Niemand begrüßt mich so schön wie meine kleine Tochter Emilia. Sie springt im Kreis, fasst meine Hand und zieht mich ins Kinderzimmer. Keine Frage, ich bin wichtig für sie. Ich bin ihre Mutter. Aber wen genau sieht sie, wenn sie mich anschaut? Und wird ihr Bild von mir irgendwann bröckeln? Ich wünsche mir natürlich sehr, dass wir eine gute Beziehung haben. Auch später, wenn sie erwachsen ist. Aber ich weiß, das ist nicht selbstverständlich.
Meine Mutter ist ein ganz warmherziger Mensch – und das ist krass: Das macht mich sofort emotional. Da muss ich direkt ein bisschen aufpassen. Ich fand, sie hat mich nicht losgelassen. Ich glaube, das war das Thema von uns. Sie hat mich zwar gelassen, aber dann hat sie mich nicht weggehen lassen.
Da muss ich erst einmal atmen. Ich möchte nicht so sein wie meine Mutter. Da fällt mir erst einmal das Negative ein, das Nicht-Zuhören, nicht richtig auf Menschen eingehen können.
Jede Mutter-Tochter-Beziehung ist anders. Oft sind die Beziehungen eng. Ich habe mit Frauen gesprochen, die ihrer Mutter sehr nah sind, und ich habe mit Frauen gesprochen, die Konflikte mit ihrer Mutter haben. In jedem dieser Gespräche flossen irgendwann Tränen. Alles Frauen, die im Leben stehen, arbeiten, manche haben selbst Kinder, andere nicht. Sie alle eint: Über die Beziehung zur Mutter sagen sie, sie sei eine besondere, eine einzigartige.
"Die Mutter ist die erste Beziehung in unserem Leben, der erste Mensch, mit dem wir wirklich eine Beziehung eingehen", sagt die Journalistin Silia Wiebe. Sie hat ein Buch über Mutter-Tochter-Beziehungen geschrieben. "Unsere Mütter" heißt es. Im Untertitel "Wie Töchter sie lieben und mit ihnen kämpfen".
Mütter und Töchter seien "immer sehr eng miteinander", sagt Wiebe. "Es gibt Studien, die gezeigt haben, dass zwischen Müttern und Töchtern immer mehr Reibung ist als zwischen Müttern und Söhnen." Aber Reibung erzeugte ja Wärme. "Mutter-Tochter-Beziehungen sind meistens innig, aber eben oft auch konfliktreich. Meistens ist beides da – Konfliktpotenzial und Liebe. Das macht die Beziehung natürlich schon sehr besonders."
Wie – beschreibt die Journalistin am eigenen Beispiel: "Ich habe mir manchmal Freundschaften gesucht zu Menschen, die eine gewisse Ähnlichkeit haben zu meiner Mutter – und bei denen ich mich unglaublich angestrengt habe und so um ihre Liebe gebuhlt habe und gekämpft habe und wirklich alles aufgewandt habe."
Familienbeziehungen sind ambivalent
Es ist ein ständiges Ringen um Liebe, um Anerkennung. Fragt man aber Soziologen oder Soziologinnen nach dem Verhältnis von Müttern und Töchtern, bekommt man die Antwort: Alles im grünen Bereich, und zwar egal, wo man hinschaut. Diese Beziehung sei seit langer Zeit gleichbleibend gut, das heißt: eng.
In einer
Studie mit dem Namen "pairfam" untersuchen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Familien und andere enge Beziehungen. Wie häufig sehen sich Eltern und Kinder? Wie weit leben sie voneinander entfernt? Helfen sie sich finanziell oder in der Pflege? Haben sie ähnliche Ansichten? Fühlen sie sich an ihre Familie gebunden, sind sie solidarisch?
"Der durchaus positiv konnotierte Solidaritätsbegriff sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade die besondere Enge familiärer Beziehungen auch spezifische Konfliktpotenziale in sich birgt", schreibt Karsten Hank in seinem Handbuch Familiensoziologie. "Freunde kann man sich aussuchen, die Eltern aber nicht. Daher werden die Generationenbeziehungen innerhalb von Familien häufig auch als ambivalent bezeichnet."
Gerade für Töchter und Mütter ist diese Ambivalenz ein ewiges Thema. Kann man als Tochter überhaupt einigermaßen neutral über die Frau sprechen, die einen geboren hat, die einen großgezogen, erzogen hat – die das erste weibliche Vorbild ist?
