Bayerische Islamismus-Prävention

Jung, salafistisch und radikal

Ein Mann blickt auf einen Computerbildschirm mit der Flagge des sogenannten Islamischen Staates und einem Bild mit Kämpfern, die die Flagge des Islamischen Staates tragen.
Auch im Internet versuchen radikale Islamisten, weitere Anhänger für sich zu gewinnen. © imago/Reporters
Von Joseph Röhmel |
In Deutschland radikalisieren sich immer mehr junge Menschen und werden empfänglich für die Ideologie des sogenannten Islamischen Staats. Die Prävention stößt an ihre Grenzen. Manche sagen sogar, Islamisten würden sich mehr um Jugendliche bemühen als Sozialarbeiter.
Wir nennen ihn Tarek: Eltern aus dem Kosovo, aufgewachsen in München, 28 Jahre alt, verheiratet, dreifacher Familienvater, leidenschaftlicher Fußballer. So kennen sie ihn hier im Verein, irgendwo in München.
"Ich würde sagen, er war ein vorbildlicher Sportsmann. Er war kollegial. Er war aufgeschlossen. Ich hatte den Eindruck, dass er einen wachen Verstand hatte."
Ich habe mich mit zwei Männern verabredet, die mir mehr über Tarek erzählen können. Für ihren Fußballverein hat der Kosovare gespielt. Der eine ist Anfang 60, sitzt im Vorstand des Vereins, der andere ist Ende 70 und ist der Sponsor. Ihre Namen wollen die Männer nicht im Radio hören. Was aus Tarek wurde, hat sie erschüttert.
Der Münchner Kosovare war einer von ihnen, ein Kumpel, der sein letztes Hemd für den Verein gegeben hätte, glaubten sie hier. Sogar seinen Vollbart hat er abrasiert, als er von seinem Vorstand darum gebeten wurde.
"Er war ein Goalgetter. Er stand gut und hat manches Spiel entschieden."

"Die Korane werden gut angenommen"

Der 78-jährige Sponsor hat einen braunen Koffer dabei. Darin fein sortiert einige Blätter und ein Bilderrahmen mit einem Foto, ausgeschnitten aus einem Zeitungsartikel. Der Mann holt den Bilderrahmen aus dem Koffer. Tarek ist darauf zu sehen, wie er gerade einen Zweikampf führt. Der Gegenspieler stellt sich ihm entgegen, Tarek behauptet sich. Er hat damals trotz Kopfverletzung gespielt, musste eine Maske tragen.
Die Maske wurde ihm verpasst von einem Maskenmacher. Obwohl man ihm angeraten hat, du musst noch nicht spielen, hat er es gemacht.
Der Kosovare wird nicht wiederkommen. Seit mehr als zwei Jahren sitzt er in Haft und soll abgeschoben werden.
Mit einem Plakat auf dem Rücken versucht ein Teilnehmer der Koran-Verteilaktion "Lies" auf der Zeil in Frankfurt am Main (Hessen) die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Salafisten verteilen kostenlos Korane. Eine Form, um an junge Menschen ranzukommen.© dpa / Boris Roessler
"Und dann hat er das erste Spiel gemacht. Da hat er auch ein Tor geschossen. Dann ist er von der Polizei abgeholt worden."
Ein Schock ist das damals gewesen für den ganzen Verein. Mit der Festnahme hat sich offenbart, dass in Tareks Brust zwei Herzen schlagen. Einerseits Tarek, der sich für den Verein aufgeopfert hat. Andererseits Tarek – der Betrüger, der seine Rechnungen nicht zahlen konnte und sich als Salafist outete.
Ich hole mein Smartphone aus der Tasche, spiele dem Vorstand ein Youtube-Video vor:
"Wir sind hier in München. Wir verteilen Korane. Die Korane werden gut angenommen. Die Leute freuen sich über diese Aktion."
Es zeigt Tarek in der Münchner Innenstadt gemeinsam mit anderen Salafisten. Freundlich lächelt er in die Kamera. Die Männer vom Fußballverein halten die Luft an. Erstmals sehen sie das Video:
"Ich bin schon sehr erstaunt, wenn wir das gewusst hätten, dass er Korane aktiv verteilt, dann hätten wir ihn schon darauf hingewiesen, dass das nicht unsere Vereinsphilosophie ist."
Tarek war für Lies unterwegs. Eine deutschlandweite Koranverteil-Aktion, die Verfassungsschützer als extremistisch einstufen. Laut Polizei soll Tarek Einfluss auf Gleichgesinnte genommen haben, um sie zur Teilnahme am Dschihad in Syrien zu bewegen. - Fakt ist: Einige Koranverteiler aus München sind nach Syrien zum Kämpfen gegangen; auch in jener Zeit, als Tarek in der Innenstadt aktiv war.

