Barbara Honigmann: "Georg"

Der Vater am Morgen danach

Das Buchcover zeigt ein schwarz-weißes Portrait von Georg Honigmann, dem Vater der Autorin
Barbara Honigmann: "Georg" © Hanser/Jeff J Mitchell, Getty Images
Von Manuela Reichart · 01.02.2019
Er war Jude, spionierte für die Sowjetunion*, ging nach dem Krieg in die DDR, war depressiv und ein Bohème. Nun, nach seinem Tod, nähert sich Autorin Barbara Honigmann ihrem Vater in dem Roman "Georg". Der zeigt auch, wie Eltern unsere Leben bestimmen.
Das eindrucksvolle Werk der in Straßburg lebenden Berliner Autorin Barbara Honigmann ist autobiografisch grundiert. Sie selbst hat es einmal so formuliert: "Schreiben heißt ja wiederfinden. Die verlorene Zeit zum Beispiel oder sich selbst." 2004 hatte sie sich gemäß diesem Motto der Biografie ihrer Mutter genähert, einer Österreicherin, die als überzeugte Kommunistin in London lebte, bevor sie mit Honigmanns Vater nach dem Krieg in die DDR übersiedelte. In dem Roman "Ein Kapitel aus meinem Leben" ging es nicht zuletzt um die englischen Jahre der Mutter, um ihre Ehe mit einem Doppelagenten.

Honigmanns Vater, der Spion

In dem neuen schmalen und intensiven Buch kommen diese Londoner Jahre auch vor, denn nun steht der Vater der Erzählerin im Mittelpunkt: Georg Honigmann. Der Journalist stammte aus einer assimilierten Familie, wuchs bei der Großmutter in Darmstadt auf. Er war "ein Jude ohne Bekenntnis, aber das Judesein war ihm ins Gesicht geschrieben". Ein zu Depressionen neigender kluger und charmanter Mann, der sich der Partei unterordnete, der aber nie und nirgends ganz dazu gehörte: Für die Engländer war er stets ein Deutscher geblieben, für die Deutschen ein Jude, für seine Genossen "war er zu bürgerlich", für "die richtigen Bürger war er zu bohèmehaft".
Er ist 46 Jahre alt, als die Autorin 1949 geboren wird, zum zweiten Mal verheiratet, bald jedoch geschieden und wieder verheiratet und wieder geschieden. Er wird älter, seine Geliebten bleiben jedoch stets um die 30.
Dieses berührende Erinnerungsbuch beginnt mit einem Besuch der 14-jährigen Tochter beim Vater, der nach der Trennung von seiner dritten Frau in einem trostlosen möblierten Zimmer am Rand von Berlin wohnt. Mit den Frauen verließ er stets auch die Wohnungen und die gemeinsamen Freunde, begann jedes Mal von vorn.

Viele Fragen, auf die der Vater nie antwortete

Barbara Honigmann entwirft das Porträt eines ebenso traurigen wie virilen Mannes, und sie verfolgt die Spuren des Emigranten. Sie stellt Fragen: Warum wird jemand zum Ideologen, warum spioniert einer gegen das Land, das ihn freundlich aufnimmt, warum verleugnet der Vater "den stumpfen Kern des Kommunismus"? Und sie spürt den eigenen Erinnerungen nach. Was bleibt von der Erzählung eines Lebens, von der Familiengeschichte? Georg Honigmann hat keine eigene Version von Kindheit und Jugend verfasst, wenig berichtet, nur die geliebte Großmutter war in allen Geschichten, die er erzählte, immer präsent.
Eine Tochter findet ihn schreibend wieder: den Vater, mit dem sie am Ende seines Lebens im heftigen politischen Streit lag. Sie will ihn verstehen, sein Schweigen über das Naziregime, seine Liebesdramen, seine Entscheidungen. Anekdotisch und liebevoll umkreist sie sein Leben und lässt auf diese Weise nicht nur Familien-, sondern auch deutsche Vor- und DDR-Nachkriegsgeschichte lebendig werden. Vor allem aber begreifen wir mit dieser Lektüre einmal mehr, dass und wie sehr wir mit den Eltern und ihren Lebensgeschichten für immer verbunden bleiben.

* an dieser Stelle stand in einer vorherigen Version ein inhaltlicher Fehler.

Barbara Honigmann: "Georg"
Hanser Verlag, München 2019
160 Seiten, 18 Euro

Mehr zum Thema