Barbara Hahn: "Endlose Nacht - Träume im Jahrhundert der Gewalt"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
200 Seiten, 22,00 Euro
Wie sich ein Jahrhundert in Träumen widerspiegelt
Es sind Träume voller Gewalt, politischen Machtfantasien, Endzeitstimmung - Barbara Hahn hat für "Endlose Nacht" Traumnotate von Philosophen und Literaten des 20. Jahrhunderts zusammengestellt. Herausgekommen ist mehr ein Essay, das den Leser bis zum Ende fesselt.
Es ist ein weit ausgreifendes Projekt, das sich die Literaturwissenschaftlerin Barbara Hahn in "Endlose Nacht" vorgenommen hat: Traumnotate aus dem 20. Jahrhundert, von Anna Achmatowa über Walter Benjamin bis Philip Roth.
Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt das Buch allerdings nicht. Es ist vielmehr, so erzählt die Autorin, Ergebnis einer jahrelangen Faszination und beharrlichen Sammelns, unterstützt von Freunden und Kollegen, die mit zusätzlichen Funden dazu beitrugen.
Hahn verzichtet auf psychoanalytische Deutung
In den dokumentierten Träumen bilden sich die Weltkriege ab, die Massenvernichtung in den Lagern, Totalitarismus und atomare Apokalypse. Dennoch ist jeder Traum ein Gebilde an sich, unverwechselbar den Träumerinnen und Träumern eigen. Das bringt die Autorin auf die wesentliche Frage, was diese Träume eigentlich sind. Individuelle Erkenntnisse? Teile eines kollektiven Wissens? Im Archiv des Unbewussten abgelegte historische Dokumente?
"Alle Erfahrungen sind vergeblich", schreibt Imre Kertész' in seinem "Galeerentagebuch". Aber er fährt fort: "Doch insgeheim, im verborgenen, müssen diese Erfahrungen trotzdem irgendwo leben."
Barbara Hahn zitiert dieses verzweifelte und dabei hoch poetische Diktum gleich zu Anfang ihres Buches und gibt damit ihre Suchrichtung in der Bibliothek der Träume vor. Auf psychoanalytische Deutungsversuche verzichtet sie dabei vollständig und führt dafür Sigmund Freud selbst als Kronzeugen an, der niemals bereit war, gelesene Traumnotate ohne den Kontext des Gesprächs zu deuten. Hahn nähert sich ihrem Thema statt dessen mit den Instrumenten der Literaturwissenschaft - und mit einer großen humanistischen Neugier: Sie "liest" diese Träume, schaut sich die handelnden Personen an, lässt ihre Worte auf sich wirken und bringt sie in Zusammenhang mit historischen Fakten und literarischen Texten.
Essayistische Betrachtung authentischer Träume
Viele Dichter haben ihre Träume extensiv als Rohstoff des Schreibens genutzt, wie etwa Heiner Müller - oder auch ihre Träume kommentarlos protokolliert, wie Elsa Morante es in ihren letzten Lebensjahren und der französische Ethnologe Michel Leiris es fast sein Leben lang tat. Walter Benjamin veröffentlichte in der "Einbahnstraße" von 1928 unkommentierte Traumnotate, was einen heftigen Streit zwischen Adorno und Bloch über die Aussagekraft solcher Texte zur Folge hatte. Auch solchen Spuren geht Barbara Hahn nach.
Ihr Buch fügt sich nicht zusammen, wie könnte es auch? Es ist eine essayistische Betrachtung authentischer Träume aus der Perspektive unterschiedlicher Thesen. Allein die Faszination für etwas, das aus dünnerem Stoff gemacht und dennoch gültiger scheint als die Wirklichkeit hält dieses kluge Buch zusammen - und das Interesse seiner Leser bis zum Ende wach.