Barenboim: Politische Lösung ist einzige Möglichkeit im Nahost-Konflikt
Der Konflikt im Nahen Osten kann nach Ansicht des Generalmusikdirektors der Berliner Staatsoper, Daniel Barenboim, nicht militärisch gelöst werden. Das Ausbleiben einer politischen Lösung würde dazu führen, dass sich die beteiligten Parteien gegenseitig zerstören, sagte Barenboim. Über sein West-Eastern Divan Orchestra, in dem israelische und arabische Musiker zusammenspielen, sagte er: "Umso schlimmer die Lage, umso wichtiger ist das Projekt."
Kassel: Während in der vergangenen Nacht die israelische Armee wieder damit begonnen hat, Ziele in der libanesischen Hauptstadt Beirut zu bombardieren, funktioniert das Zusammenleben und das Zusammenarbeiten von Israelis, Palästinensern und ihren arabischen Nachbarn momentan in Sevilla. Denn dort probt das West-Eastern Divan Orchestra des Stardirigenten Daniel Barenboim. Seit 1999 musizieren in diesem Orchester israelische und arabische junge Musiker gemeinsam. Barenboim hat sich damit einen Traum erfüllt. Und genau dieser Traum wird in der realen Welt jede Nacht von Hamas, Hisbollah und israelischer Armee zerstört. Wie viel vom Traum eines friedlichen Zusammenlebens von Israelis und Arabern für ihn noch übrig ist, darüber sprechen wir mit dem Dirigenten Daniel Barenboim.
Der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim wurde 1942 in Argentinien geboren. Im Alter von zehn Jahren zog er mit seinen Eltern nach Israel, wo er von da an aufwuchs, und Daniel Barenboim ist inzwischen in vielen Ländern der Welt zu Hause. Und er ist nicht nur Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper und einer der berühmtesten Dirigenten der Welt, sondern er ist auch ein politischer Mensch. Zusammen mit seinem Freund und dem Literaturwissenschaftler, aus Palästina stammenden Literaturwissenschaftler, Edward Said, der inzwischen leider verstorben ist, hat er 1999 das West-Eastern Divan Orchestra gegründet, ein Orchester, in dem junge Israelis und junge Araber aus verschiedenen Ländern zusammen Musik machen. Ein Orchester, mit dem er im vergangenen Jahr unter anderem in Ramallah aufgetreten ist. Und für dieses Jahr sind auf der bald beginnenden neuen Tournee Auftritte unter anderem in Kairo und später dann auch in drei Städten in Deutschland geplant. Und zurzeit probt Daniel Barenboim mit dem West-Eastern Divan Orchestra in Sevilla. Ein Orchester, in dem Musiker aus Israel und aus arabischen Ländern nebeneinander sitzen, sich einen Pult für ihre Noten teilen bei den Proben gerade im Moment, wie funktioniert das in der aktuellen Lage, Herr Barenboim?
Barenboim: Ja, das Schreckliche oder das Ironische, wenn Sie wollen, in dieser Geschichte ist, dass wenn es keinen Konflikt gäbe, wäre dieses Projekt total unnötig. Da könnte man sich treffen und ein Orchester machen, wo man wollte. Vielleicht ein Jahr in Kairo, ein Jahr in Damaskus oder in Tel Aviv, Jerusalem, egal. Das heißt, die Tatsache, dass dieser Konflikt es nicht erlaubt, in all diesen Ländern für alle zu sein, ist, macht es absolut dringend notwendig. Und deswegen, umso schlimmer die Lage, umso wichtiger ist das Projekt. Und die jungen Menschen, die hierher kommen und probieren, haben hier auf eine, in einer Weise, ich würde sagen, fast eine emotionale Oase, wenn man das so sagen kann. Weil sie sind doch mit Menschen von der Region, also sie erleben den Konflikt täglich, aber sind außerhalb und können mit den anderen dialogieren und musizieren.
Kassel: Das heißt, Sie versuchen nicht, jetzt bei den Proben – man muss dazu sagen, die Tournee beginnt mit dem Auftritt in Sevilla am 8. August, das heißt, Sie sind in einer anstrengenden Phase jetzt gerade -, das heißt, Sie haben nicht bei den Proben Gespräche über Politik und über den Konflikt verboten?