Die Soziologin und Familienforscherin Marianne Krüll beantwortet diese Frage mit Blick auf die gesamte Gesellschaft. Denn die Rolle der Frau, vor allem der Mutter sei in unserer Männergesellschaft eine sehr konflikthafte. "Da ist es immer die Frau, die die nachteilige Rolle hat, und alle Töchter wollen besser sein als die Mutter. Wir wollen nicht ihre Probleme in der Gesellschaft haben. Da wollen die Töchter etwas anderes machen und machen das der Mutter zum Vorwurf", sagt Marianne Krüll. "Was nicht so ganz fair ist."
"Das ist natürlich jetzt eine Glatteisfrage"
"Was findest du, was haben wir denn für eine Beziehung? Haben wir eine harmonische Mutter-Tochter-Beziehung oder kracht es?", frage ich meine Mutter. Anna Reidhammer.
"Das ist natürlich jetzt eine Glatteisfrage. Was soll ich jetzt sagen? Dass Mutter-Tochter-Beziehungen sehr häufig von Ambivalenz geprägt sind, das wird wahrscheinlich für unsere Beziehung auch so sein. Dass man die Nähe sucht und dass man sich schnell zu nah kommt. Dann ist es so: Da kriegt man so einen leichten Schlag, so einen leichten elektrischen Schlag, und dann geht man wieder bisschen weiter weg, weil man manchmal selber überhaupt nicht merkt, dass irgendetwas 'too much' war. Man denkt noch, man ist noch im grünen Bereich und zack - war es zu viel."
Zack war es wieder zu viel. Könnte ich auch sagen, über sie.
"Ich weiß echt noch gut, in einer der ersten Nächte, wo du dann in deinem Bettchen neben mir warst, da habe ich mit der Hand so rüber gelangt zu dir und habe dein Köpfchen gestreichelt und habe gedacht: Das wird gut, soll gut werden."
Die Hände meiner Mutter. Wenn mich jemand nach meiner frühesten Erinnerung an meine Mutter fragt, dann fallen mir ihre Hände ein. Die Nägel kurz, die Finger lang, frisch eingecremt, immer gepflegt. Oft hat sie mir mit diesen weichen Händen meinen Rücken gekrault. Die Mutter – sie ist die erste körperliche Beziehung, die engste, die ich mir vorstellen kann. Auch die frühen Erinnerungen an die Mutter sind oft körperlich, jenseits der Sprache.
Es ist eigentlich ein Geräusch: ein Geräusch, das etwas Tröstliches, Beruhigendes hat, ein beruhigendes Brummen. Das mache ich tatsächlich auch selber.
Das Bild ist, dass wir mal spazieren waren. Wir saßen nebeneinander und keiner hat etwas geredet. Wir waren beide still nebeneinander. Das war total schön, sich nur zu spüren. Wir sind zwei unterschiedliche Menschen, die verbunden sind, zusammen auf dieser Bank sitzen. Das fand ich sehr berührend.
Das ist das, was sie, glaube ich, auch total geliebt hat, dass ich an ihrem Hals hänge - und sie riecht nach Vanille. Ich war ein totales Schmusekind. Das wollte sie auch haben, glaube ich. Das hat sie bestimmt sehr gefördert. Dieser Geruch an ihrem Hals, dieser Vanillegeruch und diese wahnsinnige Geborgenheit. Das war schon toll.
Früher Körperkontakt ist prägend
"Gerade die ganz frühen Erfahrungen in den ersten Monaten und in den ersten Lebensjahren, die sind bei Mutter-Tochter-Beziehungen prägend für das ganze Leben." Bindungstheorie, nennt man das, wovon Silia Wiebe hier spricht.
Sei die Mutter dem Kind zugewandt, verbringe Zeit mit dem Kinde, lächle ihm zu, sei offen und zeige Interesse, "dann übt das Kind im Grunde, Beziehung zu haben, und man weiß heute auch aus Studien, dass erwachsene Frauen größere Schwierigkeiten haben mit ihren Beziehungen, wenn in den ersten Lebensjahren die Beziehung zur Mutter unsicher war".
