Geld abheben ist für Blinde fast unmöglich
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Ob Ticketautomat oder E-Banking: Bis 2025 müssen digitale Produkte in Europa barrierefrei sein. Der Behindertenbeauftragte Jürgen Dusel glaubt, dass das nur schwer zu schaffen sei. Gerade im privaten Bereich sei Deutschland noch nicht inklusiv.
In der EU leben etwa 87 Millionen Menschen über 16 Jahren mit einer Behinderung. Das bedeutet: Fast jeder Fünfte in der Europäischen Union ist davon betroffen, wenn die Gesellschaft nicht inklusiv und barrierefrei gestaltet ist. Der erste "European Inclusion Summit" macht auf diese Benachteiligung aufmerksam. Eingeladen zu dem Treffen hat Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung.
Dusel setzt sich für eine entschlossene Umsetzung des "European Accessibility Acts" ein, der den gleichen Zugang aller Menschen zu öffentlichen und privaten Gütern und Dienstleistungen sichern soll. Was das konkret bedeutet, erklärt Dusel an einem Beispiel: "Jeder Geldautomat in Deutschland funktioniert irgendwie anders", sagt Dusel. Mal müsse zuerst die Sprache ausgewählt, mal zunächst die PIN und mal zuerst der gewünschte Geldbetrag eingegeben werden. Für Menschen mit hoher Sehbehinderung sei es daher fast unmöglich, einen Geldautomaten zu benutzen. Und das, obwohl sich Barrierefreiheit mit einer akustischen Menüführung leicht herstellen ließe.
Blinde und sehbehinderte Menschen könnten so in demütigende Situationen geraten, etwa, wenn ihre Karte vom Geldautomaten immer wieder ausgespuckt und die Schlange hinter ihnen immer länger werde. "Das führt dazu, dass die Leute nicht mehr selbst Geld abheben, sondern andere bitten, das für sie zu tun. Und Selbstbestimmung geht eben anders."
Digitale Barrierefreiheit bis 2025
Bis spätestens Sommer 2025 müssen digitale Güter barrierefrei sein - neben dem Geldautomaten also beispielsweise auch Ticketautomaten und E-Banking. "Das werden wir wahrscheinlich nur schwer schaffen", glaubt Dusel. Bei Inklusion gehe es aber natürlich um mehr, betont er: Menschen mit Behinderung wollen auch ins Kino und ins Theater, in ein Hotel oder in eine Arztpraxis gehen.
"Wenn Sie beispielsweise ab morgen auf einen Rollstuhl angewiesen wären, können Sie dann noch alle Ihre Freunde besuchen in deren Wohnung? Kommen Sie dann noch in die Kneipe rein?"
Nachholbedarf im privaten Bereich
In Deutschland sei die Barrierefreiheit vor allem im öffentlichen Bereich vorangetrieben worden, so Dusel, also zum Beispiel: "Kommen Leute mit dem Rollstuhl ins Rathaus? Kann man mit der Verwaltung in Gebärdensprache kommunizieren? Aber gerade im privaten Bereich müssen wir wirklich noch besser werden."
Dusel fordert außerdem einen Europäischen Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen: Denn sehr viele Entscheidungen würden nicht mehr national, sondern auf europäischer Ebene getroffen.
(jfr)