"Wir müssen beim Bauen mit der Natur verhandeln"
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Es ist ein blinder Fleck der Klimapolitik: 40 Prozent des CO2-Ausstoßes verursacht das Bauen. Dagegen will Lamia Messari-Becker etwas tun. Die Bauingenieurin mit marokkanischen Wurzeln ist vom Fach.
Die Juli-Flut im Ahrtal hat das Leben der Menschen schlagartig verändert. Fast 70 Prozent aller Gebäude wurden beschädigt, Brücken und Bahnstrecken zerstört. Ein wenig Normalität bringt vielleicht der Wein, denn gerade ist Weinernte in der Region.
Sehr beschäftigt mit den Folgen der Flutkatastrophe ist auch Lamia Messari-Becker, nicht als Betroffene, sondern als Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Uni Siegen.
Hätte ein anderes Bauen die Folgen abmildern können? Diese Frage wurde nach der Flut oft gestellt. Für die Ingenieurin ist klar: "Eine andere Infrastruktur, Abstände, Rückhaltebecken für das Wasser hätten uns wertvolle Zeit verschafft, um alle Menschen zu retten. Das finde ich die eigentliche Katastrophe."
Bauen macht Müll
Seit Jahren legt die Professorin für Gebäudetechnologie den Fokus ihrer Arbeit auch auf die Umwelteffekte des Bauens. Sie sieht, nicht nur im Ahrtal, die Baubranche besonders in der Pflicht. 40 Prozent der CO2-Emissionen gingen darauf zurück, hinzu käme der hohe Energie- und Flächenverbrauch. "Und das große Thema, über das fast alle schweigen, ist das Abfallaufkommen. Das sind beim Bauen mehr als 50 Prozent."
Allerdings könne die Baubranche selber zum Klimaschutz, zur Klimaanpassung beitragen, so die Bauingenieurin.
"Im Gebäude, im Quartier, im Lebensraum der Menschen kann ich es schaffen, Nachhaltigkeitsziele mit der Lebensrealität der Menschen zusammenzubringen. Der Mensch ist schon immer ein Bastler gewesen. Aber wir müssen beim Bauen auch sehr viel mit der Natur verhandeln. Ich sehe hier die Baubranche in der Pflicht. Dazu brauchen wir aber auch die Politik."
Flexible Grundrisse
Schon länger fordert Lamia Messari-Becker deshalb ein eigenständiges Bauministerium. Zudem brauche es hier Bauingenieure, Architekten und Landschaftsplaner, diese würden bisher fehlen.
"Nichts vereint uns mehr als die Gemeinsamkeit von wohnen, arbeiten und leben. Die Lebensraumplanung ist für mich keine Marginalie."
Beim Neubau oder der Sanierung wünsche sich Messari-Becker "kluge Grundrisse". Wohnraum also, der ohne großen Aufwand der jeweiligen Lebenssituation angepasst werden kann. Auch kommunale Tauschbörsen, "wenn ältere Menschen nicht mehr so viel Platz brauchen, dafür kommt eine junge Familie mit Kindern rein", könne sie sich vorstellen.
Selber wohnt die Ingenieurin in einem Bau aus den 1960er-Jahren. "Der wurde von meinem Mann und mir saniert. Und wir haben dabei versucht, sowohl den Energiebedarf als auch den Heizwärmebedarf zu senken."
Von Marokko nach Deutschland
Geboren wurde Messari-Becker 1973 in Marokko, lernte Deutsch erst in einem Sprachkurs in Krefeld, studierte dann in Mainz und Darmstadt. Dabei beherrschte sie Arabisch und Französisch. Warum also Deutschland?
"Die Deutschen waren einfach schneller. Ich bekam relativ schnell eine Zulassung, eine Zusage für einen Studienplatz."
Heute schätzt die 48-Jährige die deutsche Sprache vor allem deshalb, weil sie so "präzise ist". Deshalb archiviere man viele internationale Verträge auch auf Deutsch, erzählt die Professorin der Uni Siegen. Großen Spaß habe sie auch an zusammengesetzten Wörtern, die man im Deutschen findet. Eines ihrer Lieblingswörter: "Wasserdampfdiffusionswiderstandsbeiwert".
"Deutsch hat die Gabe, neue Wörter zu erfinden. Und obwohl sie aus verschiedenen Wörtern bestehen, ergeben sie Sinn. Das finde ich spektakulär."
(ful)