Bartholomäus Grill, "Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe. Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte"
Siedler Verlag, 2019, 304 Seiten, 24 Euro
"Ein Schritt weg vom Herrenmenschentum"
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Der langjährige Afrika-Korrespondent Bartholomäus Grill beschäftigt sich in seinem Buch "Wir Herrenmenschen" mit der deutschen Kolonialgeschichte. Er sagt: Alle Klischees und Zerrbilder von Afrika brechen im Rahmen der Migrationsdebatte wieder durch.
Axel Rahmlow: Hast du Lust zu sterben – das hat mich vor gut zehn Jahren jemand aus meiner Familie gefragt, als ich angekündigt habe, eine kurze Auszeit zu nehmen, um eine Weile durch Westafrika zu reise. Denn mit dem Stichwort Afrika, da verbinden wir ganz schnell Krise, Kriege, Krankheiten, Hunger, Flüchtlinge, Armut. Aktuell sehen wir die Überschwemmungen in Mosambik, wir sehen Ebola im Kongo, wir sehen in vielen Ländern staatliches Versagen und Menschen ohne Sicherheit und ohne vermeintliche Zukunft.
Der Journalist Bartholomäus Grill sagt in seinem neuen Buch, das sind Klischees, und dass sie so weitverbreitet sind, das liegt maßgeblich an unserer kurzen, aber prägenden Geschichte als Kolonialmacht während der Zeit des Kaiserreichs. "Wir Herrenmenschen" heißt das Buch, "Unser rassistisches Erbe. Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte". Er stellt es auf der Buchmesse in Leipzig vor. – Herr Grill, wie heißt der höchste Berg Deutschlands?
Grill: Früher hieß das Kaiser-Wilhelm-Spitze, gemeint ist damit der Kilimandscharo an der Grenze zwischen Kenia und Tansania, ehemaliges deutsches Kolonialgebiet, Kolonie Deutsch-Ostafrika.
Vater wie Großvater trauerten der Kolonialzeit nach
Rahmlow: Heute heißt er Zugspitze. Sie erzählen diese Geschichte in Ihrem Buch gleich zu Beginn. Da geht es um eine Diskussion mit Ihrem Vater. Was war das für eine Diskussion?
Grill: Der Vater hat wie mein Großvater unter dem Verlust der Kolonien gelitten. Die deutschen Kolonien wurden dem Reich ja entzogen, 1919 mit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Das empfand sowohl der Großvater als auch später mein Vater als eine Art Phantomschmerz, eine Demütigung. Deutschland war kein Weltreich mehr, stand ohne Kolonien da, und er hat immer davon geträumt, dass Hitler diese Kolonien zurückerobert, und deswegen hat er uns nach dem Krieg auch immer noch sehr nostalgisch erzogen in dem Geiste der Kolonialzeit. Deswegen war der höchste Berg für uns eben die Kaiser-Wilhelm-Spitze und nicht die Zugspitze.
Rahmlow: Der Titel Ihres Buches ist "Wir Herrenmenschen". Jetzt ist die deutsche Kolonialzeit seit gut 100 Jahren, seit eigentlich ziemlich genau 100 Jahren vorbei. Die letzten ehemaligen Kolonien sind seit gut 50 Jahren unabhängig. Wie viel Wahrheit steckt da noch in Ihrem Titel "Wir Herrenmenschen", wenn Sie das vergleichen, damals, als Sie ein Kind waren, und heute?
Grill: Es hat sich nicht viel geändert. Alle Klischees, Zerrbilder, Vorstellungen, die wir uns von Afrika machen, sind gleichgeblieben, und im Rahmen der Migrationsdebatte brechen sie alle wieder durch. Also, wenn wir uns vergegenwärtigen, vor 100 Jahren, in der Kolonialzeit, wurden diese Klischees geprägt vom unterlegenen Afrikaner, von den minderwertigen Schwarzen und vom weißen Herrenmenschen, der die Afrikaner auf eine höhere Kulturstufe hebt. So wurde der Kolonialismus gerechtfertigt. Diese Klischees und Zerrbilder und diese Einstellungen, diese rassistischen Grundeinstellungen waren immer da, subkutan sozusagen. Jetzt brechen sie wieder durch, wenn man sich ansieht, wie die AfD argumentiert, die Bewegung der Identitären, der Rechtsradikalismus. Da kommen alle diese Geschichten über den Neger, sogenannten Neger, über die Minderwertigkeit wieder durch.
