssprache. Nun soll auch noch der Russisch-Unterricht in den Schulen gestrichen werden - und jetzt beginnt sich massiver Widerstand im Land zu regen.
Auf dem Zentralmarkt von Riga kümmert sich niemand darum, ob man Lette oder Russe ist. Die Blumenverkäuferin Ineta spricht lettisch, ihre Kundin Alla antwortet auf Russisch. Der Markt, sagen die beiden Frauen, habe nun mal seine eigene Sprache.
Ineta sagt: "Wie wir miteinander auskommen? Normal! Da gibt es nichts besonderes, wieso sollten wir auch nicht mit denen auskommen? Sie sind hier geboren und aufgewachsen." Alla pflichtet ihr bei: "Hier auf dem Markt ist die Sprache nicht so wichtig, der Markt hat doch seine eigene Sprache. Ich mag es sogar, hier auf dem Markt lettisch zu sprechen. Hier habe ich jedenfalls nicht das Gefühl, als wolle mich hier irgendjemand erziehen."
Alla Berezovska ist 50 Jahre alt. Sie kam als kleines Mädchen aus Russland nach Riga. Alla kämpfte für die lettische Unabhängigkeit von der Sowjetunion, lettische Staatsbürgerin wurde sie trotzdem nicht.
"Wissen Sie, in den ganzen 20 Jahren seit der Unabhängigkeit haben sich die Beleidigungen angehäuft, obwohl wir sie doch unterstützt haben. Aber sie haben gesagt: Ihr seid nichts, ihr seid fremd hier. Eigentlich müssten wir alle nochmal ganz von vorne anfangen."
"Die Letten belehren alle"
Alla Berezovska ist eine von etwa 300.000 sogenannten Nicht-Bürgern im Land, darf weder wählen noch ein öffentliches Amt bekleiden. Zudem darf sie nicht bei der Polizei oder der Feuerwehr arbeiten. Sie klagt:
"Im Land gibt es mittlerweile zwei Gesellschaften, die nebeneinander leben: die lettische und die russische. Aber es darf doch nicht so sein, dass die Letten alle belehren, in welcher Sprache unsere Kinder lernen sollen, welche Feste gefeiert werden dürfen und welche nicht."
Einen Sprach- und einen Geschichtstest müsste Berezovska ablegen, wenn sie Lettin werden will. Ihre Loyalität stünde auf dem Prüfstand. So einen Einbürgerungstest will sie nicht machen, aus Prinzip, wie sie sagt.
Die Vereinten Nationen haben Lettland bereits scharf gerügt und dem Land einen mangelnden Integrationswillen unterstellt. Denn immerhin spricht jeder dritte Einwohner Lettlands russisch. Trotzdem gilt nur lettisch als Amtssprache. Und jetzt soll auch noch der Russisch-Unterricht in der Schule gestrichen werden.
In post-sowjetischer Denkweise verhaftet
Ilmars Latkovskis leitet im Parlament den für die Einbürgerungsregeln zuständigen Ausschuss. Er kann weder die Kritik der UN, noch die Wut der russischstämmigen Minderheit so richtig nachvollziehen.
"Es gibt Russen, die sehr gut integriert sind und die sehr loyal zu uns stehen. Aber es gibt auch Russen, die immer noch in ihrer post-sowjetischen Denkweise verhaftet sind. Die glauben immer noch, sie seien als Befreier oder Besatzer hier. So fühlen sie sich und so erziehen sie auch ihre Kinder", so der Abgeordnete der Nationalen Allianz.
So wie Latkovskis denkt die Mehrheit in Lettland. Auch Ineta, die Blumenverkäuferin vom Zentralmarkt, will von Diskriminierung nichts wissen:
"Ich kann nicht verstehen, dass man sich deshalb diskriminiert fühlt. Was bedeutet das denn wirklich für diese Leute? Gut, die dürfen nicht wählen. Aber das ist auch schon alles."
"Lettländer" nennen sich die, die nicht wählen dürfen, die weder Letten noch Russen sind. Viele besorgen sich trotzdem - oder auch genau deshalb - einen russischen Pass. Die Regierung im fernen Moskau wird es freuen. Auch Alexander Gaponenko hat längst zwei Ausweise. Er ist der Sprecher der Radikalen unter den lettischen Nicht-Bürgern.
"Ethnische Hierarchie" im Land
Gaponenko unterlegt seine Propaganda mit düsterer Marschmusik, spricht von einer "ethnischen Hierarchie" im Land, gegen die sich die Minderheit wehren muss. Russlands Nation müsse sich vereinigen. Heute will er seine Leute auf die Straße bringen, spricht von "unserem Maidan" in Riga. Gaponenkos Zündeln zieht bisher aber nicht wirklich. Auf dem Zentralmarkt in Riga ernten seine Parolen eher Kopfschütteln, egal in welcher Sprache.
In Lettland leben auch Leute wie Nijonila Kuharthuk. Auch sie lebt seit Jahrzehnten in Riga, geboren wurde sie aber in der Ukraine. Jetzt, nach 20 Jahren als Nicht-Bürgerin, hat sie einen Entschluss gefasst. Kuharthuk geht heute nicht zu der Demonstration. Stattdessen sitzt sie bei der Einbürgerungsprüfung. Sie will Lettin werden.
"Endgültig motiviert haben mich die traurigen Ereignisse in meiner alten Heimat Ukraine. Ich will eben nicht, dass Putin mich beschützt, dass er irgendwann kommt, um den 300.000 Nichtbürgern in Lettland zu helfen."