Barenboim: Doch, doch. Also abends schon, abends schon. Gestern waren wir bis zwei Uhr nachts, wir haben uns einen Film angeguckt, der nach dem Tod von Edward Said über ihn gedreht war, mit dieser ganzen Problematik. Und dann haben, sind viele von den Jungs geblieben, um mit seiner Witwe, mit Frau Said, mehrere Themen weiter zu besprechen - sowohl Israelis wie auch Palästinenser und Ägypter und alle möglichen, die waren alle da und alle interessiert und wir haben über dieses Thema gesprochen. Aber wissen Sie, ich bin nicht ein politischer Mensch, wie Sie gesagt haben. Und das ist kein politisches Projekt. Wenn ich das sage, die Menschen lächeln so, wie kann man so ein Projekt machen und denken, dass man ist nicht politisch. Wir sind nicht politisch, weil wir sind nicht beschäftigt hier mit Realpolitik oder was man tun oder was man nicht tun muss. Unsere einzige politische, wenn Sie wollen, Aussage sind zwei Dinge, an die wir fest glauben. Das war mit Edward Said so und bleibt so auch meine Haltung, nämlich es gibt keine militärische Lösung für diesen Konflikt – keine! Und das muss man wirklich dann bis zu Ende glauben und dabei agieren und nicht denken, wenn alles andere nicht geht, dann geht immer die militärische Lösung. Es gibt keine militärische Lösung für diesen Konflikt. Und es ist nicht ein Volk, sondern zwei Völker, die ein Recht haben auf dieses kleine Stückchen Land, das man entweder Israel oder Palästina nennt, und deswegen die Schicksale beider Völker sind untrennbar. Und wenn die Schicksale des palästinensischen oder israelischen Volkes sind untrennbar und es gibt keine militärische Lösung, heißt, wir müssen dringend eine politische Lösung finden für den Konflikt, weil entweder wir finden einen Weg, gemeinsam zu leben, oder wir zerstören uns gegenseitig.
Kassel: Sie sagen, dass es keine militärische Lösung gibt, dass wir einen anderen Weg finden müssen. Wir erleben jede Nacht, dass sowohl die israelische Regierung als auch sowohl die Hamas im Gaza-Streifen als auch die Hisbollah im Südlibanon das offenbar im Moment ganz anders sehen. Wer könnte denn alle beteiligten Parteien sobald wie möglich davon überzeugen, von dieser militärischen Lösung wieder abzurücken?
Barenboim: Die internationale Gemeinschaft. Anders geht es nicht. Die Europäische Union, würde ich sagen. Das ist absolut notwendig. Aber man muss, wissen Sie, man darf nicht vergessen: Wir leben in dieser Geschichte schon seit der Gründung des Staates Israel, also das ist fast 60 Jahre und auch noch davor. Also es ist jetzt dringend wirklich, dass alle Beteiligten wirklich zusammensitzen und das begreifen und akzeptieren und dass sie von diesem Zimmer nicht wegkommen, bis sie die Lösung gefunden haben – mit Hilfe von den Europäern.
Kassel: Nun traut sich aber sowohl die Europäische Union als auch die Vereinten Nationen, die trauen sich nicht - beziehungsweise bei den Vereinten Nationen können sie nicht wegen des Vetos der USA -, sie trauen sich nicht, Israel im Moment zu verurteilen und wirklich zu sagen: Dieses Recht auf Selbstverteidigung besteht, aber es darf nicht in diesem Ausmaß zu Konflikten führen. Halten Sie das für feige? Sollten die EU und auch die Vereinten Nationen sich auch trauen, das israelische Verhalten deutlicher anzuprangern?
Barenboim: Wissen Sie, man sagt, man fragt in den letzten Wochen so oft: Geht Israel zu weit? Ich glaube, dass das nicht die richtige Frage ist. Die richtige Frage ist: Geht Israel den richtigen Weg? Und das kann man nicht natürlich auf einen bestimmten Tag oder eine bestimmte Aktion legen, sondern von Anfang an. Die einzige Sicherheit für Israel ist, akzeptiert zu werden, zu sein von den Nachbarn. Die Vereinigten Staaten und alle anderen Partner werden das nicht geben. Das ist die einzige langfristige Sicherheit für Israel, ist wirklich, akzeptiert zu sein. Deswegen ist es so, dass jede militärische Aktion, wo Israel siegt – und muss siegen, weil sonst wird sie eliminiert, sozusagen -, aber jeder militärische Sieg lässt sie in eine schlechtere politische Lage. Schauen Sie, 1982 ist Israel auch in Libanon einmarschiert. Warum? Um Arafat und die PLO von Libanon wegzubekommen. Hat sie geschafft. Arafat und PLO sind nach Tunesien gekommen und waren weg. Was ist dann passiert? Es gab damals keine Hamas und es gab damals keine Hisbollah. Jetzt, nach diesem Sieg, wenn Sie wollen, haben wir Hisbollah und Hamas – viel schlimmer als Arafat und PLO. Und das ist die Spirale und das ist, was mir so Sorgen macht, weil ich sehe überhaupt kein langfristiges Denken von Israels Seite und ich sehe auch kein Verständnis für die Erzählung des anderen Volkes, nämlich palästinensischen Volkes. Und natürlich man kann, man soll auch, die andere Seite auch kritisieren und diese Gewalt ist absolut inakzeptabel und es ist inakzeptabel, dass Menschen heute noch infrage stellen, Israels Existenz infrage stellen. Absolut inakzeptabel. Aber so werden wir nicht eine Änderung bekommen.
