Baltikum

Gottlos glücklich in Estland

Stadt Narva in Estland
Angler in der estnischen Stadt Narva © picture alliance/dpa/Foto: Kay Nietfeld
Von Carsten Schmiester |
Seit 25 Jahren ist Estland unabhängig, trotzdem haben sich die Esten noch nicht ganz von der Sowjetherrschaft erholt. Zumindest was den Glauben betrifft. Die Mehrheit der Esten gehört keiner Konfession an. Religiöse Institutionen spielen nur eine untergeordnete Rolle.
Gottesdienst in Tallinn – in einer fast leeren Kirche. Das ist der Normalfall nicht nur in der estnischen Hauptstadt, sondern überall in dem kleinen baltischen Staat, dem es eigentlich an Rekorden mangelt, guten wie schlechten – der aber in der Liste der am wenigsten religiösen europäischen Länder ganz weit oben steht. Nach einem Zensus aus dem Jahr 2000 bezeichnet sich nur knappes Drittel der etwa 1,3 Millionen Menschen als Anhänger einer Religion, und dieses Drittel teilt sich wiederum etwa zur Hälfte in Lutheraner und Orthodoxe Christen.
Eine Umfrage von 2005 ergab allerdings, dass nur 16 Prozent der Esten an einen Gott glauben, aber mehr als Hälfte, nämlich 54 Prozent, an irgendeinen "Geist" oder an eine überirdische "Macht". Die Folgen sind sonntags in den Kirchen sichtbar: Leere Bänke. Ein großes Problem für die Kirchen, deren Mitgliederzahlen immer weiter zurückgehen. Warum ist das so? Kalle Köiv ist Sprecher der estnischen evangelisch-lutherischen Kirche.
"Nun, die Gründe dafür sind vielfältig. Am häufigsten wird darauf hingewiesen, dass der Zustand, den wir momentan in Estland haben, vor allem das Ergebnis von zwei Generationen kommunistischer und atheistischer Lehre ist. Das heißt: Ungefähr zwei Generationen haben zu Hause keine christliche Unterweisung bekommen und auch keinen Religionsunterricht in der Schule..."
Das liegt nahe und ist wohl tatsächlich einer der Hauptgründe für die "Gottlosigkeit" der Esten. Das meint auch die Lehrerin Katrin-Helena aus Kose, das liegt etwa 30 Kilometer südlich der Hauptstadt:
"Ja, sicher, das kommt bestimmt durch die sowjetische Zeit. Diese Periode ist ein Teil der Geschichte unseres Volkes. Und die sowjetische Ideologie beeinflusst bis zum heutigen Tag das Denken der Menschen oder besser gesagt, ihre Vorurteile, denn diese Vorurteile gegenüber der Kirche sind bei den Leuten dank der sowjetischen Zeit noch immer sehr präsent."

Die gute alte Zeit

Es gibt aber auch Menschen in Estland, die Ursachen für die augenscheinliche Areligiosität noch deutlich weiter zurück in der Vergangenheit sehen. Kristi ist Lehrerin in Suure Jaani, tief in der Provinz. Sie zitiert die Legende von der guten alten, und damit gemeint ist die vorchristliche Zeit.
"Diese Legenden gibt es seit fast 150 Jahren. Sie besagen, dass wir hier eine glückliche Vorzeit hatten und dann kamen die bösen Christen, die uns alles Glück genommen und uns versklavt haben. Und diese Botschaft lebt weiter. In den Schulen, im öffentlichen Raum und auch in der Kunst."
Kristi selbst glaubt nicht an diese Legende. Und sie glaubt auch nicht daran, dass ihre Heimat wirklich eines der am wenigsten religiösen Länder Europas ist. Allerdings seien die Esten schon die mit am wenigsten vom Christentum überzeugten Europäer. Aber: Glauben würden dennoch viele.
"Auf irgendeine Weise ist das so eine Art Naturreligion. Die Überzeugung, dass es irgendwelche Kräfte im Universum gibt, die uns leiten, ob das jetzt physische, also mit den Naturgesetzen verbundene Kräfte sind oder ob es eine andere Kraft ist, zu der ein gläubiger Mensch vielleicht ´Gott` sagen würde..."
Tauno ärgert sich darüber, dass die Mehrheit der Esten als "atheistisch" bezeichnet wird. Das stimmt einfach nicht, sagt der 31-Jährige.
"Ich möchte das richtigstellen: Denn nach einer Untersuchung des Europäischen Parlamentes sagen nur sechs Prozent der Esten, dass sie sich als Atheisten bezeichnen. Etwa 60 Prozent dagegen sagen, dass sie durchaus spirituelle Menschen sind. Ja, es gibt nicht sehr viele Christen, aber das Problem ist doch eigentlich, dass organisierte Religiosität in Estland eben überhaupt nicht populär ist."

Entfremdung des Volkes von der Kirche

Die Esten haben sich nach seiner Überzeugung über die Zeit von den Kirchen entfernt, haben das Vertrauen in religiöse Institutionen fast vollständig verloren. Und, ja, es fehle den Esten auch als Folge der sowjetischen Zeit die religiöse Bildung und Tradition. Immerhin, das Land leistet sich noch Fachleute: Ringo Ringvee ist Religionssoziologe im Innenministerium. Auch er sieht den Beginn der Entfremdung des Volkes von der Kirche eher im Anfang des vergangenen Jahrhunderts, dann noch einmal verstärkt unter dem Einfluss Moskaus. Und er sagt, das die Esten auf der einen Seite keine überzeugten Atheisten sind, auf der anderen Seite aber eben auch keine Anhänger organisierter Religionen. Irgendeine Idee, warum das so ist?
"Es scheint zum einen so zu sein, dass für die Esten Religion einen praktischen Nutzen haben muss. Wenn wir darauf schauen, wie viel Interesse für Alternativmedizin, alternative Lebensweisen oder alternative Spiritualität gezeigt wird, dann stellen wir ein großes Interesse fest. Aber das äußert sich nicht in aktiver Beteiligung an religiösen Organisationen, weil auf der anderen Seite dieser Wunsch da ist, sich nicht zu binden."
Für die Kirchen und Glaubensgemeinschaften ist das eine große Herausforderung. Ringvee meint, dass sie sich deutlich mehr um Mitglieder bemühen, ihnen auf ihren Lebenswegen mehr entgegenkommen müssen.
"Eine der populärsten Antworten ist: Sie sollen in Not Geratenen mehr beistehen. Wir kommen also in mancher Hinsicht zurück auf die Aussage, dass Religion irgendwie greifbar sein muss. Sie muss irgendeinen praktischen Wert haben, sie muss bewirken, dass sich im Leben spürbar etwas verbessert, dass die Sorgen verschwinden und so weiter. Aber wie man das machen kann, auf welche Weise man das machen soll, das ist… ich glaube, das ist so eine typische Millionen-Dollar-Frage."
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