Beck: "Wir haben uns beide verändert"

Moderation: Dieter Kassel · 06.03.2008
Vor 25 Jahren wurden die Grünen erstmals in den Bundestag gewählt. Marieluise Beck, eine der ersten Abgeordneten, erinnert sich an die "euphorische Stimmung", als 1983 das Wahlergebnis von 5,6 Prozent bekannt gegeben wurde. Heiner Geißler ist noch die "bunte Truppe" gegenwärtig, die einen "Anschlag auf die bisherige Tradition" bedeutete.
Dieter Kassel: Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 6. März 1983 war ausreichend für die Bildung einer schwarz-gelben Koalitionsregierung, die dann Ende März Helmut Kohl zum Bundeskanzler wählte. Daran können sich etliche Menschen noch erinnern, an die Wahlergebnisse im Einzelnen wohl bei den meisten Parteien nicht mehr so richtig. Es ist ja ein Vierteljahrhundert her, aber eine Zahl, die haben viele noch in Erinnerung. 5,6 Prozent der Stimmen bekamen damals die Grünen. Und damit konnten sie zum ersten Mal in ihrer damals noch sehr jungen Geschichte in den Deutschen Bundestag einziehen. Es zog ein u.a. Marieluise Beck, damals noch Marieluise Beck-Oberdorf. Sie war dann später zusammen mit Otto Schily und Petra Kelly eine der drei Sprecherinnen der ersten Bundestagsfraktion ihrer Partei. Sie sitzt nach einigen Unterbrechungen im Moment gerade wieder für die Grünen im Bundestag, und ich begrüße sie jetzt am Telefon. Guten Morgen, Frau Beck!

Marieluise Beck: Guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Ebenfalls in dem Bundestag saß Heiner Geißler. Er war damals Generalsekretär der CDU und Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit. Guten Morgen, Herr Geißler!

Heiner Geißler: Guten Morgen!

Kassel: Reden wir doch mal über den Wahlabend, damals noch Hochrechnungen von ARD und ZDF, die anderen gab es noch nicht oder waren noch nicht wichtig. Als dann irgendwann am späten Sonntagabend klar war, die Grünen haben es geschafft, was ging Ihnen da durch den Kopf?

Geißler: Ja, wen fragen Sie da?

Kassel: Sie, Herr Geißler.

Geißler: Geärgert hat es mich nicht, der Einzug der Grünen hat dafür gesorgt, die CDU hatte das beste Wahlergebnis in ihrer ganzen Geschichte mit Ausnahme 1976, nämlich 48,8 Prozent. Das waren damals noch die Zahlen, mit denen die CDU gekämpft hat, im Gegensatz zu heute.

Beck: Davon kann Frau Merkel nur träumen.

Geißler: Und wir hätten die absolute Mehrheit der Sitze gehabt. Aber nun kamen da plötzlich knapp über fünf Prozent die Grünen herein. Und nach dem D'Hondtschen Wahlsystem hat das eben nachher für die absolute Mehrheit nicht gereicht. Das hat mich beschäftigt.

Kassel: Hatten Sie nicht auch das Gefühl damals, eigentlich, mal abgesehen davon, dass sie die absolute Mehrheit kaputt machen, eigentlich wollen wir diese Leute nicht im Bundestag?

Geißler: Nein, das habe ich nie gedacht. Die sind ja auch gewählt worden. Und man konnte ja schon damals die Grünen nicht so radikalisieren, wie das lange Zeit in der Tat geschehen ist. Vor allem waren die Grünen ja auch nicht einheitlich. Man hatte die Frankfurter Grünen, das war Joschka Fischer, Cohn-Bendit und die Frau Beck, glaube ich, hat auch eher zu dieser Gruppe gehört.

Kassel: Nun, streng genommen, die Baden-Württemberger Grünen im Fall von Frau Beck.

Geißler: Ja, das auch noch nicht.

Beck: Überhaupt nicht, Herr Geißler.

Geißler: Und dann man hatte aber die Hamburger.

Kassel: Moment, jetzt müssen wir Frau Beck sofort zu Wort kommen lassen, weil sie mir widerspricht, und ich habe ihr versprochen, dann kommt sie zu Wort. Nicht? Warum nicht Baden-Württemberg? Jetzt habe ich Sie eingetütet.

