Baudenkmäler

Das Scharfrichterhaus zieht um

10:36 Minuten
Auf einem Balken einer Hausfassade ist die Jahreszahl 1790 zu lesen.
1790: Das Scharfrichterhaus hat eine lange Geschichte. © Deutschlandradio / Iris Milde
Von Iris Milde |
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Was tun, wenn ein altes Fachwerkhaus unter Denkmalschutz nicht an seinem ursprünglichen Platz stehen bleiben kann? Abbauen und wieder aufbauen! Wie das funktioniert, ist gerade im sächsischen Neschwitz zu beobachten.
Das erste Mal besuche ich die Gemeinde Neschwitz bei Bautzen Anfang November 2020. Dunkle Wolken hängen tief über dem kleinen Weiler Lissahora, einem Ortsteil von Neschwitz. Wind pfeift über Wiesen und Weiden. Entfernt tuckert ein Traktor übers Feld.
"Lissahora kommt von dem sorbischen Liša Hora, das heißt Fuchsberg", erklärt Andreas Wirth, ehrenamtlicher Ortschronist von Neschwitz. Dann deutet er auf ein kleines Wäldchen unweit der fünf Anwesen von Lissahora. Der Wald heiße im Volksmund "Knochenbusch".

Was der Scharfrichter im Wald vergrub

Denn hier in Lissahora habe der Scharfrichter des sächsischen Königs gewohnt und im Wäldchen wohl den einen oder anderen Kadaver entsorgt. Scharfrichter waren früher nicht nur für Hinrichtungen zuständig, erläutert der Vorsitzende des Vereins Kultur- und Heimatfreunde Neschwitz, Dieter Petschel.
"Er hatte die Aufgabe, Verurteilte zu bestrafen entsprechend der Gerichtsbarkeit und er hatte auch die Aufgabe, verstorbenes Vieh zu entsorgen. Unter anderem steht in der Geschichtsschreibung, dass er auch die Fäkaliengruben im Schloss Neschwitz zu leeren hatte."
Zimmererlehrlinge bauen ein altes Fachwerkhaus wieder auf.
Das alte Scharfrichterhaus wurde wie ein großteiliges Puzzle nach seinem Umzug wieder zusammengebaut. © Deutschlandradio / Iris Milde
Andreas Wirth und Dieter Petschel stehen an diesem grauen Vormittag vor einem winzigen Fachwerkhäuschen. Im niedrigen Türstock ist eine Sense eingeritzt. In diesem urigen Haus lebten mehrere Generationen von Scharfrichtern, unter anderem der Scharfrichter Bundermann aus der berühmten Krabat-Sage.

Klapprig und unbewohnt

Nur ein schmaler Spalt trennt das Scharfrichterhaus von einem neueren Gebäude. Sein Besitzer möchte das klapprige und unbewohnbare Scharfrichterhaus am liebsten abreißen. Doch das steht unter Denkmalschutz.
"Da hatten wir 2009 schon die erste Notsicherung und 2018 ist ein weiterer größerer Schaden entstanden hier im Dach, und das Nebengebäude des Besitzers ist beschädigt worden. Ich habe dann die Leute gefragt: Entweder wir machen was, wir versuchen es zu retten, oder ich will davon nichts mehr hören."

Daraufhin schmiedeten zehn Enthusiasten um Dieter Petschel einen engagierten Plan: Das Haus sollte umziehen, und zwar auf ein Grundstück der Gemeinde Neschwitz. Als fachlichen Begleiter holte sich die Arbeitsgruppe Scharfrichterhaus Arnd Matthes von der Stiftung Umgebindehaus mit ins Boot. Die Stiftung bemüht sich um den Erhalt der für die Oberlausitz typischen Umgebindehäuser, aber auch historischer Fachwerkhäuser.
Fachwerkhäuser waren, so Arnd Matthes, "schon früher eine sogenannte fahrende Habe. Man kann die also zurückbauen, die Holznägel ziehen, das Fachwerk aufladen auf den Hänger, und dann kann man das mit dem Fuhrwagen woanders hinschaffen. Das ist auch nachweislich so gemacht worden früher."
Am Türstock steht die Jahreszahl 1790. Das Gebäude sei aber deutlich älter, so Arnd Matthes. Er schiebt die aus einfachen Brettern genagelte Haustür auf.
Der Flur ist eng. Eine verwinkelte Treppe führt auf den Dachboden, hinter der Stube verläuft ein schmaler Gang zum Abort, von dem noch die Aussparung für den Kübel zu erkennen ist. Bis 1975 war das Haus bewohnt, zuletzt wurde es als Hühnerstall genutzt.
Im Lehm einer Fachwerkwand sind schwach eingeritzte Linien zu erkennen. "Das ist eine Sense. Wir sehen auch hier die Sensenklinge ganz deutlich und hier eine Rundung, das kann auch ein Kopf sein, wie auch immer. Auf jeden Fall ist das ein Symbol des Scharfrichters", klärt Matthes auf.

