Bandscheibe, Lendenwirbel und viel Blut - aber kein Mensch

Von Annegret Faber |
Vor allem an Leichen lernten Chirurgen bisher das Operieren. Doch nun wurde in Leipzig an der Hochschule für Technik, Wissenschaft und Kultur ein vollständig simulierter OP-Saal eröffnet. Die erste Übung war die Operation eines Bandscheibenvorfalls.
"Also hier, da ist so ein bisschen was hart, da können sie auch mal probieren, das ist Knochen, und zwar ist das der Bereich des Wirbelkörpers. ..und dieses Rückenmark muss man zur Seite schieben, während der OP und dann sieht man hier drunter."

"Oahhhhh..."

"Hier ist die Bandscheibe."

Ungewöhnlich für die Hochschule für Technik, Wissenschaft und Kultur in Leipzig: Ein kompletter OP-Saal. Auf dem OP-Tisch ein Patient, in Form eines Torsos. Zugedeckt mit einem blauen Tuch liegt er auf dem Bauch. An der Stelle des Lendenwirbels klafft ein Loch von ca. 5 Zentimetern Durchmesser. Blickt man hinein, sieht man Fleisch, Muskeln, Blut.

"So, und dann kann ich nämlich jetzt das überschüssige Bandscheibengewebe herausholen, wie das bei der echten OP auch stattfindet, und man muss so viel Gewebe rausholen, bis der Druck von dem Rückenmark verschwindet, und das ist die Erfahrung die der Chirurg haben muss…"

"Ja, jetzt blutet es!"

"Da müssen wir absaugen, oder?"

"Müssen wir saugen, haben wir einen Sauger?"

"Na klar."

"Und wo bin ich jetzt rein gegangen, vom Rücken aus? Wo bin ich?"

"Vierter, fünfter Lendenwirbel, also ganz weit unten."

Der Chirurg Werner Korb, Stiftungsprofessor für Simulation und Ergonomie in der operativen Medizin, hantiert mit Skalpell, Haken und Schere. Sein Assistent: Bürgermeister Burkhard Jung. Beide stehen sich gegenüber, in der Mitte der Patient. Durch ein Mikroskop, das wie eine Riesenkrake über dem OP-Tisch hängt, blicken sie auf den Bandscheibenvorfall. Was sie sehen, wird für alle Anderen sichtbar, stark vergrößert auf einem Monitor übertragen.

"Wo bin ich jetzt rein gegangen, vom Rücken aus?"

"Vom Rücken aus."

"Wo bin ich, in welchem Lendenwirbel?"

"Vierter, fünfter Lendenwirbel, ganz weit unten."

"Jetzt sehen sie hier, hier ist jetzt der Sauger verstopft, das kann auch passieren…"

Alles sieht täuschend echt aus. Fleisch, Rückenmark, Bandscheibe, Lendenwirbel und viel Blut. Allerdings liegt da kein Mensch.

"Also von oben sieht es anatomisch korrekt aus, wenn man von unten schaut, sieht es sehr technisch aus. Weil da die ganzen Anschlüsse für die Elektronik sind."

Die Drähte führen zu einem Plastikkasten. 20 mal 30 Zentimeter ist er groß. Er steht einen halben Meter neben dem Torso. Von hier aus wird die Blutzufuhr geregelt. Martin Bringezu, Elektroingenieur und wissenschaftlicher Mitarbeiter:

"Da ist ein intelligenter Mikrocontroler drinne, der eine Pumpe ansteuert, die das Blut einleitet, der eben diese Ventile ansteuert, die dann das Blut dosieren können, der auch diverse sensorische Daten erfasst"

Sensoren zeichnen auf, wann der Chirurg falsch geschnitten, gedrückt oder gezogen hat. Die Trainingsdaten werden dann auf einem Server zentral gesammelt und nach der OP ausgewertet. Ben Andrack, ebenfalls Elektroingenieur.

"Angedacht ist es so, dass der Chirurg nicht unterbrochen wird, in seiner Arbeit, aber kann dann zum Beispiel im Nachgang, indem man die Videobilder von der OP zusammen mit dem Chirurgen durchspricht, live, die Stellen identifizieren, wo der Experte ganz anders vorgehen würde."

Und es kommt noch besser. Während der OP wird nicht nur alles aufgezeichnet, jede Bewegung von Sensoren erfasst. Der leitende Chirurg hat auch die Möglichkeit spontan Notfallszenarien zu initiieren. Das versucht Elektroingenieur Matthias Müller umzusetzen.