Die Mutter-Kind-Beziehung in den ersten Jahren ist wichtig für unser ganzes Leben, sagt Silia Wiebe.© Getty Images / Digital Vision / Oliver Rossi
Das heißt: War die Mutter mit vielen persönlichen Problemen beschäftigt - seien es berufliche Probleme, Beziehungsprobleme, finanzielle Probleme oder andere Ängste, die nichts mit dem Kind zu tun hatten, "dann versteht das Kind nicht: Mama ist gerade mit Tausend anderen Dingen beschäftigt und kann sich gar nicht richtig um mich kümmern, sondern das Kind empfindet: Mit mir stimmt was nicht. Meine Mutter wendet sich mir nicht zu. Sie lächelt mich nicht an", sagt Silia Wiebe. "Das Kind schließt daraus: Ich bin nicht okay. Deshalb ist die Mutter-Kind-Beziehung in den ersten Jahren so wichtig für unser ganzes Leben."
Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach engen Beziehungen
Der englische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby hat die Bindungstheorie in den 50er-Jahren entwickelt. Demnach haben alle Menschen ein angeborenes Bedürfnis, eine enge, vertrauens- und gefühlvolle Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen.
Sein Buch "Mutterliebe und kindliche Entwicklung" beginnt Bowlby mit der Feststellung, wie wichtig es sei, "dass sowohl Säugling wie Kleinkind die Erfahrung einer warmherzigen, intimen und stetigen Beziehung zur Mutter machen (oder einer gleichbleibenden Mutter-Ersatz-Person, von der es stetig bemuttert wird), einer Beziehung, die für beide Befriedigung und Genuss bedeutet, und von der Kinderpsychiater und viele andere heute glauben, dass sie die Grundlage für die seelische Gesundheit und Charakterentwicklung bildet. Einen Zustand, in dem das Kind diese Beziehung nicht besitzt, nennen wir 'Mutterentbehrung'."
Auch ich frage mich: Ist meine Tochter sicher an mich gebunden? Schaffe ich es, ihr so zugewandt zu sein, dass sie sich richtig fühlt in dieser Welt? Hoffentlich hat sie den Stress, den ich bei der Rückkehr in den Job hatte, nicht so abbekommen, dass er bleibende Spuren hinterlässt. Hoffentlich wird sie mir später keine Vorwürfe machen, dass ich, als sie neun Monate Jahr alt war, wieder anfing zu arbeiten, und damit genau das mache, was meine Mutter bei mir gemacht hat... Und ich war erst sechs Wochen alt.
Frauen können es eigentlich nie richtig machen
Die oft ähnlich klingenden Vorwürfe gegenüber Müttern lassen sich auf das damit verbundene Rollenbild in unserer Gesellschaft zurückführen. Davon ist die Soziologin Marianne Krüll überzeugt. Viele Jahre lang hat sie Seminare für Frauen gegeben, die Konflikte mit ihrer Mutter haben.
"Eine Mutter muss eben eine richtige Mutter sein" - und diesen Anspruch könne sie kaum erfüllen, sagt Krüll. "Wenn sie sich um die Kinder zu sehr kümmert, dann ist sie überversorgend, wenn sie sich nicht um sie kümmert, dann ist sie vernachlässigend. Die Mutter macht es immer falsch, weil das Modell ist: Sie ist richtig in allem, und das geht nie. Denn die Umstände sind so, dass Mutterschaft eigentlich der unmöglichste Beruf ist, den wir uns ausdenken können, und die Gesellschaft trägt das nicht mit, sondern macht es uns noch schwer mit den vielen Einschränkungen, die wir dann haben, beruflich oder überhaupt im Leben."
"Muttersein" ist emotional enorm aufgeladen. Die französische Philosophin Elisabeth Badinter hat in ihrem Buch die Geschichte der "Mutterliebe" untersucht. Sie zeigt: Die Bedeutung von Mutterschaft hat sich über die Jahrhunderte stark verändert. Sie leitet das von der Bedeutung ab, die Kinder für die Gesellschaft haben.
Noch im 17. Jahrhundert sind Kinder nicht mehr wert als Tiere. "Nicht nur bei unserer Geburt, sondern auch noch während unserer Kindheit sind wir wie Tiere, denen es an Vernunft, Denk- und Urteilsfähigkeit fehlt", zitiert Elisabeth Badinter den Fürstbischof von Genf, Franz von Sales. Wenn Kinder nicht mehr wert sind als Tiere, folgert sie, sei es naheliegend, dass auch Mütter ihre Babys mit Kälte behandeln. Ihr Beleg: Noch im 18. Jahrhundert geben in Paris die allermeisten Frauen ihre Neugeborenen in die Obhut anderer.