30 Salafisten in bayerischen Gefängnissen

Versuchte Dschihad-Rekrutierung konnte Tarek vor Gericht nicht nachgewiesen werden. Letztlich hat ihn das Amtsgericht München wegen anderer Delikte zu zwei Jahren Haft verurteilt. Im Internet hat Tarek mehrfach verbotene islamistische Symbole geteilt. Und er hat immer wieder Notebooks und andere Dinge bestellt, die er am Ende nicht bezahlen konnte.
Tarek also nur ein verführter Kleinkrimineller oder doch ein radikaler Verführer? Kurz nach der Festnahme schreibt er an seine Mitspieler. Der Brief gibt Einblick in sein Seelenleben. Im Folgenden Auszüge:
"Oh ihr Spieler. Macht euch keine Sorgen um mich. Denn mir ging es nie besser, obwohl ich mit keiner Person Kontakt haben darf, weil Sie Angst haben, dass Gefangene den Islam annehmen. Ich mache mir eher Sorgen um euch. Jeder Mensch, den ich treffe, rufe ich zum Glauben auf. Es stört den Staat, wenn alle Muslime werden."
Über den Brief will der Verein nicht sprechen. Zu sehr hängen sie noch an ihrem Spieler, zu schade finden sie, was mit ihm passiert ist.
Wie umgehen mit solchen Fällen? Vor gut einem Jahr hat der Freistaat ein Antisalfismus-Netzwerk aus der Taufe gehoben. Es soll verhindern, dass Muslime wie Tarek abrutschen und andere mitreißen. Und es soll bis in die Haftanstalten hineinwirken. Immerhin: 30 Salafisten sitzen in bayerischen Gefängnissen derzeit in Haft. Wie funktioniert das Netzwerk hinter Anstaltsmauern? Dort, wo Islamisten wie Tarek streng überwacht werden. Zum Beispiel in München-Stadelheim, auch der Kosovare hat dort einige Monate seiner Haft verbracht.
Mehrere Türen werden geöffnet. Dann geht es raus in einen Hof. Es weht ein kühler Wind. Weit kann man das Gelände überschauen. Hier wachsen große Buchen und es gibt auch ein paar grüne Wiesen. Dazwischen stehen Häuser mit jeweils mehreren Stockwerken. An jedem Fenster Gitterstäbe. Unverkennbar die Zellen der Häftlinge. Rundherum erhebt sich die Gefängnismauer, schon etwas angegraut, kaum noch weiße Stellen sind sichtbar:
"Die Anstaltsmauer wird saniert, unser Zaun wird saniert. Und auch unsere Videoüberwachungsanlagen werden erneuert, weil sie doch schon sehr in die Jahre gekommen sind."