Kassel: Herr Barenboim, als Dirigent, als Musiker wissen Sie besser als jeder andere, dass es auch in so einem Konflikt nicht nur um Vernunft und um Tatsachen und um Rechte geht, sondern auch um Gefühle. Bisher hat der aktuelle Krieg im Libanon 600 Todesopfer auf libanesischer Seite gefordert. Eigentlich weiß niemand, wie viele davon wirklich unschuldig sind und Zivilisten, weil man immer gar nicht genau weiß, wer ist Hisbollah und wer nicht. Aber dennoch: 600 Tote. Und Israel ist umgeben von arabischen Ländern. Wie lange, glauben Sie, wird das dauern, bis man das den israelischen Militäraktionen verziehen hat?
Barenboim: Wahrscheinlich nie. Wahrscheinlich nie. Deswegen sage ich, wir müssen - Israel ist in einer Zwickmühle, weil es kann sich nicht erlauben, eine militärische Aktion zu verlieren, auf der anderen Seite jeder Sieg bringt Israel in eine schwächere politische und moralische Position. Wir dürfen nicht vergessen: Das einzige Kapital des jüdischen Volkes über Jahrhunderte, jahrhundertelang, war dieses moralische Kapital. Und das ist jetzt wirklich zum größten Teil weg. Die Tatsache, dass man denken könnte, dass Israel beabsichtigt diese vier Vereinten-Nationen-Menschen getötet hat, wissend, dass sie da sind, dass man so was denken kann, zeigt, wie dieses moralische Kapital eigentlich verschwunden ist.
Kassel: Sie stecken in Sevilla mitten in der Vorbereitung der neuen Tournee des West-Eastern Divan Orchestra. Sie sind im vergangenen Jahr mit diesem Orchester in Ramallah aufgetreten. 1999 haben Sie das Orchester gegründet mit Edward Said, in Weimar, in der Absicht, hier ein Vorbild zu schaffen, hier zu zeigen, dass das geht: Israelis, Palästinenser, Menschen aus anderen arabischen Ländern arbeiten zusammen und verstehen sich miteinander. Ich glaube, dieser Auftritt in Ramallah, den es gegeben hat, der war ja damals schon schwer genug -, aber der wäre ja heute im Moment definitiv unmöglich.
Barenboim: Unmöglich.
Kassel: Unmöglich. Glauben Sie, dass - so schön die Musik ist mit diesem Orchester -, dass dieser Versuch zu beweisen, die Zusammenarbeit kann klappen, über das Orchester hinaus einfach gescheitert ist?
Barenboim: Wissen Sie, dieses Orchester war oft beschrieben, schmeichelhaft für uns, als Orchester für den Frieden. Das ist es nicht. Das kann es auch nicht sein. Weil Frieden ist etwas ganz anderes, als im Orchester zu spielen. Was dieses Orchester tun kann - und ich glaube, dass es das tut und vielleicht jetzt stärker als je -, ist, klarzumachen, dass wir brauchen Gleichheit, bevor wir miteinander können. Das heißt, wenn die Musiker im Orchester sitzen, sind alle gleich gegenüber einer Beethoven-Sinfonie, sie sind alle gleich. Es gibt nicht einen Unterschied, weil der eine Israeli, der andere Palästinenser und der Dritte Syrier ist. Das haben wir natürlich im reellen Leben in Nahost nicht. Und das ist die erste Voraussetzung, dass die Lage besser werden kann. Und dieses Orchester bringt deswegen als Beispiel eine kleine, wir sind wie eine kleine unabhängige Republik, wenn Sie wollen, wo wir andere Gesetze haben. Und eins von diesen Gesetzen heißt: Wenn du musizierst, sag, was du zu sagen hast musikalisch, und gleichzeitig hör, was der andere zu sagen hat. Und das ist die Botschaft von diesem Orchester.
