Bedingungsloses Grundeinkommen

"Wir verschwenden eine Menge an Talenten"

Skizze einer Figur, die nach einem Geldschein an einer übergroßen Hand greift, diesen aber nicht erreicht.
Ohne Job- und Geldsorgen könnte man was aus seinem Leben machen, sagt Rutger Bregman. © imago
Rutger Bregman im Gespräch mit Dieter Kassel |
Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens würde unsere Gesellschaft radikal verändern. Denn: "Viele schwachsinnige Jobs, die der Welt kein Stück weiterhelfen, würden einfach langsam verschwinden", glaubt der Historiker Rutger Bregman.
Dieter Kassel: Der niederländische Historiker und Journalist Rutger Bregman schreibt für die "Washington Post", arbeitet für die BBC, und dort und auch in seinen Büchern betont er immer wieder, dass ein anderes Finanzsystem möglich, dass wirkliche Veränderungen denkbar sind, aber – so habe ich ihn in unserem Gespräch gefragt –, sind sie wirklich erwünscht, und ich habe ihn gefragt, ob er wirklich glaubt, dass die Politik oder auch ganz allgemein die Öffentlichkeit wirklich bereit ist und solche Veränderung überhaupt möchte?

Neue Aufgeschlossenheit gegenüber radikalen Ideen

Rutger Bregman: Absolut, besonders in den letzten Jahren. Gar nicht mal so sehr nach der Finanzkrise, aber vor allem nach dem Aufstieg Donald Trumps und nach dem Brexit, sehnen sich Millionen von Leuten in Europa und anderswo nach neuen Ideen und stehen radikalen Ideen, wie ich sie zum Beispiel in meinem Buch beschreibe, wesentlich offener gegenüber.
Zum ersten Mal schrieb ich über die Idee des universellen bedingungslosen Grundeinkommens vor vier oder fünf Jahren. Das ging damals komplett unter – niemand sprach darüber –, und jetzt ist das in aller Munde. Manche Leute meinten sogar schon, dass es inzwischen ein bisschen zu sehr Mainstream geworden sei und wird sogar schon auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos diskutiert und gilt nicht mehr als so eine radikale, anarchistische Idee. Ja, ich denke es gibt momentan einen Zeitgeist, in dem die Menschen radikalem Denken gegenüber viel aufgeschlossener sind als früher.
Kassel: Aber wenn Sie Dinge erwähnen wie die Wahl von Donald Trump oder auch das Brexit-Votum, was nun diese beiden Dinge angeht und auch andere Entwicklungen in vielen europäischen Ländern, da habe ich doch eher das Gefühl, dass die Leute sich nicht etwas Neues wünschen, ein neues Wirtschaftssystem, sondern, dass sie eher zurück zu etwas ganz Altem wollen, wirklich einer nur noch nationalen Wirtschaft, wie Trump das immer nennt: America first.
Bregmann: Ja, damit haben Sie vollkommen recht. Der große Philosoph und Soziologe Zygmunt Bauman nannte das Retrotopia, ein Sehnen nach der Vergangenheit, in der vermeintlich alles besser gewesen sei. Das ist auch eine Variante des utopischen Denkens, nur eben nicht auf die Zukunft gerichtet, sondern auf die Vergangenheit. Das ist oft so in Krisenzeiten, dass viele Dinge gleichzeitig passieren, dass verschiedene Kräfte uns in unterschiedliche Richtungen ziehen.
So sehen wir den Aufstieg des Rechtsextremismus. Wir haben den Brexit, Trump, all das. Das ist schon ziemlich extrem. Vor zehn, fünfzehn Jahren hätte niemand erwartet, dass etwas Derartiges eintritt. Gleichzeitig sehe ich aber auch, dass es viel einfacher geworden ist, radikale Ideen zu diskutieren, die in die entgegengesetzte Richtung gehen. Konzepte wie partizipatorische Demokratie, weniger arbeiten oder darüber nachdenken, was Arbeit bedeutet, Ideen zur multikulturellen Gesellschaft und Migration et cetera. In Krisenzeiten passieren viele Dinge parallel.

