Barockes Kunstgenie

Von Michael Stegemann |
Vielleicht war Wilhelm Friedemann Bach tatsächlich der Lieblingssohn des großen Johann Sebastian - vielleicht auch der Begabteste. Doch der Älteste des Thomaskantors, der heute vor 300 Jahren geboren wurde, glitt nach frühen Erfolgen mehr und mehr in einen zerrütteten Lebenswandel ab.
Weimar, 1710. Seit zwei Jahren steht der 25-jährige Johann Sebastian Bach als Hoforganist in den Diensten des Herzogs Wilhelm Ernst von Sachsen Weimar.

Er hat schon eine Tochter – Catharina Dorothea –, als ihm seine Frau Maria Barbara am 22. November den ersten Sohn schenkt, der auf den Namen Wilhelm Friedemann getauft wird. Bis 1742 werden (aus zwei Ehen) 18 weitere Kinder folgen, aber...

"Dies ist der Sohn, den ich liebe, der mir Freude macht."

Wilhelm Friedemann Bach erhält eine gründliche musikalische Ausbildung vom Vater, der eigens für ihn ein Clavier-Büchlein anlegt. Einige der Stücke soll der Zehn-, Elf-Jährige selbst komponiert haben.

Wilhelm Friedemann Bach besucht die Lateinschule in Köthen, wird Thomas-Schüler in Leipzig, wo er dann auch das Studium der Rechte, der Mathematik und der Philosophie aufnimmt, 1733 wird er Organist an der Dresdner Sophienkirche – eine "Bilderbuch-Karriere", zumal sein Orgelspiel Sensation macht, wie etwa Christian Friedrich Daniel Schubart bezeugt:

"Er ist unstreitig der größte Organist der Welt! Er ist ein Sohn des weltberühmten Sebastian Bachs, und hat seinen Vater im Orgelspiel erreicht, wo nicht übertroffen."

Im Frühjahr 1746 wechselt der mittlerweile 35-Jährige von Dresden nach Halle, an die St. Marienkirche. Er komponiert fleißig in allen möglichen Gattungen: Kirchenmusik, Konzerte, Sinfonien, Klavierwerke. Dann aber beginnt Wilhelm Friedemanns Leben, aus dem Ruder zu laufen ...

Was ihm zum Verhängnis wird, sind – wie es in einer frühen Biografie heißt –

"Sein roher Sinn, sein starrer Künstlerstolz, seine ungeheure Zerstreutheit und sein mürrisches, zanksüchtiges Wesen, das im Trunke, dem er ergeben war, alle
Rechte jeder Bürgerlichkeit und Ordnung verletzt."

Als er 1764 seine Stelle in Halle von heut' auf morgen kündigt, hat Wilhelm Friedemann Bach noch 20 Jahre zu leben. Alle Versuche, eine neue Anstellung zu finden, scheitern – nicht zuletzt wohl auch an seinem schlechten Ruf:

"Sonderbares Betragen, unanständiger [Lebens-]Wandel und Eigensinn in Amts Verrichtungen."

Er schlägt sich durch – von Halle nach Braunschweig Göttingen, Wolfenbüttel und Berlin, wo er zeitweise von Anna Amalia protegiert wird, der Schwester Friedrichs des Großen, und wo er am 1. Juli 1784 stirbt: Verbittert, verarmt, fast schon vergessen.
1858 wird der Künstler-Roman "Wilhelm Friedemann Bach" von Albert Emil Brachvogel das Bild des ältesten Bach-Sohnes für die nächsten 100 Jahre prägen: Ein zerrüttetes Genie, ein labiler Alkoholiker, ein Gescheiterter. Und seine Musik?

"Als Komponist hatte er den tic douloureux, original zu sein, sich vom Vater und [den] Brüdern zu entfernen, und geriet darüber ins Pritzelhafte, Kleinliche, Unfruchtbare."

Schreibt Carl Friedrich Zelter, der bei Wilhelm Friedemann Bach studiert hatte, 1829 an Goethe. Heute dagegen wissen wir, dass seine Musik zum Originellsten gehört, was in jener Zeit geschaffen wurde.

Vielleicht war Wilhelm Friedemann wirklich der Begabteste, Eigenwilligste, Genialste der komponierenden Bach-Söhne – doch jedenfalls zu früh geboren, um in seiner Zeit als "freier" Musiker leben zu können, und zu unbequem, um erkannt und anerkannt zu werden.