Das leise Sterben der Insekten
In den vergangenen 27 Jahren sind laut einer Studie 75 Prozent der fliegenden Insekten in Deutschland verschwunden. Und ohne ein radikales Umdenken in der Landwirtschaft könnten schon in zehn Jahren auch die restlichen Bienen, Hummeln und Libellen ausgerottet sein.
Bienen, Hummeln, Libellen, Köcherfliegen, Schmetterlinge, Ohrwürmer, Heuschrecken – 90 Prozent der Tierarten weltweit sind Insekten. Fast eine Million Arten kennt die Wissenschaft und rechnet mit vielen Millionen mehr, die bislang noch unentdeckt in tropischen Regenwäldern leben. Dort gehören zu jeder Baumart 600 Insektenarten, die nur auf diesem und keinem anderen Baum leben.
In Deutschland leben etwa 100 verschiedene Säugetier-, aber 33.000 Insektenarten, etwa 9400 Hautflügler, also Wespen, Bienen, Ameisen und Hornissen, 9500 Zweiflügler, also Fliegen und Mücken, 6500 Käfer und etwa 3600 Schmetterlingsarten. Menschen gibt es seit zwei Millionen Jahren auf der Erde, Insekten seit 500 Millionen. Sie haben bis auf die Ozeane alle Lebensräume erobert, sogar die Antarktis.
Ein sehr schlechtes Jahr für Insekten
Johannes Steidle: "2016 war ein sehr, sehr schlechtes Jahr für Insekten – und alle, die mit offenen Augen durch die Gegend gegangen sind, haben das gesehen, dass es kaum Insekten gegeben hat. Das ist so ähnlich, wie wenn Sie zur Hauptverkehrszeit zwischen Stuttgart und München auf der Autobahn fahren und es gibt keine Autos. Da denken Sie sich auch: Was ist denn hier los?"
Professor Johannes Steidle, Zoologe an der Universität Hohenheim, verfasste mit 77 alarmierten Hautflügler-Experten eine Resolution: Ein riesiges Problem mit den Insekten bahnt sich an, war die Botschaft, und es müssen dringend Sofortmaßnahmen zum Schutz der Tiere ergriffen werden.
Johannes Steidle: "Ich kann mich nicht erinnern, dass es auf der Tagung irgendjemand gab, der gegen diese Forderungen war. Wir waren uns da eigentlich alle einig, dass was passieren muss, und auch außerhalb der Tagung, also danach, haben wir eigentlich nur Zustimmung gefunden."
Doch weder Medien noch die zuständigen Ministerien nahmen groß davon Kenntnis. Es war eine fast 30 Jahre dauernde, akribische Arbeit: Insektenforscher des Entomologischen Vereins Krefeld stellten von 1989 bis 2016 in gut 60 Naturschutzgebieten in Deutschland Insektenfallen auf – an Waldsäumen, in nährstoffarmen Heidelandschaften, auf sattem Grasland. Alle elf Tage wurden die toten Insekten gewogen. Insgesamt kamen 53 Kilo zusammen – viele Millionen einzelner Tiere.
Johannes Steidle: "Dabei wurde festgestellt, dass die Menge an Insekten, einfach nur gemessen an ihrem Gewicht, stetig über die Jahre abgenommen hat. Also zu Beginn der Untersuchungen wurden im Hochsommer so zwischen 5 und 20 Gramm Insekten pro Tag in der Falle gefunden und 2016 und kurz davor waren es noch 2 Gramm oder weniger, also eine deutliche Abnahme."
Studie schlägt ein wie eine Bombe
Es ist die erste flächendeckende Untersuchung zum Insektensterben in Deutschland. Um die Ursachen zu ermitteln, befassten sich die Forscher intensiv mit Temperaturen, Niederschlägen, Windgeschwindigkeiten, Pflanzengesellschaften, Lichtverhältnissen rund um die Fallen. Nichts davon konnte das Insektensterben erklären. Im Oktober 2017 veröffentlichten sie ihre Studie in einem renommierten Wissenschaftsjournal – sie schlug in der Fachwelt ein wie eine Bombe.
