Barney Norris: "Die Jahre ohne uns"

Als das Wünschen noch geholfen hat

06:21 Minuten
Buchcover von Barney Norris „Die Jahre ohne uns” vor Deutschlandfunk Kultur Hintergrund.
Am Ende reibt man sich die Augen, denn die Liebe siegt. © Dumont / Deutschlandradio
Von Manuela Reichart |
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Was für ein berückender Roman. Barney Norris' "Die Jahre ohne uns" nimmt uns mit auf eine Liebesreise zwischen Raum und Zeit. Dabei beginnt es ganz alltäglich: Eine Frau und ein Mann treffen sich in einer Bar und kommen miteinander ins Gespräch.
Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Ein wahres Leben, das nicht gelebt werden konnte? Der Stimme einer älteren Frau gehört der erste Teil dieses ungewöhnlichen Romans. Sie sinniert über ihren trostlosen Alltag, über vergangene Träume und Begegnungen. Es geht um ihre Angst, ihren anstehenden Besuch beim Therapeuten, um ihr Frühstück und den kleinen Garten. Der ist das einzige Glück in ihrem Leben. Werden das Geißblatt und die Rose den Winter überstehen? Sie schaut zurück auf "beinahe siebzig Jahre voller Träume, die kamen und gingen, immer weitere Geburtstage, die sich kriechend nähern, während ich unaufhaltsam zu der alten Frau werde, die zu werden ich niemals gedacht hatte".

Abenteuer und Körperwandlungen

Der große Plan ihres Lebens, eine Enzyklopädie zu schreiben aller Wörter, in die sie sich jemals verliebt hatte, ist gescheitert, auch wenn wir hier Auszüge aus diesem nicht zustande gekommenen Werk lesen: etwa "Äpfel", "Blätter", "Latein" "Musik". Man lässt sich bei der Lektüre fasziniert auf diesen Assoziationsstrom ein, diesen Stichworten eines "kleinen Lebens", folgt den biografischen Spuren, in denen der verlorene Vater eine wichtige Rolle spielt, ein Ehemann, mit dem sie beim Sex Musik hörte. Es geht um die grundlegende Frage, wie zuverlässig die Erinnerungen, was "Deckerinnerungen" sind.
Dann verlässt die Icherzählerin das Haus, steigt ins Auto und kehrt schließlich auf einen Drink in einer Hotelbar ein. Hier trifft die Protagonistin auf einen alten Mann, der ihr seine Lebensgeschichte erzählt, die so seltsam und märchenhaft ist, dass sie zwischen Unglauben und Staunen schwankt. Und wir mit ihr.
Ihren Ausgang nimmt die Geschichte nach einem Ehestreit, den der Mann bereuen und über den er immer und immer wieder nachdenken wird. In romantischer Erzähltradition führt sie durch Abenteuer und Körperwandlungen, wie im Fliegenden Holländer wird er zum rastlosen Reisenden, den am Ende – wie bei Richard Wagner oder James Mason im Hollywoodfilm der 1950er-Jahre – nur die Liebe einer Frau erlösen kann.

Spukgeschichte und Kriminalfall

Barney Norris ist Jahrgang 1987. Das ist erwähnenswert, weil er nicht nur mit absoluter Souveränität seine Erzählstränge zusammenführt, vor allem versetzt er sich eindrucksvoll in die Gedanken und Enttäuschungen einer alten Frau und verbindet die literarische Tradition des Märchens und der Mythen mutig mit einer modernen Geschichte des Scheiterns.
Am Ende reibt man sich ziemlich beglückt die Augen. Das kleine Leben bekommt ein großes Finale und die Liebe siegt. Wie die alte Frau anhand ihrer Lieblingswörter ihre Biografie auffächert, hat der alte Mann seine Abenteuer zu einer großen Genre-Enzyklopädie zusammengefügt: Von der Spukgeschichte über den Kriminalfall bis zur realistischen Erzählung bewegt sich seine Lebenssuche nach dem verlorenen Glück.
Dass das Wünschen helfen kann, ist heute kein sicherer Erzähltopos mehr, aber hier löst sich das alte Märchenmotiv aufs Beste ein. Und das Interessanteste an dieser alten Form, die hier mutig variiert wird, ist die Gegenwärtigkeit, in die Barney Norris sie überführt. Über alle Zeiten hinweg gilt jedenfalls: dass das Erzählen helfen kann.

Barney Norris: "Die Jahre ohne uns"
Aus dem Englischen von Johann Christoph Maass
Dumont Verlag, Köln, 2021
270 Seiten, 22 Euro

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