Rahmlow: Aber Herr Grill, in diesen Ländern, in den vielen verschiedenen Ländern Afrikas sind ja mittlerweile ganz andere Regierungen an der Macht, die verantwortlich sind für die vielen Probleme.
Der globle Süden ist immer noch benachteiligt
Grill: Ja, natürlich, aber der Kolonialismus hat bestimmte Strukturen geschaffen, die bis heute nachwirken. Wenn wir uns zum Beispiel die Ungleichheit in der Weltwirtschaftsordnung ansehen, dann wurde diese Struktur grundgelegt in der Kolonialzeit. Das heißt, die Kolonien liefern Rohstoffe, die Wertschöpfung findet anderswo statt. Man kann auch sagen, der globale Süden wird ausgebeutet, und das ist nach wie vor so.
Rahmlow: Mir fällt bei diesem Gedanken immer ein, wie oft ich Post von Hilfsorganisationen bekomme, die um Spenden bitten und die auch mit Geschichten von verzweifelten Menschen werben, die Hilfe brauchen. Das sind ja Menschen, die meinen es eigentlich gut mit den afrikanischen Ländern. Wie würde es besser gehen?
Grill: Das ist eine schwierige Frage. Ich meine, grundsätzlich ist ja nichts gegen Hilfe zu sagen, humanitäre Hilfe wie jetzt bei den großen Überschwemmungen in Mosambik und Zimbabwe. Das ist sozusagen auch unsere moralische Pflicht. Es geht darum, was sozusagen Entwicklungshilfe bewirkt oder auch nicht bewirken kann. Die Kritiker der Entwicklungshilfe sagen ganz klar, sie entmündigt die Menschen auch. Sie lähmt die Eigeninitiative, und sie entlastet unser Gewissen. Wir tun ja was, wir spenden Altkleider und so weiter und schicken das nach Afrika und fühlen uns als gute Menschen.
Rahmlow: Ja, aber was könnten wir stattdessen tun, was auch, wenn ich Sie richtig verstehe, aus Ihrer Sicht nachhaltiger wäre?
Afrika als Partner auf Augenhöhe begreifen
Grill: Zum Beispiel, wenn der deutsche Mittelstand in Afrika richtig investieren würde, wäre mehr geholfen, weil dann Arbeitsplätze geschaffen werden. Wir könnten viel stärker einsteigen in Kooperation und Austausch, Universitäten, in der Bildungspolitik. Das sind die eigentlichen Felder. Wenn Afrika zukunftsfähig werden soll, was einige Länder übrigens schon sind, aber wenn der Kontinent einen Aufschwung nehmen soll, dann müssen wir da ganz anders rangehen und Afrika als Partner auf Augenhöhe sehen und dann aber auch richtig, so etwa wie das China macht. So reingehen nach Afrika.
Rahmlow: Wie macht das China? Mit sehr viel Geld, aber da geht es ja auch um handfeste chinesische Interessen und nicht so sehr um Afrika, oder?
Grill: Chinesen stellen das als Win-win-Situation dar, aber es ist so, dass noch keine Außenmacht so viel Infrastrukturprojekte geschaffen hat, so viele Krankenhäuser gebaut hat. Das hat seine positiven Seiten. Die negativen Seiten ist natürlich, dass sich China Rohstoffe unter den Nagel reißt, dass sie die Märkte erobern, die Absatzmärkte Afrikas und dass sie manchmal auch sehr rassistisch auftreten. Aber unterm Strich ist das durchaus segensreich, was China in Afrika bewirkt.
Rahmlow: Wir in Deutschland diskutieren immerhin über die Rückführung von Kulturobjekten, von Kunstobjekten, die im Rahmen der Kolonialzeit nach Deutschland gekommen sind, viele von ihnen gestohlen. Da gibt es ja mittlerweile ein Bewusstsein dafür, dass da sehr viel Unrecht geschehen ist und eine Debatte auch darüber, was zurückgegeben werden muss. Ist das ein Schritt weg von diesem Herrenmenschentum?
Grill: Das ist auf jeden Fall einen Schritt weg von Herrenmenschentum, aber es hat lange gedauert, ehe sich diese Einsicht durchgesetzt hat. Also ich erinnere mich, vor zehn Jahren, wenn man mit Direktoren von Völkerkundemuseen sprach, dann war die Angst groß, dass Rückgabeforderungen gestellt werden und dass am Ende, wenn man dem nachgibt, dass unsere ganzen Museen leer sind. Mittlerweile hat man begriffen, dass diese kolonialen Raubgüter den ehemaligen Kolonien gehören und dass wir sie natürlich zurückgeben müssen, und zwar ersatzlos.
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