Kein gewöhnlicher Kleinkrimineller

Sagt Mariona Hauck, die stellvertretende Leitung. Eine Frau mit lockigen schwarzen Haaren. Sie führt mich durchs Gelände.
"Der Freiheitsdrang ist nicht zu unterschätzen. Und die sehen vielleicht manchmal Wege, die wir nicht sehen. Wobei wir mit geschultem Auge durch die Anstalt gehen, das sehen und das dann abstellen."
Mehr als 1000 Männer sitzen in Stadelheim ein. Vier davon sind derzeit Islamisten – alles Untersuchungsgefangene. Nur einer von ihnen soll wirklich beim sogenannten Islamischen Staat gewesen sein. Ein weiterer Häftling wollte offenbar auch nach Syrien ausreisen, wurde aber am Münchner Flughafen von der Polizei gestoppt. Ein dritter soll den IS finanziell unterstützt haben.
Wir erfahren: Seit seiner Festnahme vor zwei Jahren war er in mehreren Anstalten im südbayerischen Raum untergebracht. Er hat ein regelrechtes Anstalts-Hopping hinter sich. Warum eigentlich? Auf Spurensuche in Stadelheim:
Ich treffe mich mit dem Leiter der Anstalt. Michael Stumpf ist ein großgewachsener schlanker Mann. Der 55-Jährige trägt Anzug, hat graumelierte Harre. Über Tarek kann er nicht sprechen. Er beantwortet nur allgemeine Fragen zu den Islamisten in Haft. Jeder von ihnen steht unter besonders strenger Beobachtung, sagt Leiter Stumpf:
"Er darf nicht am allgemeinen Hofgang teilnehmen. Und auch Veranstaltungen, die mit anderen Gefangenen zusammen stattfinden, sind zunächst einmal untersagt. Dann beobachten wir das Ganze über einen gewissen Zeitraum. Wenn wir dann das Gefühl haben, dass die Leute sich zurückhalten und nicht versuchen, andere zu missionieren, dann lockern wir diese besonderen Sicherungsmaßnahmen schrittweise."
Wie war das bei Tarek? Ich erfahre aus hochrangigen Sicherheitskreisen: Der Kosovare sei kein gewöhnlicher Kleinkrimineller, sondern ein dicker Fisch. Der ehemalige Fußballer soll hinter Gefängnismauern kleine Gebetskreise gegründet und rege missioniert haben. Auch hat er sich offenbar über die Terroranschläge in Paris, Brüssel und Ansbach gefreut. Weiter heißt es: Er sei unbelehrbar, habe einige seiner Mitgefangenen radikalisiert.
Ich möchte Tarek selbst befragen – über seinen Werdegang, über seine Sicht auf die Welt, über seine Zeit im Gefängnis. Ich schreibe ihm einen Brief. Er antwortet, er sei einverstanden. Aber die JVA, in der er einsitzt, lehnt die Anfrage ab.
Trotzdem: Wir wollen wissen: Wie ist das möglich, dass Islamisten Mithäftlinge radikalisieren? Michael Stumpf von der JVA-Stadelheim beteuert, bei ihm sei so etwas noch nicht vorgekommen. Schon der Kontakt zwischen den Islamisten werde so gut wie möglich unterbunden.
"Wir haben in Stadelheim fünf Unterkunftsabteilungen für die Männer. In vier dieser Abteilungen haben wir derzeit vier Islamisten untergebracht. Wenn wir einen fünften kriegen würden, könnten wir die noch ganz gut trennen. Dann wird’s langsam ein bisschen schwieriger, Gefangene strikt voneinander zu trennen."

