Banlieue-Politik in Frankreich

Wie Präsident Macron allen eine Chance geben will

Emmanuel Macron sitzt am 20.2.2018 in der Micro-Folie von Les Mureaux zwischen mehreren Kindern.
Ein Konzept zur Selbstermächtigung: Der französische Präsident Emmanuel Macron zu Besuch in der Micro-Folie der Gemeinde Les Mureaux © picture alliance / AP Images / Ludovic Marin
Von Suzanne Krause |
Zu große Schulklassen, kaum Job-Chancen, Armut und Stigmatisierung: In der Banlieue habe sich die Republik abgemeldet, sagte der französische Präsident im November 2017. Nun gibt es Ansätze, die Situation in den Brennpunktvierteln zu verbessern.
Die Grundschule Pascal liegt am Rand des Viertels Beauregard auf dem Hochplateau von Poissy. Beauregard bedeutet: Schöne Aussicht. Doch die Gegend ist geprägt von fünf-, sechsstöckigen aufgehübschten Mietskasernen, über die Hälfte der Anwohner hat Migrationshintergrund. Beauregard gilt als sozialer Brennpunkt – die Grundschule Pascal, ein ältlicher Flachbau, als Inbegriff neuer Hoffnung. Deswegen ist auch Bildungsminister Jean-Michel Blanquer heute hier. Mit einem Tross von Begleitern biegt er vom langen Flur in ein Klassenzimmer ab. Dort erwarten ihn 13 Erstklässler und die Lehrerin.
"Wir arbeiten!", rufen die Kinder im Chor auf Blanquers Frage, was sie in der Schule machen. Ein kleiner Junge ruft: "Damit wir ganz viel wissen, wenn wir groß sind!"

Der Bildungsminister fragt vor Ort nach

Der Bildungsminister nickt begeistert. Mancher Schüler hier hat Eltern, die kaum lesen und schreiben können. Unter anderem, weil während deren Schulzeit die Klassen chronisch überfüllt waren. Sie entstammen der zweiten, dritten Einwanderergeneration, aus Afrika, der Türkei oder auch Portugal. Arbeit gab es damals im Werk eines französischen Autobauers in Poissy. Vor 40 Jahren zählte der 27.700 Angestellte, heute sind es nur noch 5000.
Erziehungsminister Jean-Michel Blanquer spricht in einer Klasse mit Schülerinnen und Schülern.
Frankreichs Erziehungsminister Jean-Michel Blanquer beim Besuch einer Schulklasse© Deutschlandradio / Suzanne Krause
Das Dutzend Zweitklässler, das Blanquer nun aufsucht, war 2017 in eine verkleinerte Klasse eingeschult worden. Und ist deswegen sehr autonom, sagt Lehrerin Jessica Gay.
"Nach zwei Monaten Sommerferien sitzt bei ihnen der Stoff vom Vorjahr noch und ich konnte gleich mit dem neuen beginnen. In der Klasse herrscht ein sehr positiver Elan, das gibt den Kindern viel Selbstvertrauen."
Die Grundschule Pascal bekam für die verkleinerten Klassen zwei zusätzliche Lehrer bewilligt – landesweit wurden für das Programm bisher 3880 neue Posten geschaffen. Ab September 2019 dann sollen alle Erst- und Zweitklässler in Brennpunktschulen von kleinen Klassen profitieren, verspricht Jean-Michel Blanquer.
"Bislang hinkten Kinder aus sozial benachteiligten Vierteln schulisch Gleichaltrigen aus dem Rest des Landes hinterher. Das wird bald Vergangenheit sein."
"La France – Une chance pour tous" – Frankreich solle jedermann eine Chance geben. Das hatte Staatspräsident Emmanuel Macron im vergangenen Mai versprochen, als er seine Politik für die sozialen Brennpunktviertel vorstellte.
"Das heutige Thema ist das Thema der französischen Republik. Hier geht es um Frauen und Männer, die an Orten aufgewachsen sind, die vorgeblich Problembeladen sind - was de facto auch stimmt, weil sich dort die Armut konzentriert, weil es an Mitteln fehlt, an Bildung und an Jobs. Und es geht darum, diese Missstände zu beseitigen."
Emmanuel Macron reagierte mit seiner Ansprache auf den Bericht, den Jean-Louis Borloo, ehemals Minister für Stadtpolitik, in seinem Auftrag erstellt hatte. Monatelang hatte Borloo landauf, landab erkundet, was es brauche, den heruntergekommenen Vorstädten neue Perspektiven zu geben. Seit jeher werden sie "Banlieue" genannt – übersetzt: "Bannmeile". Die Frage, wie sich der dortige Alltag verbessern lasse, hat in Frankreich Dauerbrenner-Status: Seit 1981 beantwortet sie jede Regierung mit neuen Maßnahmenkatalogen.

