"In diesem Film war Miami der Protagonist"
Dass "Moonlight" den Oscar für den besten Film gewinnen würde, damit hatte Regisseur Barry Jenkins überhaupt nicht gerechnet: "Visuell und von der Erzählform her ist der Film unkonventionell, da war nichts auf einen Gewinnerfilm hin angelegt."
André Hatting: Die meisten Oscars hat das Musical "LaLa Land" bekommen, den wichtigsten aber nur für ein paar Minuten. Dann war klar: Da wurden irgendwie die Umschläge vertauscht. Das hat viel Häme in den sozialen Netzwerken ausgelöst. Unsere Onlineredaktion hat dazu Videos und Tweets zusammengestellt.
Zum besten Film des Jahres hat die Filmakademie "Moonlight" gekürt, die Geschichte eines im Armenviertel aufwachsenden, homosexuellen Afroamerikaners. Meine Kollegin Susanne Burg ist bei mir im Studio. Sie haben den Regisseur des Films, Barry Jenkins, noch vor der Oscarnacht getroffen. Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?
Susanne Burg: Er ist ein unglaublich wacher, präziser, charismatischer Mensch. Ich habe ihn zwischen den Golden Globes und den Vorbereitungen zu den Oscars getroffen, Ende Januar. Er hatte zu dem Zeitpunkt schon ein Dutzend Preise in der Tasche, der renommierteste davon war wohl der Golden Globe für den besten Film in der Kategorie "Drama".
Und er konnte den ganzen Trubel um seinen Film noch gar nicht so richtig glauben, denn Barry Jenkins ist ja in dem Sinne kein etablierter Filmemacher. Er hat zwischendurch immer wieder als Tischler gearbeitet, um Geld zu verdienen.
"Moonlight" ist erst sein zweiter Spielfilm, für amerikanische Verhältnisse quasi ohne Geld gedreht, mit 1,5 Millionen US-Dollar. Ein Film, der konsequent in einer schwarzen Gegend von Miami spielt, wo kein einziger weißer Schauspieler auftaucht. Und dass der sich so ins öffentliche Bewusstsein in den USA geschraubt hat, ist schon bemerkenswert.
Und deswegen habe ich ihn als erstes auch gefragt: Als er Moonlight im letzten Jahr fertig gestellt hat, ob er damit gerechnet hat, dass der Film schon ein paar Monate später Dutzende von Preisen und Nominierungen erhalten würde.
"Visuell unkonventionell"
Barry Jenkins: Nein. Ganz sicher nicht. Als Künstler bin ich erstmal davon ausgegangen, dass meine Mutter und meine Freunde den Film aus purem Pflichtgefühl sehen würden. Darüber hinaus weiß man nie, wer das Publikum sein wird. Wir haben den Film ja auch nicht gemacht, damit er Preise gewinnt.
Visuell und von der Erzählform her ist der Film unkonventionell, da war nichts auf einen Gewinnerfilm hin angelegt. Mir ging es in dem Film einfach darum, eine ehrliche Darstellungsform davon zu finden, wie mein Leben verlaufen ist, und jetzt dafür all diese Nominierungen und Preise zu bekommen, freut uns natürlich sehr.
Susanne Burg: Moonlight ist eine Coming-of-Age Geschichte, die in drei Kapiteln mit drei Schauspielern erzählt wird. Es ist die Geschichte von Chiron, der sich als Außenseiter fühlt, anders als die anderen, dort, wo er lebt, in Liberty City, einer armen, schwarzen Gegend in Miami. Sie haben mit dem Autor Tarell Alvin McCraney gearbeitet, der wie Sie selber auch aus Liberty City kommt und auch die Schauspieler kommen aus dieser Gegend. Wie entscheidend war diese persönliche Erfahrung und wie bedeutend war sie für den Film?
"Das Bewusstsein ist etwas anderes als ein Plot"
Barry Jenkins: Ich denke, dass das extrem ausschlaggebend war. In diesem Film war Miami der Protagonist. Es war sehr befreiend, sich etwas vorstellen zu können und dabei genau zu wissen, was das ist, wie es aussieht und wie es sich anfühlt. Der Grund, warum der Film visuell den Erwartungen trotzt, liegt darin, dass er im Bewusstsein der beiden Protagonisten und in mir selber verwurzelt ist. Und das Bewusstsein ist etwas anderes als ein Plot. Das Bewusstsein versetzt einen in die Lage, Dinge visuell umzusetzen, die wir sonst nur fühlen können.