Zuerst linksextrem, dann Islam-Konvertit

Stumpf wirkt ruhig und vertrauenswürdig, wenn er davon erzählt. Ein Profi, seit 2009 führt er die Geschäfte des Gefängnisses. Missionierungsversuche haben seine Mitarbeiter schon beobachtet:
"Wenn der Gefangene die Möglichkeit hat, auf den Hof rauszugehen und die Beamten merken, dass er zwei Tage in Folge die gleiche kleine Gruppe der Gefangenen um sich schart, dann das Dozieren anfängt, dann wär das ein Anlass für uns gleich zu intervenieren. Dann stellen wir ihn zur Rede und fragen, was da los ist. Und dann lassen wir ihn die nächsten Tage gemeinsam mit den anderen nicht mehr in den Hof."
Der Freistaat hat erkannt, dass er auf solche Rekrutierungsversuche reagieren muss. So gibt es Schulungen für Psychologen, Sozialarbeiter und Justizvollzugsbeamte:
"Da kam dann eine Islamwissenschaftlerin, die den Mitarbeitern bestimmte Begriffe noch viel anschaulicher erläutern konnte. Sie hat uns mit bestimmten Symbolen vertraut gemacht hat und erklärt hat, welche Koranausgaben bedenklich und welche unbedenklich sind. Das ist schon auch sinnvoll, dass wir in einem solchen Netzwerk ein Expertenwissen bündeln und dann auch gezielt abrufen können."
Eine Islamwissenschaftlerin im Justizministerium koordiniert die Hilfe. Sie muss noch jede Menge Aufbauarbeit leisten. Zum Beispiel entsteht gerade ein Netz aus Seelsorgern. Seelsorger, die eine Beziehung zu den Gefangenen herstellen sollen. Damit nicht einer wie Tarek im Hintergrund agiert und radikalisiert, müssen die Häftlinge erfahren, dass der Islam eine friedliche Religion ist. Dazu brauchen sie Menschen, die ihnen das erklären und denen auffällt, wenn sich eine Person vom Salafismus angezogen fühlt.
Das Wort "Salafist" steht auf einem Buch geschrieben.
Wie bewahrt man junge Muslime und Flüchtlinge vor der Radikalisierung?© picture alliance / dpa / Christoph Schmidt
Nur reicht das Netzwerk aus? Wie ist die Lage außerhalb der Gefängnismauern? Lücken machen sich bemerkbar, Lücken, die selbsternannte salafistische Gefangenenhelfer für ihre Zwecke nutzen.
Der Münchner Hauptbahnhof, ein ICE aus Köln ist eingefahren. Auf Gleis 23 kommt mir ein kräftiger Mann mit einem dichten Vollbart und Brille entgegen, sein Gang ist wankend, in der Hand hat er eine Tasche im Military-Look.
Bernhard Falk ist 49 Jahre alt. Früher war er Linksextremist, verübte Anfang der 90er mehrere Sprengstoffanschläge. 13 Jahre saß er in Haft. Im Gefängnis konvertierte Falk zum Islam.
Ich laufe mit Bernhard Falk zur U-Bahn. Es geht durch das Zwischengeschoss direkt in den Untergrund. Falks Ziel ist das Landgericht München. Er tourt regelmäßig durch ganz Deutschland, sieht sich als moralische Unterstützung für Glaubensbrüder und Schwestern, die Probleme mit der Justiz haben. Dschihadisten im Gefängnis und deren Angehörige. Auch den Fall Tarek hat er von Beginn an verfolgt. Der Kosvorare gilt laut gehobener Sicherheitskreise als Gefahr für die innere Sicherheit. Jetzt soll er in das Land seiner Eltern, den Kosovo, abgeschoben werden. Seit einigen Tagen telefoniert Falk regelmäßig mit der Ehefrau, hat sich mit ihr verabredet:
"Nach den ganzen Vorkommnissen ist das Misstrauen natürlich groß und vor allem die Angst, durch jeden weiteren Schritt, die Sache nur zu verschlimmern."
Angekommen am U-Bahnhof Stiglmeierplatz. Dort geht es zum Gerichtsgebäude. Es nieselt, als wir mit einer Rolltreppe nach oben fahren. Wir stellen uns unter einen Baum, damit wir keine Regentropfen abbekommen. Falk spricht über den Krieg in Syrien:
"Wenn doch schon vermutet wird, dass jemand möglicherweise nach Syrien gehen könnte, und man versucht dieses Dahingehen durch Passentzug zum Beispiel zu verhindern, oder sogar durch Inhaftierung - wie kommt man dann auf die Idee, im nächsten Schritt eine Abschiebung durchzuführen, die den Betreffenden mehr heranbringt an das Land quasi? Das macht doch in sich keinen Sinn, das ist doch vollkommen widersprüchlich."