Viele Pläne seit den 1980ern

Mittlerweile gibt es ein gutes Dutzend Banlieue-Pläne, zweistellige Milliardenbeträge wurden in die Renovierung der Plattenbausiedlungen an den Stadträndern gesteckt. Doch an der Misere vor Ort hat das nichts geändert. Jugendkrawalle, blutige Bandenkriege sorgen immer wieder für Schlagzeilen. Hohe Arbeitslosigkeit, Drogenkriminalität, die zunehmende Abschottung von Bevölkerungsgruppen und religiöse Radikalisierung prägen den Alltag.
Ein junger Mann mit steht in der Pariser Vorstadt Grigny vor einem Wohnblock.
Pariser Vorstadt Grigny: Für die Brennpunktviertel wurden auch schon vor Macrons Präsidentschaft immer wieder Pläne entwickelt.© MAXPPP
Berichterstatter Borloo forderte deshalb Ende April eine Art Marshallplan für die Brennpunktviertel, ausgestattet mit einem Fonds von fünf Milliarden Euro. Kommunalpolitiker aus Brennpunktvierteln begrüßten diesen Ansatz ausdrücklich. Doch Staatspräsident Macron versenkte den Borloo-Bericht in einer Schublade und setzte auf eine neue Philosophie zur Rettung der Banlieues.
"Die Urenkel der Migranten glauben nicht mehr an politische Diskurse. Gleichzeitig macht sich in den Sozialbauviertel selbst heute ein Elan breit, etwas ändern zu wollen. Deshalb müssen wir alle zusammen eine andere Methode, einen anderen Rhythmus entwickeln."
Ein Appell an staatliche Institutionen, Lokalpolitiker, Unternehmer, Vereine, miteinander Lösungen zu suchen. Außerdem will der Staatspräsident das als verloren geltende Terrain "für die Republik zurückerobern". 1300 zusätzliche Polizisten werden so "peu a peu" zum Streifengang in die Banlieue abkommandiert. Im Sommer hat die Regierung einen weiteren Plan zum Kampf gegen Drogenhandel verabschiedet. Und Macron setzt auf eine bessere Ausbildung junger Leute. So ist derzeit eine Webplattform im Aufbau, auf der Praktika-Stellen angeboten werden. In der zehnten Klasse ist ein einwöchiger Berufsschnupperkurs seit Langem landesweit Pflicht. Doch längst nicht jeder Teenager aus der Banlieue findet einen Platz.

Ein EU-Programm zur Armutsbekämpfung

Davon können Denis, Cotis, Cindy, Yasmina und Nourimane ein Lied singen. Sie sind zwischen 18 und 22 Jahre alt, leben in Poissy und kämpfen um eine Ausbildung oder einen Job. Im Gegensatz zu den rund 4000 Gleichaltrigen, die so wie sie in der lokalen Mission Locale, einer staatlichen Jugend-Sozialeinrichtung, eingeschrieben sind, nehmen sie an einem EU-Programm zur Armutsbekämpfung teil. Für 500 Euro Monatslohn sollen sie in einem halbjährigen Kurs fit gemacht werden für die Stellensuche. Regelmäßig tauscht sich die Kursgruppe aus.
"Letztes Jahr hat mir meine Berufsschule ein Praktikum in einer Immobilien-Agentur auf den Champs-Elysées vermittelt. Allerdings hat sich die Agentur-Chefin geweigert, meine Papiere gegenzuzeichnen. Sie mochte weder meine Religion noch meinen Familiennamen – ich bin Muslimin. Da mir der Praktikums-Nachweis fehlte, musste ich dann die Klasse wiederholen."
"Dieser Kurs ist schon hilfreich. Das Problem aber ist: Die Arbeitgeber ziehen immer noch nicht mit, wenn sich Schwarze oder Nordafrikaner um eine Stelle bewerben. Da sagt mancher Unternehmer, seine Kunden würden mit Farbigen nichts zu tun haben wollen. Das gehört weiterhin zur sozialen Realität."
"Erzähl, dass du Portugiese bist!"
"Ja, ich bin ein Einwandererkind. Ich habe das Glück, sehr französisch auszusehen. Und mein Vorname Denis passt auch. Würde ich aber meinen zweiten Vornamen, Antonio, zum Rufnamen machen, könnte sich das negativ auswirken."