Bedingungsloses Grundeinkommen erneuert Gesellschaft

Kassel: Lassen Sie uns über die Idee eines Grundeinkommens reden. In Deutschland ist darüber auch schon vor Beginn der Finanzkrise die Krise diskutiert worden, es gibt viele Leute, die sich dafür aussprechen inzwischen. Es gibt natürlich auch immer noch viele, die sich dagegen aussprechen, aber völlig abgesehen von dieser Diskussion, ob es finanzierbar ist, ob es wirklich Sinn macht, wie würde denn ein solches Grundeinkommen dazu beitragen, eine neue Finanzkrise zu verhindern?
Bregmann: Das Grundeinkommen wäre nicht der direkteste Weg, um eine neue Finanzkrise zu verhindern. Wenn wir das wollen, müssen wir in den Finanzsektor eingreifen und unsere Banken regulieren, sie wieder kleiner werden lassen, wie sie es in den 50er- und 60er-Jahren waren. Eine der großen Tragödien unserer Zeit ist, dass es so viele unglaublich intelligente, talentierte junge Menschen gibt, die früher für die Regierung oder in der Forschung gearbeitet hätten oder Astronauten geworden wären, heute für das Silicon Valley oder Wall Street arbeiten, Banker oder Unternehmensanwälte werden wollen. Wir verschwenden also eine Menge an Talenten. Eine direkte Maßnahme wären striktere Regulierungen.
Wenn wir uns aber langfristig zu einer Gesellschaft mit bedingungslosem Grundeinkommen entwickeln würden, würde das alles radikal verändern. Wenn man heutzutage 18 Jahre alt ist, macht man sich Sorgen, ob man einen Job finden und genug Geld haben wird. Wenn man aber ein Grundeinkommen hat, kann man frei entscheiden, wie man seinen Lebensunterhalt verdient und was man aus seinem Leben macht.
Ich glaube, das hätte zum Ergebnis, dass viele unbedeutende schwachsinnige Jobs, die der Welt kein Stück weiterhelfen, einfach langsam verschwinden würden, weil die Menschen sie nicht mehr haben wollen. Ich denke als nicht, dass das Grundeinkommen eine kurzfristige, schnelle Lösung für unsere Probleme ist, mal abgesehen von der Armut. Natürlich, es wäre der effizienteste Weg, die Armut abzuschaffen, aber langfristig würde es uns helfen, eine deutlich andere Gesellschaft zu werden.

Tausende von Versionen des Kapitalismus

Kassel: Lassen Sie uns mal, abgesehen von der Idee des Grundeinkommens – Sie haben ja selber gesagt, das ist nur eine Idee, eine wichtige, aber die richtet sich gar nicht so direkt in Richtung Finanzkrise –, über andere Dinge reden. Sie sind ja auch bekannt als jemand, der Utopien durchaus verbreitet und sie für sinnvoll hält. Was würden Sie sich denn wünschen wirklich, was das Finanzsystem betrifft? Dinge innerhalb des Systems zu verändern oder idealerweise unser bestehendes System regelrecht abzuschaffen und durch ein neues System zu ersetzen?
Bregmann: Erst mal müssen wir sehen, dass es eine enorme Bandbreite an Möglichkeiten innerhalb des Kapitalismus gibt. Es gibt tausende von Versionen des Kapitalismus. Der Kapitalismus des Vereinigten Königreichs des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich deutlich von dem heutigen in Ländern wie Holland oder Deutschland. Norwegen funktioniert anders als die USA. Das muss man immer im Kopf haben. Es gibt viele Arten, die Bestie zu bändigen und zu regulieren und ihre produktiven Energien zu nutzen.
Ich würde mich also nicht als Antikapitalisten bezeichnen, aber ich bin für eine radikalere Formen, die uns vielleicht in ein Zeitalter führen, das wir postkapitalistisch nennen könnten. Ich weiß nicht, wie es aussehen wird, niemand kann die Zukunft exakt voraussagen, aber meine Herangehensweise war immer eine schrittweise. Ich denke, die Geschichte hat uns gezeigt, dass schnelle Revolutionen mit Versuchen, die Gesellschaft in ein paar Jahren rundum zu erneuern, einfach nicht funktionieren. Wir sind als Spezies nicht intelligent genug dafür. Was wir tun sollten, ist also zu experimentieren und dabei zu lernen. Da kommen wir wieder zum Grundeinkommen: Wir sehen viele Experimente damit auf der ganzen Welt, von Finnland bis Kanada.
Kassel: Über das bedingungslose Grundeinkommen, darüber haben wir ja schon viel gehört gerade von dem niederländischen Historiker Rutger Bregman, aber ich habe ihn natürlich in unserem Gespräch auch gefragt, was sich darüber hinaus noch ändern müsste.
Bregmann: Wir müssen grundlegend neu definieren, was Arbeit im 21. Jahrhundert ist. Es gibt heute eine Menge Leute mit tollen Lebensläufen, schönen Linked-In-Profilen, die auf guten Unis waren, die aber, wenn man sie fragt, ob ihr Job irgendwie wertvoll ist, ob er etwas bedeutet, ob er der Gesellschaft von Nutzen ist, nein sagen würden. Allgemein denken ein Drittel der arbeitenden Menschen in modernen Gesellschaften, dass ihr Job bedeutungslos ist. Das sind dann nicht Lehrer, Müllleute oder Pflegekräfte, sondern Leute, die in unserer Wissensgesellschaft sehr erfolgreich sein sollten, bei denen man davon ausgehen sollte, dass sie eigentlich wirklich wichtig sind, aber wenn diese Leute mal streiken würden, was sie ja nie tun, dann würde das niemanden kümmern.