Teja Tscharntke: "Ich war extrem überrascht. Kaum ein Experte hat damit gerechnet, dass in Schutzgebieten ein so dramatischer Einbruch erfolgt ist."
Professor Teja Tscharntke ist Leiter der Agrarökologie an der Universität Göttingen.
Teja Tscharntke: "Mein Lieblingsinsekt, das sind ganz kleine Wespchen, meist in der Größenordnung von wenigen Millimetern, die aber funktionell unglaublich bedeutend sind. Es gibt Blattlauswespen, die ganz spezialisiert bestimmte Blattläuse attackieren und dann mumifizieren sie diese Blattläuse, um dann letztlich aus diesen Mumien zu schlüpfen. Das ist eine Wunderwelt von Kleinstinsekten, die sehr schön aussehen, metallisch grün-blau glänzen, die viel Freude machen – und das ist eine Gruppe, die mir besonders am Herzen liegt."
Von Industrie und Landwirtschaft hagelt es Kritik
Über die meisten dieser parasitischen Mini-Wespen ist so wenig bekannt, dass man nicht einmal sagen kann, wie gefährdet sie sind. Nach der Veröffentlichung der Krefelder Studie hagelte es von industriefreundlicher Seite Kritik unter der Gürtellinie. Die Autoren seien Hobbyforscher, hieß es – obwohl unter ihnen international anerkannte Experten sind. Die Datenerhebung sei unzureichend – obwohl es bislang keine gründlichere Erhebung in Deutschland gibt. Die Auswertung sei mangelhaft – obwohl ausgewiesene Statistiker sie an Universitäten fachgerecht durchgeführt hatten. Axel Ssymank, Biotop- und Artenschutz-Experte vom Bundesamt für Naturschutz.
Axel Ssymank: "Wir haben keinen Zweifel an der Seriosität dieser Studie zu rütteln. Sie hat vor allem auch, das ist sicherlich für Mitteleuropa einmalig, eine ganz genau definierte Methodik, die schon seit vielen Jahrzehnten in exakt der gleichen Form angewendet wird, sodass also die historisch aufgenommenen Daten mit den aktuellen Daten wirklich vergleichbar sind. Und auch viele andere Studien belegen, dass die Rückgänge enorm sind – und eben nicht nur ein paar Prozent, sondern sich in Größenordnungen 40, 50, 60, bis zu über 80 Prozent bewegen können."
Auch Axel Ssymank hat Lieblingsinsekten: Schwebfliegen, nach den Wildbienen die zweitwichtigsten Blütenbestäuber in Deutschland.
Axel Ssymank: "Der eine oder andere hat schon mal eine Fliege gesehen, eine Schwebfliege, die in der Luft steht, ganz schnell den Ort wechseln kann. Es gibt auch wandernde Schwebfliegen, was kaum jemand weiß, die über die Alpen ziehen. Es gibt andere Arten, die sind sehr ortstreu und verteidigen wenige Quadratmeter von Blüten gegen Eindringlinge, um sich eine Fortpflanzung mit ihren Weibchen zu sichern – also ein unheimlich breites Spektrum und auch enorme Leistungen."
Rückgänge von 84 Prozent
Der Naturschutz-Experte hat die Lage der Schwebfliegen im Bergischen Land untersucht.
Axel Ssymank: "Erhebliche Rückgänge in den Individuenzahlen, im Schnitt von 84 Prozent, auf einzelnen Flächen bis über 90 Prozent, und auch Rückgänge in den Artenzahlen. Somit kann man auch sagen, dass zumindest lokal Arten-Aussterbeprozesse nachgewiesen werden können."
Auch das Bundeslandwirtschaftsministerium erklärt im Januar 2018, die Zahlen der Krefelder Studie äußerst ernst zu nehmen und von eigenen Fachleuten überprüfen zu lassen.