Susanne Burg: Chiron ist in einer von Drogen geprägten Gegend aufgewachsen. Seine Mutter war Crack-süchtig, und er wird selber zum Drogendealer. Chirons Vater ist nicht da. Die Geschichte spielt auf dem Höhepunkt der Crack-Epidemie Ende der 80er-Jahre. Die Crack-Sucht, die Abwesenheit der Väter, die sozio-ökonomischen Probleme, der Mangel an Chancen scheinen dennoch sehr aktuell zu sein. Diese Zeitlosigkeit zeigt auch, dass sich nichts wirklich verändert hat – war das Absicht oder eher ein Nebeneffekt?
Barry Jenkins: Das war auf jeden Fall meine Absicht. Zeitlos ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber ich wollte, dass der Film auch in fünf Jahren noch relevant ist. Es gibt diese Doku über James Baldwin von Raoul Peck "I am not your negro", da sieht man Baldwin vor 40-50 Jahren sprechen und alles, was er sagt, fühlt sich an, als spräche er von heute. Es ist so wahr. Ich wollte auch einen Film machen, der wahr, ehrlich und aufrichtig ist.
Susanne Burg: Als Sie an dem Film gearbeitet haben, war das noch die Zeit der Obama-Administration. Jetzt kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob unter der neuen Regierung mit einem Präsidenten, der bestimmte Rassentrennungen in den USA einfach leugnet, dieser Film nicht auch ein Zeugnis einer Realität ist, die der Präsident verneint und ob man den Film heutzutage nicht auch mit anderen Augen sehen sollte.
Es gibt mehr als nur ein Amerika
Barry Jenkins: Der Film ist in den USA am 21. Oktober letzten Jahres rausgekommen, also noch drei bis vier Wochen vor den Wahlen. Was ich in der Tat bemerkt habe, war, dass die Leute zwar schon sehr offen für den Film waren, als er herauskam – zur Wahl wurde er aber zu einer Art Symbol, für etwas, was den Menschen wichtig war, nämlich die Tatsache, dass es mehr als nur ein Amerika gibt.
Dieser Junge, der Star unseres Films, ist genauso amerikanisch wie alle andern Amerikaner auch und seine Geschichte ist genauso wert erzählt zu werden, wie die jedes anderen. Wir versuchen uns selbst gegenüber zu bestätigen, dass die USA ein offener Ort sind, dass wir alle unsere Bürger unterstützen werden. Es wird interessant werden zu sehen, wie die Kunst den Zustand des Landes in den nächsten vier Jahren reflektieren wird.
Susanne Burg: Wenn Sie ein paar Jahre vorspulen würden, was glauben Sie: Wird die Debatte über die weißen Oscars nicht mehr existieren?
Barry Jenkins: Ja, das hoffe ich. Wenn ich an "Oscars so white" denke, stelle ich mir vor, wie man eine Zusammenfassung meines Films liest, eine Coming-of-Age Geschichte über einen armen schwarzen Jungen, der mit seiner sexuellen Identität und seiner drogensüchtigen Mutter zu kämpfen hat. Da glaubt man doch gleich zu wissen, worum der Film geht, und sagt sich: "Den muss ich nicht sehen, das ist nichts für mich".
Aber wegen "Oscars so white" sagt man sich jetzt vielleicht, normalerweise würde ich denken, ich weiß schon, was für ein Film das ist, aber jetzt gucke ich ihn mir vielleicht an. Und dann sieht man den Film und sagt sich: "Oh, es ist gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe".
Ich hoffe also, dass es irgendwann unnötig wird, und ich denke das wird in zweierlei Hinsicht passieren: einmal werden die Leute sich daran gewöhnen, Geschichten zu sehen von Leuten, die nicht so sind wie sie selber, und es wird immer mehr starke Werke geben, die man einfach nicht ignorieren kann.
André Hatting: Barry Jenkins, der Regisseur von "Moonlight". Er ist ja erst 37 Jahre alt. Der Oscar, sein größter Erfolg. Geht es denn jetzt so richtig los mit der Karriere?
Susanne Burg: Er arbeitet derzeit an drei Projekten: an einer Comic-Buch-Verfilmung, an einem Film über Amerikas erste Olympia-Goldemaillistin, Claresse T-Rex Shields, und an einer Verfilmung von Colson Whiteheads Roman "The Underground Railroad" – einer Sklavengeschichte. Als Tischler wird er fürs erste wohl nicht mehr arbeiten müssen.