Das Versprechen des Präsidenten im Ohr

Alle im Kurs haben Macrons Versprechen im Ohr, Frankreich werde jedem eine Chance bieten.
"Wird Macron das Interview hören? Ich habe eine Botschaft für ihn. Er soll uns die Chance geben, arbeiten zu können. Selbst wenn wir noch keine Berufserfahrung haben. Wir hoffen, dass die Älteren uns ihre Kompetenzen weitergeben. Wenn wir morgen unser Wissen nicht an Jüngere vermitteln können - was soll dann aus der Welt werden?"
"Denn auch wenn wir die Straße überqueren, so wie es Macron einem Arbeitslosen empfohlen hat, finden wir gegenüber keinen Job. Wir haben es probiert, es klappt nicht."
"Da macht er uns für die Jobsuche falsche Hoffnungen."
"Aber dennoch glaube ich an mich. Wir werden auch ohne Diplome klarkommen."
"Wir sind schließlich das Frankreich von morgen!"
Aurélien Taché zählt zur Generation, die heute Frankreichs Geschicke bestimmt. Der jungenhaft wirkende Mittdreißiger empfängt in seinem winzigen Büro im Nebentrakt der Nationalversammlung: Seit Juni 2017 ist der ehemalige Sozialist Abgeordneter von La République en Marche, Macrons Partei. Taché gilt als 'Stimme der Banlieue'.
"Ich stamme aus einfachen Verhältnissen, aus einem Brennpunktviertel. Die Berufsberaterin an der Schule hat mich in eine Klempnerlehre gesteckt, trotz meiner zwei linken Hände. Was Besseres fiel ihr angesichts meiner Noten nicht ein. Ich bin sicher: Hätte ich eine Privatschule besucht oder käme aus besseren Verhältnissen, hätte man sich bei meiner beruflichen Orientierung mehr Mühe gegeben."