"Eine Sache, die wir auch entwickeln, ist eine Fernsteuerbarkeit über ein Tablet PC, also ein iPad, im Detail, wo dann eben dieses Gerät, die Einblutung und ähnliche Sachen gesteuert werden können. Das der betreuende Chirurg nicht an einen Rechner gebunden ist, sondern dass er im OP stehen kann, mit dem iPad quasi, neben dem Probanden."

Operationen dieser Art gab es bisher noch nicht. Der Arzt musste sich an Leichen üben. Das Problem: Verstorbene haben selten einen Bandscheibenvorfall. Außerdem trocknen Blut und auch die Bandscheibe aus. Bei der simulierten OP hingegen fließt Blut, wenn der Chirurg schneidet.

Doch nicht nur an Leichen wurde bisher geübt. Auch virtuelle Computermodelle stehen zur Verfügung. Die Instrumente bedient man mittels Joystick. Was hier aber fehlt, ist die korrekte Haptik, das Gefühl für Muskeln und Fleisch. Tatsächliche Operationen konnten also bisher nicht geübt werden. Ben Andrack:

"Momentan ist es ja so, dass die Chirurgen im OP das vermittelt bekommen. Das heißt, die lernen am wirklichen Patienten, schauen sehr lange zu. Aber solche haptischen Sachen, wie stark darf ich jetzt an ner Struktur ziehen, wir stark darf ich dort quetschen, wie muss ich vorgehen, das kann man, wenn man es sich nur optisch anschaut, vielleicht erahnen. Aber hier hat er die Möglichkeit, das an nem Kunststoffmodell zu trainieren."

In Leipzig sieht man in der OP-Simulation absoluten Forschungsbedarf. Deshalb wurde an der Hochschule für Technik, Wissenschaft und Kultur eine Professur für "Simulation und Ergonomie in der Operativen Medizin" eingerichtet. Über fünf Jahre wird diese Professur mit insgesamt 500 000 Euro gefördert. Das Geld kommt von der Leipziger Stiftung für Innovation und Technologietransfer. Die Entwicklung der Bandscheibe selbst kostete bisher 1,7 Millionen Euro, finanziert von der EU. Ein interdisziplinäres Projekt: Chirurgen, Elektroningenieure, Informatiker, Psychologen, Medizintechniker, Pädagogen und Modellbauer haben eng zusammen gearbeitet. Die größte Herausforderung war die realistische, haptische Nachbildung der Wirbelsäule.

"Schwester, Tupfer!"

"Das sind ganz unterschiedliche Kunststoffe, teilweise auch Gelatine, verschiedene Epoxidharze, was haben wir noch?"

"Silikone."

"So, jetzt ein bisschen hier ..."

"Jetzt sauge ich das mal wieder ab, damit ich was sehe."

Die Optik ist leichter zu überlisten als das Gefühl. Plastik wie Fleisch aussehen zu lassen ist unproblematisch. Sobald man es anfasst, mit einem chirurgischen Instrument berührt, ist der Zauber vorbei.

"Wir brauchen den Chirurgen, der immer wieder herkommt, das tastet, fühlt und sagt ja, richtiger Härtegrad, nicht richtiger Härtegrad. Und diese interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Chirurgen und Ingenieuren, die gibt es nicht so häufig."

Das Team aus 13 Wissenschaftlern hat nach eineinhalb Jahren Arbeit aus Kunststoffen, Pumpen, Stromkabeln, Schläuchen und Mikrochips einen Teil des menschlichen Körpers simuliert - so echt, dass kein Unterschied mehr sichtbar ist, auch nicht fühlbar. Bürgermeister Burkhard Jung, der heute Assistenzarzt sein durfte:

"Da wird einem ganz unheimlich. Weil das Blut wirklich einströmt, also es ist schon perfekt, wie das simuliert wird."

Ziel ist die Massenproduktion der Bandscheibe. Denn nach jeder OP ist sie wertlos und muss entsorgt werden. Gewebe und Knochen sind durchtrennt, der vorgefallene Gallertkern ist entfernt. So wie bei einer realen OP. Bis die künstliche Bandscheibe in Serie gehen kann, könnten aber noch ein, zwei Jahre vergehen, sagt Werner Korb. Er träumt schon von den nächsten Simulationen. Die OP von Kopf-Hals-Tumoren stellt er sich vor, und natürlich irgendwann eine simulierte Operation am menschlichen Herzen.
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