Einblicke in eine Parallelgesellschaft

Wir gehen ins Gerichtsgebäude. Nach einer Weile kommt tatsächlich Tareks Ehefrau - eine zierliche junge Dame ungefähr Mitte 20. Die Mutter von drei Kindern trägt eine schwarze Lederjacke und ein hellblaues Kopftuch. Wir begrüßen uns ohne Handschlag. Ein Zeichen, dass die Frau ihren Glauben sehr ernst nimmt. Sie wirkt aber keineswegs radikal.
In der Cafeteria finden wir Platz an einem kleinen Tisch. Die Frau und ich setzen uns gegenüber. Falk setzt sich ans Kopfende. Von dort aus kann er das Interview am besten überblicken. Die Frau weiß nicht mehr weiter. Sie hat Angst vor der Zukunft, Angst vor der Abschiebung ihres Mannes.
Die Stimme der Ehefrau, haben wir verfremdet. Sie will nicht erkannt werden. - Angefangen hat alles vor zwei Jahren, als in den frühen Morgenstunden auf einmal die Polizei vor der Tür stand.
"Die haben drei bis viermal die Tür eingetreten, bis sie aufgegangen ist. Mein Mann hat es nicht mitbekommen, er hat noch geschlafen. Ihm wurde eine Waffe an den Kopf gehalten. Er musste sofort aufstehen, er wusste nicht was los ist. Die Kinder hatten totale Angst. Es war so schlimm."
Die Frau ist blass. Plötzlich fängt sie zu weinen an. Sie wirkt hilflos, überfordert mit der Situation. Kann sie nachvollziehen, warum er in Haft sitzt? Nein, nicht wirklich, sagt sie.
Sie bangt, hofft, fragt. Gibt es noch Hoffnung, dass ihr Mann doch in Deutschland bleiben kann? Hier ist er doch aufgewachsen. Was soll er im Kosovo? Immer wieder blickt sie zu Bernhard Falk. Sie wisse gar nicht, ob sie überhaupt mitreisen kann. Die Kinder hätten doch hier in Bayern ihre Wurzeln:
"Wenn ich denke, dass er abgeschoben wird – und die Kinder sind ganz alleine ohne den Papa, die warten schon sehnsüchtig auf ihn. Und wenn er abgeschoben wird, will ich gar nicht wissen, wie es sein wird. Mein Sohn geht zur Schule. Es ist Schulpflicht. Er wird den Papa vielleicht in den Ferien sehen, aber vielleicht auch gar nicht, vielleicht wird das finanziell nicht klappen, dass wir da hinreisen können."
Eine Abschiebung wird die Familie auseinanderreißen. Der selbsternannte Gefangenenhelfer wirkt da wie ein Lichtblick. Bernhard Falk – ein salafistischer Rechtsberater und Seelentröster.
Das macht nachdenklich. Und gibt Einblick in eine Parallelgesellschaft.
Wurde Multikulti zu lange idealisiert? Haben wir zu wenig darauf geachtet, wie sich Menschen aus anderen Kulturen integrieren können? Tatsache ist: Es gibt Schulen, in denen nur noch ein Bruchteil der Kinder fehlerfrei Deutsch spricht. Parallelwelten, in denen nur das Wort des Imams zählt.
"Es ist leider so, dass die Mehrheit der Sozialarbeiter ganz andere Leben führen. Dass die Jugendlichen und ihre Welten für sie unbekannt sind, und das führt dazu, dass die nicht in der Lage wären, diese Jugendlichen zu erreichen. Und das ist natürlich hochproblematisch."

Forderung nach digitaler Sozialarbeit

Sagt Ahmad Mansour. Der israelisch-palästinensische Psychologe beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen Salafismus und der Frage, wie man Radikalisierung verhindern kann. Mansour arbeitet am Zentrum für demokratische Kultur in Berlin und ist in ganz Deutschland ein gefragter Mann. Im Kanzleramt, bei der bayerischen Staatsregierung, als Autor und als Redner.
Der Kreisjugendring München hat zu einem Fachtag über Salafismus geladen. In dem großen Veranstaltungsraum sitzen rund 100 Pädagogen und Sozialarbeiter. Alle wollen sie Mansours Vortrag hören.
"Ich bin vom Sozialreferat. Ich bin hier, weil wir in der praktischen Arbeit mit solchen Themen wie Radikalisierung beschäftigt sind. - Mir hat es sehr gut gefallen, wie er argumentiert hat, der Herr Mansour. Wir müssen viel mehr Flagge zeigen und zu unseren Werten stehen."
Deshalb fordert Mansour eine andere Ausbildung der Lehrer. Damit das kritische Denken der Schüler gefordert wird. Mehr politische Diskussionen in der Klasse. - Und:
"Wir brauchen digitale Sozialarbeit. Die Jugendlichen sind nicht im Jugendzentrum von neben an. Sie sind Online in sozialen Medien. Da müssen wir diese Jugendlichen erreichen. Da müssen wir Gegenangebote machen. Da müssen wir Gegennarrative schaffen, um diese Jugendlichen zu immunisieren."
Mansour spricht von der sogenannten "Generation Allah". Jene, die nicht automatisch radikal sind, aber hineinwachsen in das salafistische Gedankengut. Den Ursprung sieht er in der Erziehung. Jugendliche, die in Angst aufwachsen, die vermittelt bekommen: Wer eine Sünde begeht, der landet in der Hölle. Diese Angst vor der Hölle würden die Salafisten thematisieren und dabei auf fruchtbaren Boden stoßen. Ein mögliches Gegenmittel? Mansour fordert eine innerislamische Debatte und die Einführung eines Bundesbeauftragten für Deradikalisierung:
"Wir brauchen umfassende Konzepte, langfristig und flächendeckend, wo jeder die Möglichkeit bekommt, sich in sozialen Medien sich gegen radikale Tendenzen zu immunisieren."
Die Politik habe lange geschlafen, sagt Mansour. In der Tat: Vor 2014 gab es keine staatlich geförderten Programme. Das ist jetzt anders. Es gibt Programme in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachen. Die Nachfrage ist riesig – auch in Bayern.