Beck: Nein, ich kam ja aus Baden-Württemberg, und die baden-württembergischen Grünen waren ein sehr bürgerlicher Landesverband.

Geißler: Ja.

Beck: Unser Prinzip war immer der Dialog in der Politik. Wir hatten sehr viele liberale Anthroposophen in unseren eigenen Reihen. Es gab viele Menschen, gerade aus dem ländlichen Raum, die Ökologen im Sinne von Naturschützern waren, Frankfurter Sponti, das ist bei mir nicht anzusiedeln.
Kassel: Ja, darin widersprechen Sie mir ja nicht. Ich wollte Sie ja schützen vor Herrn Geißlers Urteil und hab gesagt, Sie waren keine der Frankfurter. Sie waren eine der südwestdeutschen Grünen. Wie war das denn, Frau Beck, für Sie, erst mal reden wir auch noch mal über den Wahlabend, als Ihnen dann irgendwann, vermutlich mit einem Gläschen Sekt in der Hand, klar wurde, wir haben es geschafft. War das nur Freude oder auch ein bisschen Angst davor, jetzt wird es Ernst.

Beck: Nein, von Angst kann überhaupt nicht die Rede sein. Es war natürlich eine absolut euphorische Stimmung. Ich war nicht in Bonn, ich war ja derzeit noch keine Bundespolitikerin, sondern mit meinen Leuten in Baden-Württemberg. Und die Tatsache, dass wir über diese fünf Prozent gekommen waren, was ja eine sehr, sehr große Hürde ist, vor allen Dingen für eine so junge Partei, die ja auch sehr viel kreatives Chaos in sich vereint hat, die war einfach so großartig, dass es ein Freudentaumel war, und an Angst konnte man da nun wirklich nicht denken an dem Abend.

Kassel: Die konstituierende Sitzung des Bundestags dann, Herr Geißler, das erste Mal mit den Grünen, das erste Mal mit einem Haufen von Leuten, die keinen Anzug und keine Krawatte trugen. Wie wirkte das auf Sie damals?

Geißler: Ja, ich war schon damals kein Liebhaber von Krawatten, und aus dem Grunde hat mich das weiter nicht gestört. Es war eine Herausforderung, das muss ich sagen, und zwar ganz einfach deswegen, weil bisher die Parteien, das Erscheinungsbild im Bundestag war schwarz, grau und männlich. So, das war das Bild, das sich dem Betrachter ergeben hat, wenn man das Fernsehen eingeschaltet hat. Und jetzt kam da plötzlich eine bunte Truppe, die sogar, glaube ich, schon damals mehrheitlich weiblich war. Und das war schon eine gewisse Herausforderung und hat dann letztendlich auch zu einer Veränderung des Images der anderen Parteien geführt. Das muss man ja zugeben.

Kassel: Hat es zu einer Verschärfung der Debatten und der Grüppchenbildung geführt?

Geißler: Ja, ja. Es gab natürlich innerhalb der CDU/CSU schon viele, die das nicht nur als farbliche Provokation empfanden, sondern sozusagen auch als Angriff oder als Anschlag auf halt die bisherige Tradition, und deswegen hat sich die Diskussion da schon verschärft. Die Auseinandersetzung wurde sehr radikalisiert. Das hing allerdings mit den Inhalten zusammen, das muss man hinzufügen.

Kassel: Entschuldigen Sie, Herr Geißler, dann wollen wir doch auf einen der Inhalte, der natürlich damals sehr aktuell war und für alle sehr bedeutend, kommen. Stichwort NATO-Doppelbeschluss. Da gab es ein Interview von Joschka Fischer im "Spiegel", und Sie haben auf dieses Interview dann später in einer Bundestagssitzung, in einer Debatte zum Doppelbeschluss reagiert. Das ist bis heute legendär, und wir wollen ganz kurz einen Ausschnitt aus Ihrer Antwort auf Fischer damals hören.

O-Ton-Einspielung Geißler: Der Pazifismus der 30er Jahre, der in seiner gesinnungsethischen Begründung sich nur wenig von dem unterscheidet, was wir heute in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht.