Insektensterben. Schon 1990 brachte die Europäische Umweltagentur eine Schmetterlingsbeobachtung auf den Weg. Zwischen 1990 und 2011 hat sich die Zahl der Schmetterlinge auf Europas Wiesen demnach dramatisch reduziert – und Biologen wissen, dass Schmetterlinge anzeigen, wie gesund oder krank Ökosysteme insgesamt sind.
Insektensterben. Schon 1990 brachte die Europäische Umweltagentur eine Schmetterlingsbeobachtung auf den Weg. Zwischen 1990 und 2011 hat sich die Zahl der Schmetterlinge auf Europas Wiesen demnach dramatisch reduziert – und Biologen wissen, dass Schmetterlinge anzeigen, wie gesund oder krank Ökosysteme insgesamt sind.
Auch die alarmierende Lage der Vögel in Deutschland ist ein Indikator dafür, wie es um die Insekten steht. Denn Insekten sind Nahrungsquelle für mehr als die Hälfte aller Vogelarten. Konstantin Kreiser, Experte für EU-Naturschutzpolitik beim NABU, dem Naturschutzbund Deutschland.
Auch die Vögel verschwinden
Konstantin Kreiser: "Wir haben in Deutschland seit 1990 80 Prozent weniger Kiebitze. Das Rebhuhn ist sogar um 84 Prozent zurückgegangen. Es sind aber nicht nur die einzelnen Arten, sondern auch einfach die Menge an Individuen. Wir haben in den letzten zwölf Jahren über zwölf Millionen Vogel-Brutpaare in Deutschland verloren, die meisten darunter vom Star, unserem Vogel des Jahres 2018, der ganz stark auch von Insekten abhängt."
Konstantin Kreiser ist besonders vom Ameisenbläuling fasziniert. Der Falter lebt auf naturnahen, bäuerlichen Wiesen.
Konstantin Kreiser: "Die Raupen lassen sich dann von Ameisen in den Ameisenbau schleppen und leben dort in einer Art Symbiose mit den Ameisen. Das ist eine besondere Art, die den Zusammenhang zwischen Insekten und Landwirtschaft zeigt, aber auch, wie alles miteinander verwoben ist. Wir haben es mit dem Netz des Lebens zu tun, mit vielen Arten, wo keiner genau weiß, welche nützt dem anderen – und dafür steht dieser Ameisenbläuling."
Die meisten Insekten sind winzig. Doch sie leisten Enormes: 50 Prozent der grünen Pflanzenbiomasse gehen durch die Mägen von Insekten. Sie fressen Blätter, Nadeln, Rinde, Holz, Kot und Kadaver von Tieren. Ihre Ausscheidungen gelangen auf den Boden, wo Mikroorganismen die Nährstoffe daraus freisetzen. Insekten ernähren Spinnen, Vögel, Mäuse, Schlangen, Frösche, Fledermäuse und nicht zuletzt andere Insekten – so halten sie Schädlinge in Schach. Und natürlich bestäuben Insekten Pflanzen. Das tun weltweit 20.000 Wildbienenarten, dazu verschiedene Schmetterlinge, Fliegen, Motten, Käfer und Wespen. Weil jeder Bestäuber zu anderen Tageszeiten fliegt oder andere Stellen der Blüte besucht, bilden sich viele, schmackhafte, gut aussehende und nährstoffreiche Früchte nur, wenn die unterschiedlichsten Bestäuber aktiv sind. Der Geldwert ihrer Leistung wird allein in Europa jährlich auf 14 Milliarden Euro geschätzt. Auch einen Großteil der Schädlingsbekämpfung leisten die Krabbeltiere gratis.
Teja Tscharntke: "Man sollte nicht davon ausgehen, dass auch intensiv bewirtschaftete Getreidefelder völlig leergefegt sind von Gegenspielern. Auf einem Hektar Getreide leben hunderttausende von Spinnen, von räuberischen Käfern und anderen Gegenspielern von Schadinsekten."
