Abhijit V. Banerjee und Esther Duflo: "Gute Ökonomie für harte Zeiten - Sechs Überlebensfragen und wie wir sie besser lösen können"
Penguin-Verlag, München 2020
560 Seiten, 26 Euro
Die Überlebensfragen der Menschheit
06:37 Minuten
Wie entsteht Armut? Ist Freihandel wirklich gut für alle? Die Wirtschaftsexperten Abhijit V. Banerjee und Esther Duflo haben darüber ein ungewöhnliches Buch geschrieben. Ihre Antworten überzeugen, auch weil sie ideologiefrei argumentieren.
Sie sind die Wirtschaftsnobelpreisträger des vergangenen Jahres, sie sind ein Paar und sie forschen gemeinsam am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA. Jetzt haben Esther Duflo und Abhijit Banerjee ein Buch geschrieben. Es ist ein sehr gutes Buch.
Die beiden Autoren streiten leidenschaftlich für die Rehabilitierung der Wirtschaftswissenschaften. Denn hier gebe es viel Wissen und erstaunliche Lösungen, die die Welt besser machen könnten – wenn man sie nur zur Kenntnis nähme. Wenn Wirtschaftswissenschaftler auf Ideologie verzichten würden und sich stattdessen wie gute Handwerker an die Lösung der Menschheitsprobleme machen würden. Das ist ein ungewöhnlicher Ansatz für Starökonomen - er ist pragmatisch, sympathisch und bescheiden. So wie das ganze Buch.
Lernen aus der Armutsforschung
Duflo und Banerjee kommen aus der Armutsforschung. Die beiden gehören einer neuen Richtung in den Wirtschaftswissenschaften an, die aufwendige Tests über die Wirksamkeit von wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen anstellt – ähnlich wie Mediziner, die mit Studien und Kontrollgruppen arbeiten, wenn sie herausfinden wollen, ob ein Medikament wirkt.
Diese Tests wurden zuerst in der Entwicklungshilfe und in der Armutsbekämpfung durchgeführt. Gerade in diesem Feld sind bis heute viele Maßnahmen gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Ob etwas funktioniert oder nicht, fand man bisher entweder gar nicht, zufällig oder zu spät heraus; dieselben Fehler wurden immer wieder gemacht, es wurde Geld vergeudet.
Nah an der Wirklichkeit
Inzwischen ist man weiter. Bevor große Stiftungen beispielsweise im Kampf gegen Malaria überlegen, ob man Moskitonetze besser verkauft oder verschenkt, lassen sie testen, unter welchen Bedingungen mehr Nutzer die Netze anwenden und besser pflegen. Ergebnis: Wenn die Netze nicht verkauft, sondern verschenkt werden.
Wissenschaftler untersuchen, ob nach einer Naturkatastrophe diejenigen bessere Berufschancen haben, die von dem Unglück verschont bleiben, oder die, die Haus und Fischerboot verlieren. Ergebnis: Diejenigen, die alles verlieren und deshalb auswandern müssen.
Sie finden heraus, unter welchen Bedingungen sich Menschen auf den Weg zu neuer Arbeit machen – und ob das den Beschäftigungschancen derjenigen schadet, die schon da sind - tut es in der Regel nicht. Die Resultate zeigen: Menschen verhalten sich nicht immer so rational und sie passen ihr Leben nicht so schnell an, wie Ökonomen es voraussagen, wenn sich ihre Lebensbedingungen verändern.
Das stellen Banerjee und Duflo auch an sich selbst fest. Immer wieder erzählen sie Geschichten aus ihrem Familienleben, um zu illustrieren, wie und warum sich selbst Wirtschaftswissenschaftler nicht jederzeit rational verhalten.
Unideologisch im guten Sinne
Für die Überlebensfragen der Menschheit, die Banerjee und Duflo diskutieren – Migration, Freihandel, Ungleichheit, Wachstum, Klima – werden hunderte solcher Versuche zitiert und bewertet, um danach einen vorsichtigen Schluss über vernünftige Wege zu empfehlen. Nicht in allen Fragen sind die beiden Wissenschaftler gleich gut aufgestellt.
Beim Klimaschutz etwa bleiben sie am Ende doch eher bei allgemeinen Ratschlägen, genauso bei ihren Überlegungen zu einer Reichensteuer. Politisch sind sie beiden ohnehin eindeutig zu verorten: Bei der Frage nach Ungleichheit und Steuergerechtigkeit leugnen sie ihre Nähe zu demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten wie Bernie Sanders oder Elisabeth Warren nicht.
Dennoch ist das Buch unideologisch im guten Sinne. Die Autoren machen keinen Hehl aus ihren Überzeugungen, doch sie missionieren nicht. Sie werben dafür, sich an den Fakten zu orientieren.
Kleinteilig ohne roten Faden
Für den Leser bedeutet das, sich für randomisiert kontrollierte Studien aus Bangladesch und Indien, aus den USA und Norwegen interessieren zu müssen. Bei so viel Kleinteiligkeit geht der rote Faden schon mal verloren, für den Leser wie für die Autoren selbst.
Banerjee und Duflo verzichten auch darauf, darüber nachzudenken, wie man beliebte, aber unwirksame Programme wieder los wird. Doch das muss man in Kauf nehmen, wenn man sich mit der Wirtschaftswissenschaft neuen Typs anfreunden will. Denn am Ende ist richtig, was die beiden Autoren meinen: Wirtschaft ist zu wichtig, um sie den Wirtschaftswissenschaftlern zu überlassen.