Elisabeth Badinter schließt daraus: "Die Mutterliebe ist, wie jedes Gefühl, ungewiss, vergänglich und unvollkommen. Sie ist möglicherweise – im Gegensatz zur verbreiteten Auffassung – kein Grundbestandteil der weiblichen Natur."
Erst während der Aufklärung, insbesondere durch Rousseau, und später durch die Psychoanalyse verändert sich der Blick auf das Kind und damit auch die Anforderungen an die Mutter. "Durch die Psychoanalyse wird die Mutter zur Hauptverantwortlichen für das Glück des Sprösslings befördert. Eine entsetzliche Aufgabe, die ihre Rolle erschöpfend festlegt", schreibt Elisabeth Badinter. "Gewiss ging die wachsende Belastung, die man ihr nach und nach aufbürdete, mit einer Aufwertung des Bildes der Mutter einher, doch verschleierte diese Aufwertung eine doppelte Falle, die gelegentlich als Entfremdung erlebt wird. Die Frau ist in der Mutterrolle eingesperrt und kann sich ihr nur bei Strafe moralischer Verurteilung entziehen."
"Die Frau ist in der Mutterrolle eingesperrt und kann sich ihr nur bei Strafe moralischer Verurteilung entziehen", so die Philosophin Elisabeth Badinter.© picture alliance / dpa / MAXPPP
Das konservative Mutterbild herrscht bis heute vor
Ist Mutterliebe also eine Erfindung der männerdominierten bürgerlichen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts? Klar ist nur, dieses Bild wirkt bis heute nach. In Form der einfühlsamen Vollzeitmutter, die sich einzig um das körperliche und seelische Wohlergehen ihres Kindes sorgt.
Die andere Mutter, die gut ausgebildet ist, die einen Beruf hat und so auch für den Unterhalt der Familie sorgt, muss sich trotz aller weiblicher Selbstbestimmung immer noch fragen lassen: Und wie geht es deinen Kindern damit?
Tatsächlich mache auch ich meiner Mutter Vorwürfe, dass sie zu wenig da war. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, war ich oft allein. Gemeinsames Mittagessen war die Ausnahme, ein geschmiertes Brot oder eine Tiefkühlpizza die Regel.
Das blieb auch, als ich längst erwachsen war ein Thema: Immer wieder gab es Streit, wenn ich meine Eltern besucht habe und nach sechs Stunden Fahrt – von Berlin nach München – niemand zu Hause war, um mich zu empfangen, und der Kühlschrank leer. Aber warum sollte allein meine Mutter dafür zuständig sein? Und: Warum kränkt mich das so tief?
"Ich habe immer wieder starke Konflikte mit meiner Mutter"
Um dem nachzugehen, besuche ich Sarah Trentzsch in ihrer Praxis in Berlin-Kreuzberg. Die Sozialpsychologin hat sich auf Mutter-Tochter-Beziehungen spezialisiert – dabei ist ihr der feministische Blick wichtig.
"Ich möchte meine Mutter positiv sehen und ihr nicht irgendwas überstülpen, was noch etwas Entwertendes hat, was aus unserer Kultur noch mitschwingt. Können Sie das nachvollziehen?", sage ich ihr.
"Ich kann das gut nachvollziehen, dass es auch ein feministischer Versuch sein kann, diese Beziehung noch einmal neu zu deuten. Ich finde, das ist ja auch eine gute Motivation, da noch einmal anders drauf zu gucken."
Wir steigen in das Gespräch ein, haben aber verabredet, dass ich nach den ersten Minuten das Aufnahmegerät abschalte.
"Zu Ihnen führt mich, dass ich ein Stück für das Radio mache. Darüber hinaus ist es aber schon so, dass ich mit meiner Mutter immer wieder starke Konflikte habe. Die greifen mich auch sehr an", erzähle ich, und prompt – mit dem Knopfdruck – beginnen bei mir die Tränen zu fließen.