Verlust seiner Familie als Ursache für Radikalisierung

Das Heimatministerium in Nürnberg Anfang Oktober: Ein großer Saal mit rund 100 Menschen. Alles Flüchtlingshelfer, die sich aufklären lassen wollen: Woran erkennt man radikalisierte Flüchtlinge? Organisiert hat die Veranstaltung der Integrationsbeauftragte der Staatsregierung Martin Neumeyer. Der 61-Jährige hat ein breites Lächeln auf den Lippen. Er freut sich sichtlich über die große Resonanz, denn er will für das Thema sensibilisieren:
"Ein guter Zugang sind die Helferkreise. Sie haben den besten Zugang zu den Menschen in den Gemeinschaftsunterkünften und merken, wenn sie sich verändern. Deshalb muss man ihnen die Chance geben, wie man das erkennt. Und deshalb ist es der Anlass, die Helfer einzuladen – zum dritten Mal."
Einige Menschen versammeln sich vor dem Podium. Dort stehen die beiden Referenten und beantworten fleißig Fragen. Ein Vertreter des bayerischen Verfassungsschutzes, der sich nicht vor dem Mikrophon äußern will. Zum anderen der Polizist Holger Schmidt vom bayerischen Landeskriminalamt. Ein schlanker Mann in Anzug und Krawatte. Er leitet das vor gut einem Jahr gegründete Kompetenzzentrum Deradikalisierung im bayerischen Landeskriminalamt. 400.000 Euro hat der Freistaat in das Zentrum in diesem Jahr investiert, berichtet Schmidt in seinem Vortrag.
"Wir hatten uns zunächst mit den Personengruppen Syrien-Ausreise und Syrien-Rückkehrer zu beschäftigen. Das war der eigentliche Grund, warum man gesagt hat, man muss hier in Bayern ein starkes Netzwerk aufbauen, dass sich auf die Thematik Prävention und Deradikalisierung fokussiert. Wir bearbeiten momentan mit unserer Dienststelle 70 Sachverhalte. Und nicht mal zehn Sachverhalte beziehen sich auf Flüchtlinge."
Trotzdem ist das Kompetenzzentrum wachsam. Ein Islamwissenschaftler, ein Psychologe und Polizisten arbeiten hier. Die Mitarbeiter überlege gemeinsam wie sie verzweifelten Eltern, Lehren Flüchtlingen helfen können. Und wie sie mit gefährdeten Kindern und Jugendlichen in Kontakt treten. Das gelingt ihnen durch Gespräche, über Freunde, über Vereine. Bei einigen wenigen war die Arbeit schon erfolgreich, sagt Holger Schmidt. Er könnte wohl ein Buch schreiben. So viele Fälle hat er im Kopf. Nach der Veranstaltung setzen wir uns zusammen. Dann erzählt er mir eine Geschichte. Er ist ein sachlicher Typ, aber kein Bürokrat. Man merkt, dass er ihn die Fälle beschäftigen, er den Menschen wirklich helfen und sie nicht einfach den Sicherheitsbehörden übergeben will. Niemand werde kriminalisiert, betont er immer wieder:
"Es handelte sich um einen Flüchtling, der im Herbst letzten Jahres nach Bayern gekommen ist – in eine Unterkunft für unbegleitete Minderjährige. Bei ihm im Zimmer sind entsprechende Symbole aufgefunden worden, die er sich wohl selbst gezeichnet hatte."
Es waren Symbole, die denen der Terrormiliz IS ähneln. Holger Schmidt sagt, der junge Mann habe sich hier in Deutschland radikalisiert:
"Ich denke, der Hauptgrund bei ihm war der Verlust seiner Familie. Der mangelnde Kontakt zu seinen Angehörigen. Die völlig neue Umgebung."
Der Flüchtling suchte sich ein Ventil und fand es beim IS. Lange Gespräche waren nötig. Letztlich mit Erfolg. Er hat sich von seinen radikalen Gedanken verabschiedet, absolviert inzwischen eine Berufsausbildung, geht jetzt offen auf Menschen zu.
Auch dank eines Vereins, mit dem das Kompetenzzentrum eng zusammenarbeitet. Drei Mitarbeiter des sogenannten Violence Prevention Network, das auch eine Beratungsstelle in Bayern hat, kümmern sich um gefährdete junge Menschen wie den Flüchtling.
Woche für Woche reisen sie quer durch den Freistaat, wenn sich verzweifelte Eltern oder eben Flüchtlingshelfer bei der Polizei oder im Kompetenzzentrum des LKA melden. Und auch im Gefängnis sind sie aktiv.
Wir treffen einen der Deradikalisierer in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs.
Von hier aus werden wir den Mann, den wir Ismael nennen, begleiten. Er ist Türke, gläubiger Muslim und pädagogischer Mitarbeiter des Violence Prevention Network. Seinen richtigen Namen will er nicht im Radio nennen. Er fürchtet, Klienten könnten ihn erkennen.
"Wir bieten ihnen eine weitere Alternative an, zu den Menschen, von denen sie umgeben sind, damit sie sehen: Ja, es gibt eine Vielfalt im Islam. Und diese Vielfalt die muss man sich anschauen, was ist richtig, was ist falsch."
Wohin Ismael mit uns fährt, verrät er nicht. Seine Arbeit ist hochbrisant:
"Es sind natürlich Leute dabei, die ausreisen wollten. Wir haben auch Klienten dabei, die aus den Kriegsregionen wieder zurückgekehrt sind. Die kann man sicher als harte Fälle bezeichnen, aber wir haben auch ganz viele Klienten, die noch nicht ausreisen wollten, die nicht in den Kriegsregionen waren, aber sich radikalisieren."