Jeder Balken wird nummeriert

Noch im Spätherbst 2020 beginnen die ersten Abbauarbeiten. Die Ehrenamtlichen schlagen den Lehm aus den Gefachen und sammeln ihn in Containern. Sie bergen die Staken, die Holzstangen in den Gefachen, an denen der Lehm geklebt hat. Nach dieser Entkernung nummeriert ein Zimmermann jeden Balken und baut die gesamte Holzkonstruktion auseinander.
"Wir haben fast vier Wochen gebraucht, in denen wir im Vorfeld die Wände rausnehmen mussten. Es ging anfangs ganz schön langsam, aber dann: So schnell konnten wir gar nicht gucken, wie das Haus weg war", resümiert Dieter Petschel.
Ein Zimmerermeister arbeitet an den Balken eines Fachwerkhauses, das wieder aufgebaut werden soll.
Zimmerer Martin Fricke kümmert sich um die alten Balken des Scharfrichterhauses.© Deutschlandradio / Iris Milde
An diesem Tag im April stehen er und vier weitere Männer aus der Arbeitsgruppe Scharfrichterhaus in der Werkstatt des Zimmermeisters Martin Fricke in Thalheim im Erzgebirge. Sie wollen "ihr" Haus besuchen. Auf dem Boden liegen ein paar Balken zusammengesteckt zu einer Fachwerkwand.
Der Restaurator im Zimmererhandwerk eröffnet den Vereinsmitgliedern, wie viel von der alten Substanz erhalten werden konnte: um die 40, 45 Prozent.
An vielen Balken wurden nur kleinste Stücke austauscht. Martin Fricke demonstriert, wie er alte und neue Hölzer millimetergenau zuschneidet und dann ineinandersteckt. Holznagel rein und fertig. Vereinsvorsitzender Dieter Petschel ist beeindruckt. "Man staunt nur, wie die das alles hinkriegen. Es ist eine Freude, zuzugucken."

Die Finanzierung wird zum Problem

Inzwischen treibt den Leiter der Arbeitsgruppe Scharfrichterhaus ein anderes Problem um: die Finanzierung. 96.000 Euro wird die Umsetzung des Scharfrichterhauses kosten. Eine Anschubfinanzierung von 50.000 Euro aus öffentlichen Töpfen ermöglichte, dass mit dem Bau überhaupt begonnen werden konnte. Der Rest soll mit Spenden gestemmt werden.
Als ich Ende Mai wieder nach Neschwitz fahre, haben Zimmerermeister Fricke und seine Kollegen innerhalb eines Tages fast das ganze Haus wieder zusammengesetzt.
Für Zimmermann Fricke ist es die zweite Umsetzung eines Hauses. In Sachsen gab es seit 1990 rund 30 Hausumsetzungen oder Translozierungen, wie sie im Fachjargon heißen. Doch eine Translozierung sei immer nur das letzte Mittel, ein Kulturdenkmal zu erhalten, mahnt das sächsische Landesamt für Denkmalpflege. Ziel sei es immer, ein Denkmal in seinem Umfeld zu belassen.
Das Scharfrichterhaus von Luga steht nun neben einer historischen Bockwindmühle von 1733. Beide Häuser sind also fast gleich alt und werden zusammen ein winziges Freilichtmuseum bilden.
"Unser Scharfrichterhaus passt gut zur Bockwindmühle. Und es ist beides umgesetzt worden. Die Bockwindmühle schon in den 70er-Jahren und das 2021."
Dieter Petschel schaut zufrieden zu, wie das Haus unter den Händen der Zimmerleute Balken für Balken wächst. Andreas Wirth und andere Ehrenamtliche machen sich indes daran, die alten Staken zu sortieren. Was nicht mehr nutzbar ist, wird zu Feuerholz.

Zimmererlehrlinge lernen am Haus

Arnd Matthes von der Stiftung Umgebindehaus spitzt die brauchbaren Staken mit dem Ziehmesser an und klinkt sie in die Gefache ein. In den Sommermonaten ist der Experte für alte Bauweisen ein ständiger Begleiter auf der Baustelle. Er führt die Ehrenamtlichen in den Lehmbau ein und zeigt ihnen, wie man alte Dachziegel aufarbeitet.
Damit auch andere alte Bauweisen erleben können, hat die Arbeitsgruppe Scharfrichterhaus im September Schüler und Lehrlinge eingeladen. An diesem Tag ist eine Gruppe Zimmererlehrlinge in Neschwitz.
Nils Löwe lernt das Zimmerhandwerk in einem Betrieb in Dresden. In der Denkmalsanierung kommen auch Zimmerer oft in Kontakt mit Lehmbau, erzählt er: "Im meiner Firma arbeiten wir viel mit Lehm und Lehmputzen, aber das wird alles mit einer Putzmaschine gemacht."
Nils Löwe glaubt, dass er im Berufsleben öfter mit Lehm zu tun haben wird, denn natürliche Baustoffe liegen im Trend, sagt auch Lehmbauer Michael Pohl, der die Lehrlinge an diesem Tag anleitet: "Das gehört zu unserer Tradition dazu. Das wäre schade, wenn das verloren geht."

Die Einweihung ist im Frühjahr

Dieter Petschel schaufelt indes den Lehm aus einem Container in Eimer und sumpft ihn mit Wasser ein: "Das ist der alte Lehm vom Fachwerkhaus, das wir zurückgebaut haben. Und das Material verwenden wir jetzt wieder."
Dieter Petschel ist erleichtert. Ihr wichtigstes Ziel hat die Arbeitsgruppe erreicht: das Scharfrichterhaus zu erhalten. Als nächstes stehen Fenster, Türen und Innenausbau auf der Agenda der Ehrenamtlichen. Dafür sammeln sie weiter fleißig Spenden.
Auch wenn dann vielleicht noch nicht alles fertig sein wird: Dieter Petschel hofft, dass das neue alte Scharfrichterhaus im Frühjahr eingeweiht werden kann. Spätestens zum Deutschen Mühlentag im Mai.
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