Kassel: Das gab damals natürlich heftige Reaktionen. Sie galten damals auch als einer der wirklichen Heißsporne der CDU. Wenn Sie das jetzt hören, Herr Geißler, inhaltlich immer noch richtig oder nicht mehr?

Geißler: Natürlich, absolut richtig. Ich hätte natürlich sagen sollen, der Pazifismus der 30er Jahre in den westlichen Demokratien. Ich hab damit nicht Ossietzky gemeint oder Waltemathe oder andere Leute, sondern die Parallele war ja eindeutig. Denn das hat die Grünen und die CDU getrennt, die Frage, welche Rolle spielt die NATO. Und in welcher Situation befindet sich Deutschland und in Europa angesichts dieser Herausforderung der Sowjetunion, an der Spitze diese Breschnew-Clique von alten Männern, die zum Teil gar nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sind. Können wir uns gegen die Leute verteidigen oder nicht?

Beck: Darf ich doch jetzt vielleicht ...

Kassel: Ja, absolut, Frau Beck. Sie wären jetzt dran. Ich wollte gerade sagen, kommentieren Sie bitte.

Beck: Ich würde heute sehr wohl und einig gehen mit Herrn Geißler, dass die Appeasement-Politik, es war ja nicht Pazifismus, sondern die Appeasement-Politik des Westens damals, Hitler nicht rechtzeitig genug in den Arm gefallen ist. Allerdings war der Vorwurf, der ja an die Grünen gerichtet war, wir hatten ja keine historische Debatte über die 30er Jahre, insofern falsch, weil der Protest der Grünen und vieler, vieler Menschen in der Republik sich gegen die nächste Stufe der Atombewaffnung und Atomaufrüstung richtete. Unsere Botschaft richtete sich immer ganz klar sowohl nach Russland als auch in die USA. Wir haben anders als zum Beispiel die DKP zu der Zeit immer von Pershing aber auch von den SS20 gesprochen. Und unsere Botschaft war, das Wettrüsten, das führt in eine Spirale, die immer gefährlicher wird. Das war ein anderes Thema, Herr Geißler, als wie Sie es angesprochen haben.

Geißler: Na ja.

Kassel: Wir wollen jetzt nicht die Debatte von '83 führen.

Geißler: Einen Satz muss ich noch sagen.

Kassel: Einen.

Geißler: Die Pershings gab es noch gar nicht. Die Grünen und die Friedensbewegung haben gegen Raketen demonstriert, die es gar nicht gab. Aber wir hatten über 300 SS20, 21 Raketen mit je drei atomaren Sprengköpfen, und die waren halt auf Frankfurt, Bonn und Hamburg und Paris gerichtet. Und deshalb war es die schiefe Gefechtslage.

Kassel: Jetzt sind kurz vorm Kalten Krieg. Dann lassen wir mal Frau Beck noch mal zu Wort kommen.

Geißler: Ja, Frau Beck, aber etwas ist ja auch bemerkenswert.

Kassel: Wir führen nicht die NATO-Doppelbeschluss-Debatte.

Geißler: Aber der Joschka Fischer, der uns ja vorgeworfen hatte, wir würden ein atomares Auschwitz vorbereiten.

Kassel: Das war das "Spiegel"-Interview.

Geißler: Und meine Kritik war ja eine Antwort auf das. Der ist ja nachher an der Spitze der NATO und der Bundeswehr im Kosovo einmarschiert, hat genau das getan, nämlich Schutz der Demokratie und der Menschenrechte, wofür wir immer eingetreten sind.

Kassel: Frau Beck, lassen Sie nicht ins Bockshorn jagen von dieser Debatte.

Beck: Nein, ich habe nur leider Zugang zum Gespräch. Das ist das Problem.

Kassel: Warum nicht?

Beck: Ich möchte noch einmal sagen, dass auch dieser Vergleich, der jetzt gezogen wird, durch und durch schief ist. Noch einmal, es ging um atomare Bewaffnung, von der wir wussten, wenn jemals diese Waffen eingesetzt werden, wird von Europa nur verbrannte Erde übrig bleiben.