"Heute sind Radikale die besseren Sozialarbeiter"

Der Deradikalisierer ist selbst Muslim, hat in seiner Heimatgemeinde erlebt, dass sich Menschen radikalisiert haben. Das wollte er irgendwann ändern:
"Es bestand die Gefahr, dass unsere Jugendlichen mit solchen Kreisen in Verbindung kommen. Wir wussten dann einfach nicht, was wir als Moscheegemeinde tun müssen, wir haben geschaut, was können wir machen und haben gesehen, dass es damals in Bayern kein Angebot gab. Das waren so die Punkte, die mich dazu gebracht haben, mich zu entschließen diese Arbeit anzunehmen, und dieser Arbeit nachzugehen."
Seit gut einem Jahr kümmert er sich um radikalisierte Jugendliche. Vor allem in den ersten Monaten war die Arbeit hart. Er war allein – zuständig für ganz Bayern. Seitdem zwei Kollegen dazu gekommen sind, ist es etwas einfacher geworden für ihn, sagt er. Langweilig werde ihm aber trotzdem nicht.
Ich erinnere mich an das letzte Treffen mit dem Psychologen Ahmad Mansour in München. Da hat er gesagt: Es braucht mehr als nur Antisalafismus-Netzwerke. Die gesamte Gesellschaft, das heißt Schule, Eltern, Lehrer – alle seien gefordert:
"Heute sind Radikale die besseren Sozialarbeiter. Sie bemühen sich um Jugendliche, schaffen Emotionalität. Unsere Gesellschaft hat lange geschlafen. Es ist kein türkisches und kein arabisches Phänomen, es ist ein deutsches Phänomen. Es sind Zustände, die uns alle angehen."
Wie viel junge Menschen hätte man wohl retten können, hätte es derartige Programme und Initiativen schon früher gegeben?
Hätte es Tarek, dem fußballbegeisterten Kosovaren vom Anfang unserer Geschichte geholfen, in der Mitte der Gesellschaft zu bleiben?
Weil die Justizvollzugsanstalt, in der er einsitzt, einem Interview nicht zugestimmt hat, haben wir ihn in einem Brief gefragt, ob er seinen Weg bereut. Die Antwort ist bis Redaktionsschluss nicht eingetroffen.
Der Beitrag ist eine Übernahme vom Bayerischen Rundfunk und wurde erstmals am 28. Oktober 2016 in der Sendung "Nahaufnahme" auf Bayern 2 ausgestrahlt.
Mehr zum Thema