Vielfalt muss geschützt werden
In einer Studie hielt Teja Tscharntke räuberische Spinnen und Insekten – Käfer, Florfliegen, parasitische Wespen – mit künstlichen Barrieren davon ab, in Getreidefeldern auf Schädlingsjagd zu gehen.
Teja Tscharntke: "Und es zeigte sich, wenn diese Gegenspieler ausgesperrt werden, dass Sie eine dreifache Anzahl von Blattläusen an diesem Getreide hatten. Aber wenn sie dauernd durch das Spritzen in ihrer Bedeutung zurückgedrängt werden, kann man nicht viel von ihnen erwarten."
Welche Schädlinge werden sich morgen bedrohlich vermehren – und welche Raubinsekten werden sie in Schach halten können? Niemand weiß das. In den Netzwerken des Lebens ist ohnehin jede Art auf zahllose unbekannte Weisen mit anderen Tier- und Pflanzenarten verknüpft – deshalb macht es wenig Sinn, einzelne Nützlinge wie die Honigbiene oder den Marienkäfer zu schützen, seltene oder gar bislang völlig unbekannte Insekten jedoch aussterben zu lassen.
Teja Tscharntke: "Die seltenen Arten sind in ihrer Bedeutung ganz schwer zu fassen, insofern sollte man auch den Mut haben – auch in einer Zeit, wo es nur immer um monetäre Effekte geht – zu sagen: Wir wollen unsere Vielfalt erhalten, so wie wir den Kölner Dom erhalten, so wie wir einen Denkmalschutz haben – so treten wir auch dafür ein, dass wir diese Vielfalt, die uns gegeben ist, auch für die Zukunft bewahren."
Insektensterben. Dazu tragen viele Ursachen bei. Siedlungen, Straßen, Industriegebiete fressen sich täglich hektarweise in die Heimat von Tieren und Pflanzen. In fragmentierten Landschaften schrumpfen die Populationen. Männchen und Weibchen finden einander nicht mehr. Inzucht bringt Krankheiten, der Zufall das Aus.
Johannes Steidle: "Also wenn da eine Überschwemmung ist oder eine Krankheit ausbricht, dann kann so eine Population einfach aussterben. Das geht ganz schnell. Und ich denke, dass das genau ist, was in diesen Naturschutzgebieten passiert ist, die von den Krefeldern untersucht wurden."
Neue Arten wandern aus dem Süden ein
Da ist die Klimaerwärmung, sie ist längst in Deutschland angekommen. Neue Räuber wandern ein, angestammte Insekten flüchten Richtung Norden, Larven entwickeln sich zu schnell in ihren Eiern, schlüpfen früher, als ihre Wirtspflanzen reif sind, und gehen an Nahrungsmangel zugrunde. Lebensräume trocknen aus, feuchteliebende Arten verschwinden, milde Winter und häufige Sommerregen begünstigen Parasiten und Pilzkrankheiten. Da ist der Trend zu schicken Gärten und aufgeräumten Parks – ohne Nischen für Insekten. Da ist die künstliche Beleuchtung, die nachtaktive Insekten verwirrt und tötet. Doch eine Ursache überwiegt alle anderen, sind sich die meisten Experten sicher.
Johannes Steidle: "Wir haben ein großes Ereignis, also eine Abnahme um 70 bis 80 Prozent, da muss es auch eine große Ursache geben. Und da fällt einem außer der Landwirtschaft nicht so furchtbar viel ein. Landwirtschaft spielt schon einfach auch aufgrund der Flächen eine überragende Rolle."
52 Prozent der Fläche Deutschlands werden landwirtschaftlich genutzt. Nur noch vereinzelt, etwa im Ökolandbau, arbeiten Bauern und Naturschutz Hand in Hand. Sie kümmern sich um Blühflächen und abwechslungsreiche Früchte auf ihren Äckern – Nahrung und Lebensraum für Insekten. Ihre Traktoren sorgen auf erdigen Wegen dafür, dass sich kleine Gewässer voller Leben bilden. Das Holz alter Bauernhäuser liefert Nistmaterial für Hornissen.