Geißler: Ja, das ist wahr.

Beck: Es ging im Kosovo um die Entscheidung, Schutz von Menschen zu gewähren, zu verhindern, dass ein Genozid stattfindet, und das auf dem Hintergrund, dass wir hatten sehen können, dass mit der Ermordung dieser 8000 Menschen in Srebrenica und den vielen, vielen Verbrechen davor in Bosnien mit den Tschetniks, mit den Extremisten eine Gruppe in Europa wieder am Werke war, bei der wir uns nicht hatten vorstellen können, dass es so etwas wieder gibt, Völkermord und Konzentrationslager in Europa in den 90er Jahren.

Geißler: Sehen Sie, stimme ich Ihnen zu.

Kassel: Herr Geißler stimmt Ihnen zwar zu. Aber, Frau Beck, wenn ich das jetzt höre, ich hatte eigentlich fast gedacht, wir kommen gegen Ende unseres Gespräches natürlich zu der Frage, nach 25 Jahren sind die Unterschiede zwischen einer Partei wie der CDU und den Grünen heute wesentlich kleiner als damals. Sind sie das möglicherweise in Ihren Augen nicht?

Beck: Wir haben uns beide verändert. Das hat Herr Geißler sehr richtig gesagt, und zwar nicht nur in dem äußerlichen Aussehen, sondern vor allen Dingen in unseren inhaltlichen Aussagen. Schauen Sie, eine Frau van der Leyen, die hätte doch vor 25 Jahren fast bei den Grünen sein können. Die Debatte über Energiealternativen, die Klimafrage ist bei der Bundeskanzlerin zur Chefsache erklärt worden. Wir haben uns beide verändert. Das ist vielleicht auch die gute Botschaft und die gute Nachricht, dass in parlamentarischen Demokratien harte Debatte tatsächlich dazu führen können, dass es insgesamt in der Gesellschaft und auch bei den politischen Parteien Umdenkungsprozesse gibt.

Kassel: Ist es denn, Herr Geißler, inzwischen soweit, dass CDU und Grüne miteinander können?

Geißler: Ja, das ist schon überfällig. Ich habe das noch zu der Zeit, als ich Generalsekretär war, schon immer vertreten, dass die CDU auch Koalitionen eingehen sollte mit den Grünen, nachdem eigentlich das Haupthindernis inhaltlich weggefallen ist, nämlich die Außenpolitik und die Europapolitik. Da gibt es ja diese Unterschiede nicht mehr, wie Frau Beck eben gerade gesagt hat. Es gibt keinen Grund, warum die CDU eigentlich mit der SPD leichter eine Koalition machen sollte als mit den Grünen. Und deswegen ist es tatsächlich eine frische, auch eine lebendige und eine hoffnungsvolle Option für die Zukunft, eine solche neue Koalition.

Beck: Wobei ich nicht verschweigen möchte, Herr Geißler, erstens ist mir das neu, das Sie das damals schon gedacht haben.

Geißler: Ja, ja, ja.

Beck: Vielleicht hätte man sich früher mal unterhalten sollen miteinander.

Geißler: Auch geschrieben.

Kassel: Das tun Sie jetzt.

Beck: Aber es bleibt natürlich nach wie vor eine ganz zentrale Frage. Die CDU setzt nach wie vor auf die Atomkraft. Es ist mir unverständlich, wie man das nach Tschernobyl noch tun kann. Es gibt schon auch noch in diesen Fragen, gerade auch in den ökologischen, die so zentral wichtig sind, doch sehr, sehr tiefe Gräben zwischen uns und auch über die Frage der sozialen Teilhabe in dieser Gesellschaft, auch über Einwanderung, wenn ich die Koch-Kampagne mir anhöre, gibt es doch noch viele, viele Kilometer, die zwischen uns liegen in mancher Frage.

Kassel: 25 Jahre haben Annäherung gebracht, aber auch Grenzen stehen lassen. Ich danke Ihnen beiden. Das war Marieluise Beck, 1983 eine der ersten Grünen, die in den Bundestag eingezogen ist und Heiner Geißler, damals Generalsekretär und Bundesfamilienminister.