Lehre abgebrochen, studiert – und jetzt Abgeordneter

Die Klempnerlehre hat Aurélien Taché hingeschmissen. Und sich dann sein Glück selbst geschmiedet: Er hat das Abitur nachgeholt, Jura studiert, sich politisch engagiert. Mit 30 war er Berater in einem Pariser Ministerium, mit 33 Abgeordneten.
"Macron habe ich mich angeschlossen, weil auch mir beim politischen Projekt für Frankreich eines am dringlichsten erscheint: Zu vermitteln, dass, egal von wo jemand herstammt, ihm a priori alle Möglichkeiten offenstehen sollten."
Aurélien Taché steht zwischen sitzenden Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung
Aurélien Taché, Abgeordneter von La République en Marche, nahm nach einer abgebrochenen Lehre einen zweiten Anlauf.© picture alliance / Thomas Padilla / MAXPPP
In seinem Wahlkreis in Cergy, einen Katzensprung von Poissy entfernt, testet Taché derzeit ein neues Programm: Unternehmen, die einen Berufsanfänger aus der Nachbarschaft einstellen, sollen dafür eine Prämie von 15.000 Euro erhalten.
"Da handelt es sich nicht um eine weitere ABM-Maßnahme zur Berufseingliederung junger Leute, wie es derer schon so viele gibt und die im Lebenslauf negativ ins Auge stechen. Unser Programm bietet einen ganz normalen unbefristeten Arbeitsvertrag, nur dass halt der Arbeitgeber eine Prämie bekommt. Nach zwei, drei Jahren im Job fragt keiner mehr, wo der Berufsanfänger herkommt – er hat sich eingegliedert."
Das Programm, sagt Aurélien Taché, inkarniere ein Leitmotiv Macrons: Man müsse die Banlieue-Bewohner ermächtigen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Dieser Ansatz liegt auch dem Team der Micro-Folie am Herzen, einer Kulturinitiative in Sevran, im Pariser Osten. Dem betongrauen Plattenbauviertel Beaudottes, in dem die Initiative zu Hause ist, eilt der traurige Ruf einer salafistischen Hochburg voraus. Wohl auch deshalb hat die Micro-Folie ein buntes Zirkuszelt für ihre Angebote gewählt: Mit einem virtuellen Museum, einem "FabLab" mit 3-D-Druckern, Computern und Lasersägen und einer Profi-Bühne, die auch Schultheatergruppen nutzen können, sollen Anwohner Zugang zu einer anderen Welt bekommen.
Das innovative Kulturangebot, zu dem auch ein Nachbarschafts-Café gehört, wurde von mehreren Pariser Museen initiiert. Willkommen sei hier jeder, sagt Phaudel Khebchi. Der Chef der Micro-Folie klickt auf ein Video auf seinem Smartphone. Der Mitschnitt eines Rap-Konzerts im Frühjahr.
"Das war die Wahbah-Show, die haben einige Gymnasiastinnen aus dem Viertel komplett organisiert. Sie haben Künstler aus der urbanen Kulturszene eingeladen, aus Sevran und dem Pariser Großraum. Die Bands spielten kostenlos, bis tief in die Nacht. Für über 850 junge Leute, viele aus dem Viertel. Es war ein Super-Fest!"

Neue Orte zur Förderung der Selbstermächtigung

Als die Micro-Folie im Januar 2017 in Sevran eröffnete, war sie die erste ihrer Art. Heute gibt es fünf Ableger, in anderen Vorstädten und auf dem platten Land. Weitere 186 solcher Kulturorte sind im Aufbau, die Regierung unterstützt das Projekt und hat versprochen: Überall, wo Kultur Mangelware ist, soll sie hingebracht werden.
In Sevran scheint das Konzept aufzugehen: Der niedrigschwellige Zugang zur Kultur gäbe den Viertelbewohnern den Eindruck, nicht mehr gesellschaftlich am Rand zu stehen, die Spannungen im Umfeld hätten abgenommen, versichert eine Mitarbeiterin der Micro-Folie. Im bunten Zirkuszelt treffen sich mittlerweile auch ehrenamtlichen Aktivisten wie Ibtissam Daoudi und ihre Mitstreiter – Studierende, junge Berufstätige, die sich anfangs nur über Facebook gegenseitig unterstützen konnten.
"Eines Tages hatten wir die Idee, uns mal persönlich zu treffen. Als Ort hat sich die Micro-Folie angeboten. Daraufhin haben wir aus unserer Facebook-Gruppe einen Verein und die Micro-Folie zu unserem Hauptquartier gemacht."
Seit einem Jahr lädt der Verein Network'in Sevran einmal monatlich ins Zirkuszelt, zu Themen wie Co-Working, Finanzwelt, Unternehmertum. Die jungen Referenten stammen alle aus Brennpunktvierteln im Pariser Großraum.
"Wer bei den Treffen erstmals nach Sevran und in die Micro-Folie kommt, ist angenehm überrascht von dem, was er hier vorfindet. Vor allem entdeckt er, dass hier viele gut ausgebildete junge Leute leben. Wir haben das keineswegs angestrebt, aber mittlerweile sind wir zu Botschaftern für unsere Heimatstadt geworden."
Initiativen wie die des Vereins Network'in Sevran sind Wasser auf Macrons Mühlen. Mit seiner Politik will der Staatspräsident in den Banlieues Hilfe zur Selbsthilfe geben – und das ist ein vielversprechender neuer Ansatz.
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