Eine Attacke mit symbolischer Wucht
Beate Klarsfeld ohrfeigte vor 50 Jahren Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Ihre Aktion sei Sinnbild eines deutschen Konflikts, kommentiert Arno Orzessek – in dem die Jungen die moralische Hoheit über die NS-Verstrickungen der Alten beanspruchten.
Wer die Biografie von Udo Jürgens kennt, wird es wissen: Während seiner Zeit bei der Hitlerjugend bekam der spätere Sänger von einem Gruppenführer eine derartige Ohrfeige verpasst, dass er fortan auf dem linken Ohr schlecht hören konnte.
Denn eine Ohrfeige, definiert als Schlag mit der flachen Hand auf jemandes Wange, ist keineswegs immer harmlos. Sie kann im Extremfall Hirnblutungen oder Verletzungen des Trommelfells nach sich ziehen.
Ein Wort, das auf Gefahr hindeutet
Das Wort selbst deutet auf Gefahr hin: "Ohrfeige" geht zurück auf das niederdeutsche "ôrvyge", dessen zweiter Wortteil mit "veeg" verwandt ist, was "Streich", "Hieb" oder eben "Schlag" bedeutet und eine kraftvolle Ausführung impliziert.
Entsprechend unsanft war auch die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld auf dem CDU-Parteitag in Berlin im November 1968 – "Nazi, Nazi" rufend – Kurt Georg Kiesinger verabreichte. Immerhin trug der Kanzler eine leichte Bindehaut-Reizung im linken Auge davon.
Klarsfeld wurde unmittelbar nach der "körperlichen und seelischen Schmerzzufügung", wie es hieß, per beschleunigtem Verfahren zu einem Jahr Haft verurteilt, eine Strafe, die sie auch aufgrund ihrer französischen Staatsangehörigkeit nie antreten musste. Die symbolpolitische Wucht der Aktion blieb davon unbeschadet.
Nicht umsonst fragte Kiesinger, nachdem man die Täterin aus der Halle geführt hatte: "War das die Klarsfeld?"
Angekündigte Aktion gegen Kanzler und Ex-NSDAP-Mitglied
Der Kanzler, Ex-NSDAP-Mitglied und im Reichsaußenministerium einst an antisemitischer Hetze beteiligt, kannte die Studentin und Journalistin. Sie hatte ihn schon mehrfach attackiert, wenn auch nicht körperlich: Etwa in der französischen Zeitung "Combat" und im April 1968 von der Besuchertribüne im Bonner Bundestag herab mit dem Ruf "Nazi, tritt zurück".
Wenige Wochen später kündigte Klarsfeld dann vor mehreren tausend Zuhörern im Audimax der Technischen Universität Berlin die Kanzler-Ohrfeige an. Offenbar meinte Klarsfeld, die sich seit Jahren mit dem Holocaust und der Aufklärung von NS-Verbrechen beschäftigte, der Worte seien genug gewechselt. Es müsse eine physisch wie psychisch wirksamere Geste her.
Und tatsächlich haben sich in der Ohrfeige zentrale Entwicklungen der Nachkriegszeit verdichtet. Kiesinger selbst leugnete seine braune Vergangenheit nach 1945 keineswegs, sah sich aber nur leicht belastet und hielt sich eine fundamentale Kehrtwende hin zur Demokratie zugute.
Verstrickungen der Eltern-Generation während der NS-Diktatur
Eben das nahmen ihm viele junge Leute nicht ab, da sie allmählich die Verstrickungen der Eltern-Generation während der NS-Zeit zu begreifen begannen. Auch der Philosoph Karl Jaspers beklagte nach dem Amtsantritt Kiesingers, nun repräsentiere ein "alter Nationalsozialist" die Bundesrepublik; Jaspers glaubte, Kiesinger würde die Demokratie wieder abschaffen.
Ganz ähnlich unterstellte Klarsfeld, der Kanzler wolle zum Nationalsozialismus zurückkehren, hege revanchistische Pläne und halte nichts vom Frieden in Europa. Aus heutiger Sicht waren die Befürchtungen von Jaspers und Klarsfeld übertrieben. Was nichts an der Vehemenz ihrer damaligen Überzeugungen ändert, schließlich war die weitere Entwicklung der Bundesrepublik noch ungewiss.
Die Ohrfeige machte aller Welt die wachsende Wut darüber sichtbar, dass Ex-Nazis als mutmaßliche Neo-Nazis immer noch oder schon wieder am Ruder waren.
Sinnbild für den Konflikt zwischen Jungen und Alten
In Zeiten allerdings, in denen körperliche Züchtigung verbreitet war, hatte eine Ohrfeige neben der aggressiv-demütigenden fast immer auch eine erzieherische Seite. Ob es Klarsfeld nun intendiert hat oder nicht: Auf symbolischer Ebene bestraften durch ihre Ohrfeige die Kinder die Eltern für deren Missetaten und beanspruchten die moralische Hoheit.
Die Auseinandersetzung zwischen den jungen Aufklärern und den Alten, die sich gereinigt glaubten von brauner Besudelung, prägte die große gesellschaftliche Auseinandersetzung vor und nach 1968. Klarsfelds mutig-dreiste Ohrfeige wurde zum Sinnbild dieses Konflikts.
Heute wissen wir: Beide haben der Demokratie passable Dienste geleistet – die Generation der Ohrfeigenden wie die Generation des Geohrfeigten. Ob das allerdings beweist, dass eine schallende Ohrfeige zur rechten Zeit nicht schadet, sei dahingestellt.