Guerilla-Garten soll Museum werden
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Nicht ganz Ost-Berlin lag hinter der Mauer: Ein kleines Stück befand sich in Kreuzberg. Hier baute Osman Kalin Gemüse an und errichtete ein Baumhaus - heute eine Sehenswürdigkeit. Nun will sein Sohn dort ein Museum einrichten.
"Da links ist meine Weinstraße, wenn ich Richtung Mitte, Richtung Ostberlin gucke, zweite Reihe gibt es Apfelbaum, dritte Reihe gibt es Kirschbaum ..."
Dazu Esskastanien, Zwetschgen, dahinten noch das Mirabellen-Bäumchen, das sein Vater besonders mochte. Mehmet Kalin führt durch das Lebenswerk seines Vaters Osman. Ein Garten mit einer kleinen, aus Sperrmüllteilen gezimmerten Datsche drauf, die sich an einen Baumstamm schmiegt.
"Das ist mein Paradies. Ich fühle mich hier richtig entspannt, der tägliche Stress ist nach einer Stunde weg. Ich bin fast jeden Tag hier, tagsüber. Und Übernachtung zuhause."
Ein Stück DDR im Westen
Kalins Paradies liegt zwischen Kreuzberg und Friedrichshain in Berlin – genau da, wo früher die Grenze verlief. Und nur deshalb konnte das Paradies hier entstehen und gedeihen. Wo heute Tomaten wachsen, war Anfang der 80er-Jahre Brachfläche, Erde, Schotter. Und vor allem: Niemandsland. Offiziell gehörte das Stück zwar zur DDR. Aufgrund technischer Schwierigkeiten beim Bau der Mauer war es aber auf der Westseite gelandet.
"Dieses Grundstück hat mein Vater, als er in Rente ging – zufälligerweise entdeckt und gesagt: Okay, da ist eine ungepflegte Ecke. Da mach ich meinen Garten. Und pflanze Knoblauch und Zwiebeln."
Mehmet Kalins Vater Osman langweilte sich als Rentner in Westberlin, vermisste seinen Garten aus der Heimat und begann einfach mal so im Niemandsland Zwiebeln zu setzen. Niemand hinderte ihn zunächst daran. Bis irgendwann DDR-Grenzsoldaten durch eine Luke in der Mauer kamen, um die Besitzverhältnisse zu klären. Und um zu kontrollieren, dass nicht heimlich an einem Fluchttunnel gegraben wird.
"Zunächst haben sie so mündlich gestritten, das hat aber nur so zwei drei Stunden gedauert. Das waren ein Soldat und ein Offizier. Das ging aber ganz schnell, das verstehe ich auch nicht."
Geduldet und beobachtet
Sein Vater sagte den Soldaten, er sei nur ein alter Mann, der gärtnern will. Spätestens als die Grenzer vom Wachturm gesehen haben, dass die West-Berliner Polizei ihn verjagen wollte, waren sie auf seiner Seite. Die Sache ging hoch bis ins Zentralkomitee.
"Ein paar Monate später waren sie befreundet, sie haben sich gegenseitig begrüßt. Mein Vater hat sie in Ruhe gelassen und sie haben uns in Ruhe gelassen und bis zur Wende haben sie zusammen gelebt. Er hat sogar Geschenke bekommen! Jedes Jahr kurz vor Weihnachten hat er Geschenke bekommen, ein Päckchen Gebäck und eine Flasche Wein."
Und Osman Kalin begann, geduldet und beobachtet von den DDR-Grenztruppen, sein Häuschen in den Garten zu setzen. Nur Westberlin, das Kreuzberger Bezirksamt war mit den Aktivitäten Kalins nicht einverstanden.
"Vom Bezirksamt hat er Drohbriefe bekommen, er soll alles abbauen auf seine eigenen Kosten. Aber die hat er nicht ernst genommen." Denn schließlich hatte der Westen hier nichts zu sagen.
Osman Kalin starb 2018
"So, hier ist mein Lagerraum, da stehen nur Fahrräder und andere Sachen ..."
Der 54-jährige Straßenbauarbeiter führt mich durch das kleine Baumhaus. Im Untergeschoss hat sich sein Vater, der im vergangenen Jahr verstorben ist, eine kleine Werkstatt eingerichtet. Überall liegen Schrauben und Metallteile herum. Die Decke hat er mit alten Angelruten dekoriert.