Kassel: Daniel Barenboim, ich danken Ihnen für dieses Gespräch!
Barenboim: Danke schön!
Kassel: Daniel Barenboim war das, Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper und der Mitbegründer und Leiter des West-Eastern Divan Orchestra, das übrigens am 8. August seine diesjährige Tournee in Sevilla beginnt, am 20. August in Kairo auftritt und dann Ende August auch in Köln, Berlin und Weimar zu erleben ist.
Der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim wurde 1942 in Argentinien geboren. Im Alter von zehn Jahren zog er mit seinen Eltern nach Israel, wo er von da an aufwuchs, und Daniel Barenboim ist inzwischen in vielen Ländern der Welt zu Hause. Und er ist nicht nur Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper und einer der berühmtesten Dirigenten der Welt, sondern er ist auch ein politischer Mensch. Zusammen mit seinem Freund und dem Literaturwissenschaftler, aus Palästina stammenden Literaturwissenschaftler, Edward Said, der inzwischen leider verstorben ist, hat er 1999 das West-Eastern Divan Orchestra gegründet, ein Orchester, in dem junge Israelis und junge Araber aus verschiedenen Ländern zusammen Musik machen. Ein Orchester, mit dem er im vergangenen Jahr unter anderem in Ramallah aufgetreten ist. Und für dieses Jahr sind auf der bald beginnenden neuen Tournee Auftritte unter anderem in Kairo und später dann auch in drei Städten in Deutschland geplant. Und zurzeit probt Daniel Barenboim mit dem West-Eastern Divan Orchestra in Sevilla. Ein Orchester, in dem Musiker aus Israel und aus arabischen Ländern nebeneinander sitzen, sich einen Pult für ihre Noten teilen bei den Proben gerade im Moment, wie funktioniert das in der aktuellen Lage, Herr Barenboim?
Barenboim: Ja, das Schreckliche oder das Ironische, wenn Sie wollen, in dieser Geschichte ist, dass wenn es keinen Konflikt gäbe, wäre dieses Projekt total unnötig. Da könnte man sich treffen und ein Orchester machen, wo man wollte. Vielleicht ein Jahr in Kairo, ein Jahr in Damaskus oder in Tel Aviv, Jerusalem, egal. Das heißt, die Tatsache, dass dieser Konflikt es nicht erlaubt, in all diesen Ländern für alle zu sein, ist, macht es absolut dringend notwendig. Und deswegen, umso schlimmer die Lage, umso wichtiger ist das Projekt. Und die jungen Menschen, die hierher kommen und probieren, haben hier auf eine, in einer Weise, ich würde sagen, fast eine emotionale Oase, wenn man das so sagen kann. Weil sie sind doch mit Menschen von der Region, also sie erleben den Konflikt täglich, aber sind außerhalb und können mit den anderen dialogieren und musizieren.
Kassel: Das heißt, Sie versuchen nicht, jetzt bei den Proben – man muss dazu sagen, die Tournee beginnt mit dem Auftritt in Sevilla am 8. August, das heißt, Sie sind in einer anstrengenden Phase jetzt gerade -, das heißt, Sie haben nicht bei den Proben Gespräche über Politik und über den Konflikt verboten?