"Gerade in dieser speziellen Mutter-Tochter-Beziehung, die sehr früh beginnt und sehr eng und aufgeladen ist, ist das Problem, dass es eine vorstehende Fantasie davon gibt, alles über die andere zu wissen. Das macht das Verstehen schwierig, wenn man gar nicht mehr die Distanz einnimmt und sich eigentlich fragt, wie ist es eigentlich wirklich bei der anderen? Wie fühlt sie? Wie denkt sie? Wie handelt sie, ohne schon irgendwie in die eigenen Muster, Bilder, Erfahrungen einzusortieren. Dadurch wird die andere Person immer reduziert auf ein kleines Bild."
Auch mal die Perspektive wechseln
Ich soll also meine Mutter verstehen? Da regt sich sofort Widerstand in mir. Sie soll doch mich sehen. Ich bin ihre Tochter.
"Ein Motiv, das mir immer wieder begegnet ist, ist der große Wunsch der Tochter, von der Mutter Anerkennung zu bekommen. Das hört komischerweise nie auf", sagt Silia Wiebe. Sie hat für ihr Buch "Unsere Mütter" mit zahlreichen Frauen gesprochen, die auf ganz unterschiedliche Weise ihre Mütter lieben, aber auch mit ihren Müttern kämpfen.
"Da ist zum Beispiel Ulrike, die mit Anfang 40 zurück ins Elternhaus gezogen ist, um ihre betagten Eltern zu pflegen. Der Vater starb dann relativ bald, und womit sie nicht gerechnet hatte, ihre Mutter wurde 100 Jahre alt. Ulrike hat sich sehr schwer damit getan, sich von der Mutter zu befreien. Die Mutter war sehr kritisch und hat ihr das Leben ziemlich schwergemacht, war nicht einverstanden mit der Wahl ihres Mannes. Ulrike ist gelaufen und gerannt und hat ihr die Wärmflasche hinter den Rücken gelegt und das Essen gekocht und die Betten gemacht, und die Wärmflasche war zu heiß, das Essen zu kalt, und eigentlich war nie etwas gut."
"Woher kommt das denn, dass wir bis ins hohe Alter es versuchen, es der Mutter recht zu machen. Jede Frau bleibt quasi immer das Kind ihrer Mutter. Warum ist das so?", frage ich.
"Wir bleiben die Tochter immer dann, wenn wir die Mutter nicht in anderen Situationen wahrnehmen, in denen sie auch gelebt hat, also in ihrem ganzen Leben. Wir müssen ihre Lebensgeschichte aufrollen. Wir müssen uns damit beschäftigen, wer sie auch noch war - und dann im Gefühl, eine Gleichwertige zu werden", sagt Marianne Krüll.
Wer seiner Mutter Vorwürfe macht, bleibt in der Kinderrolle
Genau darum geht es in den Mutter-Tochter-Seminaren von Marianne Krüll: die Mutter auf Augenhöhe zu betrachten. Wer seiner Mutter Vorwürfe macht, bleibt in der Kinderrolle, sagt die Soziologin. Als wir klein waren, als wir abhängig waren von der Mutter, als sie da war, oder eben nicht da war. Grimmig oder gut gelaunt, zärtlich oder zurückweisend. Dieses frühe Bild der Mutter, das haben wir in uns gespeichert.
"Die Mutter in mir ist eben nicht die reale Mutter, die außen noch lebt, wenn sie noch lebt, sondern die Mutter meiner Kindheit, die ganz, ganz tief in mir drin ist, von der ich meistens überhaupt nicht mal weiß. Ich höre ihre Stimme, wenn ich eine Warnung ausgesprochen fühle. Ich erkenne in einer anderen Person, die mir begegnet, meine Mutter wieder. Dieses Bild, es ist eben das Bild, das ich in mir trage. Es ist mehr als ein Bild, es ist ein Gefühl, ein tiefes Identitätsgefühl, das zu heilen, dass die innere Mutter eben nicht immer nur die Böse ist, die mir Vorwürfe macht, die mich ermahnt, sondern dass sie mir wohlwollend ist. Darum geht es entscheidend", erklärt Marianne Krüll.
Damit die Frauen in Marianne Krülls Seminaren, diese "Mutter in sich " erkennen, bittet die Soziologin die Frauen als Erstes, einen Brief an ihre Mutter zu schreiben. Es seien manchmal entsetzliche Geschichten, die darin erzählt werden. "Vorwürfe: Du hast mich nicht geliebt, du hast meinen Bruder mehr geliebt. Du warst eben keine richtige Mutter. Das ist oft der Vorwurf. Du hast mich nie gesehen oder hast mich nicht gewollt. Das ist auch oft ein Thema in dem Brief."