Johannes Steidle: "Die heutige Agrarlandschaft besteht im Prinzip aus riesigen Äckern, die bis zum Horizont reichen. Und wenn man weiß, dass die meisten Insekten auf ganz bestimmte Pflanzen angewiesen sind, dann ist klar, dass solche Agrarlandschaften für sie genauso wertvoll sind wie ein geteerter Parkplatz beispielsweise."
Maisfelder für Biogas breiten sich immer weiter aus – nutzlos für die meisten Insekten. Außerdem haben die Tiere meist zwei Lebensphasen: Die Larve lebt im Boden oder im Totholz, das erwachsene Insekt besucht Blüten. Artenschutzexperte Axel Ssymank.
Axel Ssymank: "Diese verschiedenen Komponenten müssen räumlich in einem gewissen Zusammenhang vorhanden sein. Wenn nur noch eine Riesen-Monokultur ist, keine Randstreifen mehr, keine Hecken, dann fehlen diese Wechselbeziehungen und als Insekten können eben nur noch bestimmte Generalisten überhaupt überleben."
Insekten brauchen blühende Wiesen
Wirtschaftsgrünland soll Futter für Milchkühe liefern – möglichst preiswert, um mit billigem Silomais mitzuhalten. Damit das Grün intensiv sprießt, bringen Landwirte auf den Wiesen Gülle und Dünger aus, spritzen Unkrautvernichter und mähen so früh und so häufig, dass viele Pflanzen gar nicht mehr zur Samenreife kommen.
Johannes Steidle: "In überdüngten Wiesen, und das ist leider die Mehrzahl der Wiesen bei uns jetzt mittlerweile, leben nur ganz wenige schnellwüchsige Pflanzenarten, also zum Beispiel Glatthafer, Löwenzahn, Hahnenfuß, die in der Lage sind, dieses Überangebot an Stickstoff zu verarbeiten."
In den Wiesen der bäuerlichen Landwirtschaft wuchsen im Frühjahr die weißen und gelben Blumen. Ihnen folgte ein kontinuierliches Blütenangebot bis in den Juli.
Axel Ssymank: "Wo dann im späteren Verlauf blaue und rote Blüten dazukommen, Ackerwitwenblume, die Glockenblumen und so weiter – und dieses spätere Blütenangebot geht komplett verloren, wenn ich zu viel Stickstoff auf den Flächen habe."
Insekten brauchen blühende Wiesen und blühende Wiesen brauchen eine naturnahe, bäuerliche Landwirtschaft. Tatsächlich ist es für Insekten auch ein Problem, dass so viele kleinere Betriebe aufgeben müssen. Dann breiten sich auf den Flächen Büsche aus und verdrängen die typischen Artengemeinschaften der Kulturlandschaft. Pro Jahr bringt die industrielle Landwirtschaft fast 50.000 Tonnen Ackergifte aus. Studien zeigen: Der Chemiecocktail schädigt die Vitalität von Insekten, macht sie krankheitsanfällig, Fortpflanzungspartner gelangen nicht mehr zueinander. Neonicotinoide – in der EU teils verboten, teils unter Auflagen erlaubt – sollen Schadinsekten zurückdrängen. Tatsächlich treffen sie viele Insektenarten.
Teja Tscharntke: "Es zeigte sich, dass Arbeiterinnen von Honigbienen nicht mehr zurück in ihren Stock finden, dass Hummeln keine oder nur noch in geringerem Maße Königinnen produzieren. Wenn gar keine Königinnen produziert werden, hat man im nächsten Jahr auch keine Hummeln mehr."