Barenboim: Doch, doch. Also abends schon, abends schon. Gestern waren wir bis zwei Uhr nachts, wir haben uns einen Film angeguckt, der nach dem Tod von Edward Said über ihn gedreht war, mit dieser ganzen Problematik. Und dann haben, sind viele von den Jungs geblieben, um mit seiner Witwe, mit Frau Said, mehrere Themen weiter zu besprechen - sowohl Israelis wie auch Palästinenser und Ägypter und alle möglichen, die waren alle da und alle interessiert und wir haben über dieses Thema gesprochen. Aber wissen Sie, ich bin nicht ein politischer Mensch, wie Sie gesagt haben. Und das ist kein politisches Projekt. Wenn ich das sage, die Menschen lächeln so, wie kann man so ein Projekt machen und denken, dass man ist nicht politisch. Wir sind nicht politisch, weil wir sind nicht beschäftigt hier mit Realpolitik oder was man tun oder was man nicht tun muss. Unsere einzige politische, wenn Sie wollen, Aussage sind zwei Dinge, an die wir fest glauben. Das war mit Edward Said so und bleibt so auch meine Haltung, nämlich es gibt keine militärische Lösung für diesen Konflikt – keine! Und das muss man wirklich dann bis zu Ende glauben und dabei agieren und nicht denken, wenn alles andere nicht geht, dann geht immer die militärische Lösung. Es gibt keine militärische Lösung für diesen Konflikt. Und es ist nicht ein Volk, sondern zwei Völker, die ein Recht haben auf dieses kleine Stückchen Land, das man entweder Israel oder Palästina nennt, und deswegen die Schicksale beider Völker sind untrennbar. Und wenn die Schicksale des palästinensischen oder israelischen Volkes sind untrennbar und es gibt keine militärische Lösung, heißt, wir müssen dringend eine politische Lösung finden für den Konflikt, weil entweder wir finden einen Weg, gemeinsam zu leben, oder wir zerstören uns gegenseitig.
Kassel: Sie sagen, dass es keine militärische Lösung gibt, dass wir einen anderen Weg finden müssen. Wir erleben jede Nacht, dass sowohl die israelische Regierung als auch sowohl die Hamas im Gaza-Streifen als auch die Hisbollah im Südlibanon das offenbar im Moment ganz anders sehen. Wer könnte denn alle beteiligten Parteien sobald wie möglich davon überzeugen, von dieser militärischen Lösung wieder abzurücken?
Barenboim: Die internationale Gemeinschaft. Anders geht es nicht. Die Europäische Union, würde ich sagen. Das ist absolut notwendig. Aber man muss, wissen Sie, man darf nicht vergessen: Wir leben in dieser Geschichte schon seit der Gründung des Staates Israel, also das ist fast 60 Jahre und auch noch davor. Also es ist jetzt dringend wirklich, dass alle Beteiligten wirklich zusammensitzen und das begreifen und akzeptieren und dass sie von diesem Zimmer nicht wegkommen, bis sie die Lösung gefunden haben – mit Hilfe von den Europäern.
Kassel: Nun traut sich aber sowohl die Europäische Union als auch die Vereinten Nationen, die trauen sich nicht - beziehungsweise bei den Vereinten Nationen können sie nicht wegen des Vetos der USA -, sie trauen sich nicht, Israel im Moment zu verurteilen und wirklich zu sagen: Dieses Recht auf Selbstverteidigung besteht, aber es darf nicht in diesem Ausmaß zu Konflikten führen. Halten Sie das für feige? Sollten die EU und auch die Vereinten Nationen sich auch trauen, das israelische Verhalten deutlicher anzuprangern?
Barenboim: Wissen Sie, man sagt, man fragt in den letzten Wochen so oft: Geht Israel zu weit? Ich glaube, dass das nicht die richtige Frage ist. Die richtige Frage ist: Geht Israel den richtigen Weg? Und das kann man nicht natürlich auf einen bestimmten Tag oder eine bestimmte Aktion legen, sondern von Anfang an. Die einzige Sicherheit für Israel ist, akzeptiert zu werden, zu sein von den Nachbarn. Die Vereinigten Staaten und alle anderen Partner werden das nicht geben. Das ist die einzige langfristige Sicherheit für Israel, ist wirklich, akzeptiert zu sein. Deswegen ist es so, dass jede militärische Aktion, wo Israel siegt – und muss siegen, weil sonst wird sie eliminiert, sozusagen -, aber jeder militärische Sieg lässt sie in eine schlechtere politische Lage. Schauen Sie, 1982 ist Israel auch in Libanon einmarschiert. Warum? Um Arafat und die PLO von Libanon wegzubekommen. Hat sie geschafft. Arafat und PLO sind nach Tunesien gekommen und waren weg. Was ist dann passiert? Es gab damals keine Hamas und es gab damals keine Hisbollah. Jetzt, nach diesem Sieg, wenn Sie wollen, haben wir Hisbollah und Hamas – viel schlimmer als Arafat und PLO. Und das ist die Spirale und das ist, was mir so Sorgen macht, weil ich sehe überhaupt kein langfristiges Denken von Israels Seite und ich sehe auch kein Verständnis für die Erzählung des anderen Volkes, nämlich palästinensischen Volkes. Und natürlich man kann, man soll auch, die andere Seite auch kritisieren und diese Gewalt ist absolut inakzeptabel und es ist inakzeptabel, dass Menschen heute noch infrage stellen, Israels Existenz infrage stellen. Absolut inakzeptabel. Aber so werden wir nicht eine Änderung bekommen.