BIP ist schlechte Maßeinheit für Fortschritt

Ich finde, das zeigt, dass wir neu darüber nachdenken müssen, was Arbeit ist und wer die wirklichen Wohlstandserzeuger sind und darüber, wie wir eine Wirtschaft, eine Form des Kapitalismus erschaffen können, die uns mehr echten Wohlstand, echte Werte erzeugen lässt, anstelle des rein finanziellen Wohlstands, denn das Bruttoinlandsprodukt ist eine unglaublich schlechte Maßeinheit für den Fortschritt. Man kann ökonomischen Wohlstand haben und kein Stück reicher sein. Man kann damit letztendlich sogar arm sein. Das ist die intellektuelle Herausforderung, die vor uns liegt: neu definieren, was Arbeit, Wohlstand und Fortschritt sind.
Kassel: Aber gerade, was Sie gesagt haben, dass man eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts haben kann, und trotzdem werden die Leute nicht reicher, vielleicht sogar ärmer, dass man – und das ist tatsächlich in Deutschland so – eine niedrige Arbeitslosigkeit haben kann, und trotzdem haben viele Leute Probleme, von ihrer Arbeit zu leben. All das erleben wir ja. Sie haben zum Teil geschrieben, was ich in Deutschland jeden Tag in der Zeitung lese. Auf der anderen Seite hat Deutschland die Finanzkrise relativ gut bewältigt, und die Politik sagt natürlich jetzt, na ja, das System funktioniert ja. Wir hatten eine so große Krise, und jetzt ist wieder alles in Ordnung. Das scheint mir doch das Problem zu sein, dass die Leute, die es entscheiden, dieses Bedürfnis nach Veränderung nicht so stark spüren.
Bregmann: Das ist typisch für unsere Zeit, und vielleicht gilt das besonders für Holland und Deutschland. Ich glaube, unsere beiden Länder sind sich da beide sehr ähnlich. Das große Problem unserer Zeit ist nicht, dass wir es nicht gut hätten. Es liegt darin, dass wir nicht wissen, wohin wir als nächstes steuern sollen, dass wir keine neuen utopischen Ideen für eine bessere Zukunft haben, und wenn man diese Ideen den Menschen nicht geben kann, dann beginnen sie, sich nach der Vergangenheit zu sehnen.
Wir sind eine Spezies von Geschichtenerzählern, wir wollen Teil von etwas Großem sein. Wenn man sich die Statistiken anschaut, sieht man, dass wir in den letzten 200 Jahren enorme Fortschritte gemacht haben. Wir sind reicher, wir sind gesünder, wir sind schlauer denn je, aber wir müssen uns weiterentwickeln. Das gibt unserem Leben und unseren Gesellschaften Bedeutung. Letzten Endes wollen wir Teil von etwas Größerem sein.

Veränderung lernen von Schwellenländern

Kassel: Aber könnte – das fällt mir am Schluss dabei wirklich ein –, könnte diese Veränderung, die Veränderung, über die wir gesprochen haben und vielleicht auch andere, könnten die vielleicht sinnvollerweise gar nicht in Nordamerika oder in Mitteleuropa, in Westeuropa beginnen, sondern ganz woanders, in den sogenannten Schwellenländern, die an das alte System noch nicht so gewöhnt sind und vielleicht eher noch diese Vision haben und bereit sind, von Anfang etwas ganz anderes zu machen?
Bregmann: Das ist richtig, und wir sehen auch schon, wie das passiert. Nehmen wir die partizipatorische Demokratie: Die Idee, dass die Bürger zu Politikern werden und sich selbst regieren, gehen Sie nach Lateinamerika, gehen Sie in die brasilianische Stadt Porto Alegre, wo man seit den 80er-Jahren damit sehr erfolgreich experimentiert hat. Man hat dort die Demokratie komplett neu erfunden. Denken Sie an die Idee des Grundeinkommens, eins der interessantesten Experimente fand tatsächlich in Indien statt, wo es Jahrhunderte von Anti-Armutsprogrammen gibt, von denen viele nicht wirklich funktionieren, oft wegen der Korruption. Die Entscheidung, dass Geld direkt den Menschen zu geben, entpuppte sich dann als wesentlich effektiver. Ja, wir leben heute in einer Zeit, in der wir viel von anderen Ländern lernen können, auf die wir früher eher herabgesehen haben.
Kassel: Das Gespräch mit Rutger Bregman können Sie, wie alle anderen Gespräche aus unserer Reihe, auch im Internet finden unter www.deutschlandfunkkultur.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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