Landwirte müssen bei den Lebensmittelhändlern um jeden Cent für ihre Produkte kämpfen und stehen unter heftigem Preisdruck, um den billigen Überfluss der westlichen Welt hervorzubringen, von dem 40 Prozent nicht einmal verzehrt werden, sondern in den Müll wandern. Auch der gigantische Fleischkonsum will auf Äckern und Feldern hervorgebracht werden. Das Herbizid Glyphosat ist billig und darum bei Landwirten beliebt. Im November 2017 wurde es mit Zustimmung des deutschen Landwirtschaftsministeriums für weitere fünf Jahre in der EU zugelassen. Ist Glyphosat krebserregend für Menschen? Vielleicht. Ganz sicher aber radieren Totalherbizide die Nahrungspflanzen von Insekten aus.
Teja Tscharntke: "Dann soll man sie auch nicht wundern, wenn wir kaum noch die vielen Ackerwildkräuter, die sich seit tausenden von Jahren mit der Landwirtschaft hier in Mitteleuropa angesiedelt haben, wenn wir die kaum noch sehen. Wir haben 270 Ackerwildkräuter und wenn Sie durch die Landschaft spazieren und auf die Äcker gucken, dann finden Sie zehn häufig resistente Arten, gegen Pflanzenschutzmittel, aber die ganzen Seltenheiten, wunderschöne Pflanzenarten, sind eben kaum noch anzutreffen."
Bauernverband wiegelt ab
Die großen Verbände der industriellen Landwirtschaft wollen von all dem nichts hören. Der Deutsche Bauernverband reagierte auf die Krefelder Studie umgehend mit dem Hinweis auf eine angeblich unsichere Datenlage und der Bauernbund Brandenburg titelte im Internet: "Naturschutzbund Deutschland erfindet Insektensterben". Es sind die Muster, die man von den Debatten um Asbest, Zigaretten, Holzschutzmittel oder menschengemachten Klimawandel kennt.
Was kommt, wenn die Insekten gehen? Sicher massive Ernteausfälle, vor allem bei Obst und Gemüse. Axel Ssymank vom Bundesnaturschutzamt.
Axel Ssymank: "Ohne Fliegen keine Schokolade – denn Kakao wird ausschließlich von Fliegen bestäubt. Und es gibt viele andere Sachen, praktisch das gesamte Obst und Gemüse ist insektenbestäubt. Also wir würden sozusagen mit einem Teller, wo nur noch das trockene Brot draufliegt, sehr viel an Lebensqualität und auch an Nahrungsqualität einbüßen ohne Insekten."
Der Mensch müsste selbst per Hand oder Maschine bestäuben. Den geringen Erträgen würde vieles fehlen: die gewohnte Form, der gute Geschmack, die gesunde Zusammensetzung. Wissenschaftler schätzen, dass sich bis zu 40 Prozent der essentiellen Nährstoffe nicht mehr bilden, wenn die Artenvielfalt der bestäubenden Insekten zugrunde geht. Auch Wildpflanzen verschwänden aus unseren Landschaften.
Axel Ssymank: "Wir gehen davon aus, dass etwa 80 bis 90 Prozent der wild lebenden Pflanzenarten von Bestäubern direkt abhängig sind. Es gibt zwar ein paar Pflanzenarten, die sich vegetativ vermehren können zusätzlich, aber auf lange Sicht brauchen diese Pflanzenarten alle irgendeine Form der Bestäubung, um sich fortpflanzen zu können."
Schädlingsplagen könnten überhand nehmen. Vielleicht könnte die Welt sogar ihre grüne Farbe verlieren, weil es Insekten sind, die andere Insekten davon abhalten, all die grünen Blätter zu fressen. Einen Vorgeschmack liefern die vielen braunen Kastanienbäume im Sommer. Die eingewanderte Miniermotte, die das Blättersterben verursacht, hat keine Feinde. Der Zoologe Johannes Steidle.
Johannes Steidle: "Und wenn wir diese natürlichen Feinde nicht mehr hätten, dann würden wir das bei allen Pflanzenarten letztendlich sehen."
Wenn ganze Nahrungsketten zusammenbrechen
Eine gute Luft-, Wasser- und Bodenqualität braucht Insekten. Denn Wälder produzierten frische Luft. Und die vielen Tonnen Blätter im Herbst können nur mit Hilfe von Insekten zerkleinert und dem Boden wieder zugeführt werden.