Kassel: Herr Barenboim, als Dirigent, als Musiker wissen Sie besser als jeder andere, dass es auch in so einem Konflikt nicht nur um Vernunft und um Tatsachen und um Rechte geht, sondern auch um Gefühle. Bisher hat der aktuelle Krieg im Libanon 600 Todesopfer auf libanesischer Seite gefordert. Eigentlich weiß niemand, wie viele davon wirklich unschuldig sind und Zivilisten, weil man immer gar nicht genau weiß, wer ist Hisbollah und wer nicht. Aber dennoch: 600 Tote. Und Israel ist umgeben von arabischen Ländern. Wie lange, glauben Sie, wird das dauern, bis man das den israelischen Militäraktionen verziehen hat?
Barenboim: Wahrscheinlich nie. Wahrscheinlich nie. Deswegen sage ich, wir müssen - Israel ist in einer Zwickmühle, weil es kann sich nicht erlauben, eine militärische Aktion zu verlieren, auf der anderen Seite jeder Sieg bringt Israel in eine schwächere politische und moralische Position. Wir dürfen nicht vergessen: Das einzige Kapital des jüdischen Volkes über Jahrhunderte, jahrhundertelang, war dieses moralische Kapital. Und das ist jetzt wirklich zum größten Teil weg. Die Tatsache, dass man denken könnte, dass Israel beabsichtigt diese vier Vereinten-Nationen-Menschen getötet hat, wissend, dass sie da sind, dass man so was denken kann, zeigt, wie dieses moralische Kapital eigentlich verschwunden ist.
Kassel: Sie stecken in Sevilla mitten in der Vorbereitung der neuen Tournee des West-Eastern Divan Orchestra. Sie sind im vergangenen Jahr mit diesem Orchester in Ramallah aufgetreten. 1999 haben Sie das Orchester gegründet mit Edward Said, in Weimar, in der Absicht, hier ein Vorbild zu schaffen, hier zu zeigen, dass das geht: Israelis, Palästinenser, Menschen aus anderen arabischen Ländern arbeiten zusammen und verstehen sich miteinander. Ich glaube, dieser Auftritt in Ramallah, den es gegeben hat, der war ja damals schon schwer genug -, aber der wäre ja heute im Moment definitiv unmöglich.
Barenboim: Unmöglich.
Kassel: Unmöglich. Glauben Sie, dass - so schön die Musik ist mit diesem Orchester -, dass dieser Versuch zu beweisen, die Zusammenarbeit kann klappen, über das Orchester hinaus einfach gescheitert ist?
Barenboim: Wissen Sie, dieses Orchester war oft beschrieben, schmeichelhaft für uns, als Orchester für den Frieden. Das ist es nicht. Das kann es auch nicht sein. Weil Frieden ist etwas ganz anderes, als im Orchester zu spielen. Was dieses Orchester tun kann - und ich glaube, dass es das tut und vielleicht jetzt stärker als je -, ist, klarzumachen, dass wir brauchen Gleichheit, bevor wir miteinander können. Das heißt, wenn die Musiker im Orchester sitzen, sind alle gleich gegenüber einer Beethoven-Sinfonie, sie sind alle gleich. Es gibt nicht einen Unterschied, weil der eine Israeli, der andere Palästinenser und der Dritte Syrier ist. Das haben wir natürlich im reellen Leben in Nahost nicht. Und das ist die erste Voraussetzung, dass die Lage besser werden kann. Und dieses Orchester bringt deswegen als Beispiel eine kleine, wir sind wie eine kleine unabhängige Republik, wenn Sie wollen, wo wir andere Gesetze haben. Und eins von diesen Gesetzen heißt: Wenn du musizierst, sag, was du zu sagen hast musikalisch, und gleichzeitig hör, was der andere zu sagen hat. Und das ist die Botschaft von diesem Orchester.
Kassel: Daniel Barenboim, ich danken Ihnen für dieses Gespräch!
Barenboim: Danke schön!
Kassel: Daniel Barenboim war das, Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper und der Mitbegründer und Leiter des West-Eastern Divan Orchestra, das übrigens am 8. August seine diesjährige Tournee in Sevilla beginnt, am 20. August in Kairo auftritt und dann Ende August auch in Köln, Berlin und Weimar zu erleben ist.