"Solche Sachen, da hat er immer gesagt, ein schönes sauberes Material. Papa ist kein Kapitalist gewesen oder Materialist, aber als er das Material gesehen hat, immer aufbewahrt, auch solche Rohre oder solche Ambosse, da sagt er sauberes Material."
Dann geht’s hoch ins Obergeschoss des Baumhauses, hier hat sich Kalin ein Sommer- und ein Winterzimmer eingerichtet. Neben einem klapprigen Kohleofen stehen zwei alte Sessel.
Spannend, rüber zu gucken
"Wenn es richtig kalt ist, dann kommen meine Freunde, dann sitzt man am Kamin und kann essbare Kastanien rösten. Auf der Promenade, wenn der Mond scheint, dann kann man beim Mondschein phantasieren und an das schöne Leben denken."
Vor dem Winterzimmer liegt eine kleine Terrasse mit Blick auf einen breiten Grünstreifen mit Schotterweg in der Mitte. Genau dort verlief die Mauer.
"Da drüben, von wo die Fahrräder kommen, da hatten sie einen Wachturm gehabt. Für uns war das besonders spannend, rüber zu gucken. Wie heutzutage diese Grenze in Nordkorea und Südkorea. Wir haben immer schockiert zugesehen. Bedrohung gab es für uns von der Ostberliner Seite nicht. Die haben gewartet und gesehen und acht Stunden ihre Aufgaben gemacht – von dem Wachturm da."
Nutzungsrecht nach der Wende
Als die Mauer dann fiel, vor 30 Jahren, bangten die Kalins um ihr Paradies. Doch zehn Jahre lang war der Berliner Senat mit anderen Dingen beschäftigt als mit dem von den Kalins besetzten Grundstück. "Da hatten die anderes Thema als, was sollen wir mit Herrn Kalin machen ..."
Anfang der Nuller-Jahre kamen die ersten Briefe vom Bezirk Mitte, zu dem der Garten inzwischen gehörte. Man wollte gegen die "illegale Nutzung" vorgehen – sie sollten hier weg. Doch die Kalins hatten wieder Glück – 2004 ging das Grundstück im Zuge einer Grenzbegradigung an Friedrichshain-Kreuzberg, der damalige Grüne Bezirksbürgermeister gestattete ihnen das Nutzungsrecht.
"Im Stadtplan steht jetzt 'türkischer Garten Osman Kalin'! Der Name meines Vaters ist da eingetragen."
Viele Touristen schauen vorbei
Wir gehen nochmal durch das gemütliche Winterzimmer, auf die zweite kleine Terrasse des Hauses auf der Kreuzberger Seite. Kalin lehnt sich an das wacklige Geländer.
"Hier ist mein Aussichtsturm. Meine Schwachstelle ist nur, dass ich kein Englisch kann. Manchmal frag ich die Reiseführer, aus welchem Land kommt ihr, was für eine Sprache ist das da. Und die begrüßen mich immer sehr freundlich."
Unten stehen einige australische Touristen neben ihren Leihrädern. Schauen sich die alten Fotos von Osman Kalin und seinen ersten Pflanzaktionen an, die sein Sohn in einen Infokasten ans Baumhaus gehängt hat. Ihr Reiseführer erklärt ihnen derweil, was es mit diesem seltsamen Häuschen auf sich hat, das es ohne die Mauer nie gegeben hätte.
"Es ist einer meiner Lieblingsstopps. Ich hab es wirklich gern hier, wir sind auch immer sehr willkommen, das hab ich auch auf Englisch betont. Ich komme unglaublich gerne hier her. Es ist auch Teil der Berliner Magie, finde ich."
Baumhaus soll Museum werden
Dann lächelt er Mehmet Kalin zu, der noch immer noch am Geländer seines "Aussichtsturms" lehnt. Die fünfte Gruppe sei das schon - in dieser Stunde, sagt er.
"Ich fühl mich manchmal wie ein Theaterschauspieler. Wenn sie immer hier zuschauen, ich bin der Spieler, und sie gucken mir zu. Aber ich fühl mich immer wohl."
In Zukunft will er es nicht beim Schauspielern vom Balkon belassen. Kalin will aus dem Baumhaus ein kleines Museum machen und Touristen dann selbst von der unglaublichen Geschichte des Gartens an der Mauer im Niemandsland erzählen.
"Ein privates Museum in dem Sinne, über meinen Vater von 1982 bis jetzt, bis zu seinem Tod, was er hier gemacht hat, was er hier erlebt hat, was er mit den Grenzpolizisten erlebt hat."