Im nächsten Schritt sollen die Frauen, die Geschichte ihrer Mutter in der Ich-Form erzählen. "Dieser Perspektivenwechsel ist unglaublich, bewirkt sehr, sehr viel. Weil all das, was sie als Vorwürfe formuliert haben oder berichtet haben, das geht nicht mehr. Man kann der Mutter, wenn sie selbst redet, nicht Vorwürfe in den Mund legen, es sind dann keine da."
Also steige auch ich in die Geschichte meiner Mutter ein: Mein Name ist Anna Riedhammer, ich wurde als ältestes von fünf Kindern in der Oberpfalz, in Bayern, geboren. Meine Mutter wollte mich unbedingt. Ich sollte ihre Gefährtin sein, war oft an ihrer Seite und half im Haushalt. Vier Geschwister habe ich, das war eine Menge Arbeit. Sobald ich erwachsen war, ging ich weg, suchte mir einen Freund, verdiente eigenes Geld, wurde Beamtin und dann schwanger, mit Julia, meinem einzigen Kind.
"Es muss halt organisiert werden, und das haben wir von Anfang an top organisiert. Wir waren ja echt so paritätisch beide in der gleichen Gehaltsstufe auf dem wirklich gleichen Arbeitsplatz. Wir haben dann durchgesetzt, was echt nicht leicht war in der bayerischen Verwaltung, dass wir als Beamte im gehobenen Dienst beide halbtags arbeiten, sprich zweieinhalb Tage. Mittwoch war Tauschtag", erinnert sich meine Mutter Anna.
Jobsharing in den 80er-Jahren. Das war ganz schön fortschrittlich. Nicht nur meine Eltern sind stolz darauf, dass sie sich ihr Leben so eingerichtet haben. Diese Geschichte ist fester Bestandteil unserer Familiensaga. Umso überraschter bin ich, als meine Mutter mir jetzt ihre Geschichte erzählt.
"Dein Vater, der wollte es ja unbedingt", sagt sie. "Es war so ungewöhnlich, aber er wollte das. Ich wäre auch daheimgeblieben, glaube ich, für eine Zeit lang natürlich nur. Aber irgendwie ein bisschen mehr, war ich schon auch so, dass ich arbeiten wollte und quasi das beweisen wollte: Es geht doch beides, geht doch alles, und habe dann wirklich alles gemacht. Beruf, Kind, Haushalt, Abendschule. Ehe, was auch immer dranhängt. Vergnügen. Da reden wir mal nicht von. Vergnügen war nicht arg viel."
"Wir funktionieren, wenn wir müssen"
"Ist das was, was du bedauerst? Dass vor lauter Kind und Aufgaben dein Vergnügen irgendwie auf der Strecke geblieben ist?", frage ich. "Da will ich jetzt nicht verbittert klingen, aber das kannte ich wirklich von der Pike auf. Ich bin eigentlich immer eingesetzt worden." Dann habe sie sich eben selbst "eingesetzt", meint sie. Eigentlich ziemlich hart.
"Das ist interessant, weil es mit dem Funktionieren und dass man dann so hart ist zu sich selbst: Da sind wir uns ähnlich." - "Das ist sehr spannend." - "Ja, in der Tat, da sind wir uns ähnlich, sehr sogar. Wir sind beide berufstätige Mütter, wir sind beide finanziell unabhängig und wir funktionieren, wenn wir müssen."
Auch die eigene Mutter war mal eine Tochter. Diesen Blick anzunehmen, kann auch in der späteren Beziehung zueinander helfen.© Getty Images / Digital Vision / Thomas Tolstrup
"Es ist einfach eine Veränderung", beschreibt Marianne Krüll den Prozess, den sie bei den Frauen in ihren Seminaren anstößt. "Das Bild der Mutter in mir verändert sich. Ich sag: So hätte ich es wahrscheinlich auch gemacht. Es ist kein Vorwurf mehr." Viele Frauen möchten hinterher mit ihren Müttern reden. "Und als sie vor ihrer Tür standen, mit der Mutter dann auf einmal zusammen waren, war die Mutter eine ganz andere. Auf einmal hat sie sie umarmt oder sogar selber angesprochen. Also die Veränderung, wenn ich mich verändere in mir, die ist enorm in der Beziehung. Das weiß man ja aus anderen Beziehungen auch."
