Kein Sitzenbleiben: Wiederholt wird in Bremen nur freiwillig
In Sachen Sitzenbleiben gibt es im kleinsten Bundesland Deutschlands einen Sonderweg: Das zwangsweise Wiederholen wurde 2008 abgeschafft. Stattdessen soll jedes Kind individuell so gefördert werden, dass Sitzenbleiben unnötig ist. Kann das gelingen?
Umstrittene pädagogische Maßnahme
Wer ein zu schlechtes Zeugnis bekommt, muss in Bayern die Klasse wiederholen. (Symbolbild) © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Bayern hält am Sitzenbleiben fest
07:23 Minuten
In Bayern bleiben im bundesweiten Vergleich die meisten Kinder und Jugendlichen sitzen. Laut Statistischem Bundesamt waren es im Schuljahr 2019/20 3,8 Prozent – bundesweit nur 2,3. Wie sinnvoll ist es, ein Schuljahr zu wiederholen?
Wenn Nicolo Tallevi an den Moment denkt, als es einfach nicht mehr für die nächste Klasse reichte, das Lehrerkollegium seines Gymnasiums entschied, er müsse eine Klasse wiederholen, dann ist noch immer diese Enttäuschung zu spüren. „Am Anfang war es schon ein bisschen blöd, sitzen zu bleiben“, erzählt er. „Habe ich zu wenig gemacht, oder bin ich nicht gut genug?“
Soziale Ausgrenzung durch Sitzenbleiben
Am Ende stand ein Ungenügend im Zeugnis, das erste Mal Sitzenbleiben, dann, in der achten Klasse ein zweites Mal die Note Ungenügend: ein Desaster, erinnert sich Jana Tallevi, die Mutter des inzwischen 20-Jährigen. „Dieses Gefühl: Du darfst hier nicht mehr mitmachen, du gehörst nicht mehr dazu. Das war für uns als Familie ein großer Schock.“ Es sei schwer gewesen, auch für ihren Sohn. „Wir hatten nicht damit gerechnet, dass es soweit kommt.“ Sitzenbleiben als soziale Ausgrenzung, so das erste Gefühl.
Die angebotenen Förderstunden an der Schule halfen zwar etwas, meint die Mutter, Nicolo durfte für ein halbes Jahr auf Probe vorrücken – eine Entscheidung des Lehrerkollegiums. Die falsche, meint Nicolo Tallevi heute: „Das hat mir gar nichts gebracht. Mir hat ja schon der Stoff von einem halben oder dreiviertel Jahr gefehlt. Das dann nachzuholen, plus den neuen Stoff, das ist zu viel, das schafft man nicht.“
Erst sitzen bleiben, dann abschulen
Die erste Lösung im Freistaat: sitzen bleiben, danach abschulen, also: vom Gymnasium auf die Real- und dann gegebenenfalls auf die Mittelschule wechseln. Wer zweimal das Klassenziel nicht erreicht, dem verbietet das bayerische Schulgesetz den weiteren Besuch der bislang besuchten Schulart: ob Gymnasium, Realschule oder Mittelschule, wie die Hauptschule in Bayern heißt.
Dieses starre, dreigliedrige Schulsystem sei ein Grund dafür, dass es in Bayern statistisch gesehen mehr Wiederholer, darunter überproportional viele Jungen, gibt als sonst irgendwo in Deutschland, ist Nicolos Mutter überzeugt. „Dreigliedriges Schulsystem oder Gesamtschulsystem – es muss doch möglich sein, dass man auch in Bayern immer wieder darüber nachdenkt“, meint sie. „Man kann nicht sagen: Unser Schulsystem ist super, es soll so bleiben. Aus der Grundschulklasse meines Sohnes sind sicher fünf oder sechs Jungs aufs Gymnasium gewechselt. Ein einziger hat in der Regelschulzeit das Abitur gemacht.“
Auch Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) hält das dreigliedrige Schulsystem ebenso wie das Sitzenbleiben für längst überholt. Das Sitzenbleiben bringe auf lange Strecke nichts, sagt sie. „Wir wissen das auch aus wissenschaftlichen Untersuchungen, und ich kann es aus der Praxis sagen: Wir merken, ein Kind strandet in der siebten Klasse, es sind die zwei Fünfer oder der eine Sechser, und dann geht es hier sehr traditionell, zack, die Klappe schlägt um, du wiederholst.“ Wiederholen müsse das Kind aber den Stoff aller Unterrichtsfächer. „Wegen zwei Fächern wiederholst du alles: völlig ineffizient. Wiederholen ist nicht charmant, Wiederholen sagt: Du schaffst es nicht, und die Motivation, die da draufgeht, ist immens.“
Alternativen zum erzwungenen Sitzenbleiben
Einziger Ausweg seien individuelle Förderung innerhalb der Klasse, Stärkung des sozialen Verbandes, gegenseitige Unterstützung beim Lernen, passgenaue Förderinstrumente, um die gefürchtete Ehrenrunde zu verhindern, sagt Präsidentin Fleischmann. Sie war früher selbst Schulleiterin einer Mittelschule – also dort, wo diejenigen landen, die mehrfach sitzengeblieben sind.
Ganz so drastisch will es Günter Manhardt, Leiter des Schmuttertal-Gymnasiums Diedorf bei Augsburg, nicht sehen. Bayern leiste sich das teure dreigliedrige Schulsystem, um Kinder eben besser fördern zu können als in einem Gesamtschulsystem.
Als damaliger Schulleiter überzeugte er Nicolos Eltern, dass ihr Sohn auf der Realschule besser aufgehoben sei. Momentan würden nur zwei von 700 Schülern an seinem Gymnasium wiederholen müssen, betont Schulleiter Manhardt. Vom Kultusministerium ist außerdem in der Pandemie eine Anweisung an die bayerischen Schulen ergangen, wenn möglich, jedem lernschwachen Kind das Vorrücken auf Probe zu ermöglichen, oder den Kindern und Eltern vorzuschlagen, freiwillig zu wiederholen, erklärt der Schulleiter. „Bis zum Halbjahr kann jemand freiwillig sagen: Mein Kind tritt zurück in die untere Jahrgangsstufe, weil wir merken, da kommen nur noch schlechte Noten, der oder die hat den Anschluss verloren. Wir beraten dann auch in diese Richtung: Es macht mehr Sinn, wenn Ihr Kind die Grundlagen nochmal wiederholt in der sechsten statt die Lücken in die siebte Klasse mitzunehmen.“
Realschule als Auffangbecken
Nicolos zweiter Schulleiter, Jürgen Seipt-Wunderwald, Leiter der staatlichen Realschule Zusmarshausen, westlich von München, fängt jedes Schuljahr etliche der ehemaligen Gymnasiasten auf. Er und sein Kollegium würden Kinder nicht leichtfertig in die Ehrenrunde schicken, betont der Schulleiter. Seine Schule erprobe gerade ein neues Fördersystem: "Nämlich dass wir sagen, der Förderunterricht ist nicht verpflichtend für ein ganzes Jahr, sondern wir teilen es auf in bestimmte Stoffgebiete. Die Schüler können dann in den Förderkurs gehen, wenn das Stoffgebiet drankommt: in Mathe oder Englisch oder so, bei dem sie wirklich Probleme haben.“
Die Zukunftsisdee von Simone Fleischmann, der Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes: Kindern statt eines Klassen-Stundenplans einen individuellen Schüler-Stundenplan anzubieten, ähnlich dem Kurssystem der Oberstufe. Das sei organisatorisch im dreigliedrigen Schulsystem undurchführbar, meinen die Schulleiter des Diedorfer Gymnasiums und der Zusmarshauser Realschule, die Auflösung des Klassenverbandes aus sozialen Gründen nicht empfehlenswert.
Während andere Bundesländer das Sitzenbleiben abschaffen, hält Bayern daran fest. In einem dreigliedrigen Schulsystem wird es ohne Sitzenbleiben nicht gehen, meint Nicolos Mutter Jana Tallevi. Am Ende habe es ihren Sohn zum Hochschulabschluss gebracht. Nach der Realschule ging er zurück auf ein anderes Gymnasium, wiederholte die zehnte Klasse und macht im Sommer sein Abitur.