Wenn Töchter also den Blick auf ihre Mutter ändern, verändert sich auch die Beziehung. Klingt banal, stimmt aber, betont Marianne Krüll. "Ich selbst darf eben als Tochter nicht darauf warten, dass die Mutter nun endlich das macht, was ich gerne möchte. Ich kann den ersten Schritt tun. Ich kann auf sie zugehen und mein Satz ist dann immer: mit Liebe und Neugier. Nicht ein: Was hast du damals gemacht, als ich Kind war, und das war so schlimm! Nicht als Vorwurf. Sondern: Warum? Was waren die Umstände? Das versteht die Mutter dann sofort, weil sie spürt: Wir wollen nicht einen Vorwurf machen, sondern sie verstehen, in Ihrer damaligen Situation."
"Ich selbst darf als Tochter nicht darauf warten, dass die Mutter nun endlich das macht, was ich gerne möchte", sagt Marianne Krüll.© picture alliance / dpa / Frank May
Jeder Mensch hat drei Mütter
Ich habe viel nachgedacht über das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter. Und eigentlich finde ich, jeder Mensch hat drei Mütter. Einmal die Mutter, die den gesellschaftlichen Vorstellungen von dem entspricht, was eine Mutter sein soll. Warm, zugewandt, ein bisschen selbstlos.
Und dann gibt dieses ganz frühe Bild von dem, wie die Mutter zu uns war, wie sie uns nah war, wie sie roch, aber auch wie sie gestraft oder uns verletzt hat. Das ist die Mutter, gegen die sich die Vorwürfe richten, nach deren Anerkennung sich manche bis ins hohe Alter sehnen.
Und es gibt noch die dritte Mutter. Die Mutter als Mensch. Die Perspektiven zu ändern, das ist es, was gelingen muss, betont Marianne Krüll. "Es geht eben darum, ein halb leeres Glas, was wir immer nur gesehen haben, in ein halb volles umzuwandeln und eine Perspektive zu sehen, die nicht nur Mutter, Fehler vorwirft, sondern sagt: Sie hat es so gemacht. Sie war die beste Mutter, die sie sein konnte. So ist es. Und ich bin auch die beste Tochter, die ich mit dieser Mutter sein kann. Das verschränkt sich dann. Dass wir auf die Seiten, die Fehler sind, eben anders gucken."
Und die Sozialpsychologin Sarah Trentzsch findet: Ich glaube, dass wenn Töchter sich dieser Herausforderung stellen, sich mit dieser konflikthaften Beziehung auseinanderzusetzen, dass sie das als Frau stärken kann – in ihrer eigenen Weiblichkeit, wie sie als Frau in der Welt stehen. Das wirkt natürlich auf die weiteren Beziehungen, aber auch auf andere Frauenbeziehungen, wie sie auf andere Frauen zugehen, dass sie da ein Aspekt von Emanzipation mitgestalten kann, auf der Beziehungsebene."
Auch die Beziehung der Mutter zu ihrer Mutter ist wichtig
Was wird meine Tochter Emilia wohl später mal über mich sagen? Wie wird sie mich beschreiben? Wird sie mir Vorwürfe machen? Wahrscheinlich. Ich wünsche mir dabei eigentlich nur: Dass es nicht allzu lange dauert, bis sie versteht, ich bin nur ein Mensch. Mit Fehlern, Schwächen und Macken. Und das gilt für alle Mütter. Auch für meine.
"Wenn du mich fragst, was ich mir wünsche. Dass du nett bist mit mir und mir manchmal Sachen verzeihst. Das muss man auch immer denken: Mutter ist Mutter. Aber Mutter ist auch nur ein Mensch, der zu einer bestimmten Zeit ein Kind auf die Welt gebracht hat. Aber ansonsten ist Mutter einfach nur ein Mensch. Das ist das, was ich sagen möchte."
Die Erstausstrahlung des Features von Julia Riedhammer war am 17. September 2020.
Es sprachen: Olaf Oelstrom, Birgit Dölling und die Autorin
Ton: Sonja Rebel
Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Kim Kindermann