Axel Ssymank: "Ohne Insekten im Boden hätten wir wahrscheinlich große Abfallberge von organischer Substanz, die nicht abgebaut werden können."
Ohne fleischfressende Insekten können ganze Nahrungsketten zusammenbrechen, denn sie bilden die mittleren Stufen. Ein Großteil der Vogelarten wird verschwinden – etwa alle Singvögel, denn die brauchen Insekten. Flüsse und Seen können zu stinkenden Kloaken werden, denn ihre Selbstreinigungskraft ist auf Insekten und deren Larven angewiesen. Die Natur würde sich auch nicht mehr darum kümmern, die Hinterlassenschaften der Massentierhaltung zurück in die Stoffkreisläufe zu führen.
Johannes Steidle: "Die Ausbringung von Gülle auf Äckern oder generell Dung von Nutztieren auf der Weide oder tote Tiere, Kleinsäuger, Vögel, die rumliegen – die liegen dann schon noch lange in der Gegend rum. Also es ist alles sehr, sehr unerfreulich und wirklich keine Welt, in der ich leben möchte; das heißt Insekten spielen schon eine ganz zentrale Rolle."
Rund 60 Milliarden Euro fließen jährlich in die gemeinsame Agrarpolitik der EU – 40 Prozent des gesamten EU-Haushalts. Um die verheerende Umweltbilanz der Landwirtschaft zu verbessern, müssen Landwirte seit 2015 für einen Teil der EU-Direktzahlungen ökologische Bedingungen erfüllen. Das nennt sich "Greening" – und war eine gute Idee, bis sie verwässert wurde.
Teja Tscharntke: "Es können auch nachwachsende Rohstoffe angebaut werden. Es werden Monokulturen angebaut. Auch Pflanzenschutzmittel können eingesetzt werden – alles Maßnahmen, die weit davon entfernt sind, der Artenvielfalt auf die Beine zu helfen."
Fördermittel verfehlen das eigentliche Ziel
Für solches "Greening" erhalten deutsche Landwirte jährlich 1,5 Milliarden Euro. Das Bundesamt für Naturschutz nennt dies "eine weitgehend wirkungslose und gleichzeitig zu teure Fehlentwicklung".
Die pauschalen Flächenprämien der EU unterscheiden nicht zwischen bäuerlichen Betrieben und Agro-Riesen. Es gewinnt, wer im industriellen Stil produziert: ohne Rücksicht auf die Natur, billig, viel, für den Weltmarkt – wo die Armen trotzdem neben vollen Töpfen hungern. Reformideen liegen auf dem Tisch. Das Bundesamt für Naturschutz fordert in seinem Agrar-Report 2017 mehr und echte ökologische Vorrangflächen, die der Artenvielfalt tatsächlich nutzen – auch bei Grünlandbetrieben, denn überdüngte Wiesen voller Herbizide haben mit wertvollen Biotopen nichts zu tun. Mehr EU-Agrarausgaben sollen direkt in den Naturschutz fließen. Der NABU schlägt ergänzend eine bessere Lebensmittelkennzeichnung und die Aufklärung der Verbraucher vor. Obwohl Bio-Lebensmittel in den Supermärkten inzwischen dazu gehören, beträgt ihr Anteil am gesamten Markt nicht einmal fünf Prozent. 95 Prozent dessen, was in deutsche Münder und Mägen wandert, stammt aus einer Landwirtschaft, die Natur verbraucht und schädigt. NABU-Experte Konstantin Kreiser.
Konstantin Kreiser: "Verbraucher sind bereits jetzt bereit, mehr zu zahlen für Freilandeier zum Beispiel, viele sind auch bereit mehr zu zahlen für Bioprodukte oder für regional hergestellte Produkte. Hier sehen wir eher eine sozialpolitische Aufgabe; dann müssen die Sozialpolitik und auch vielleicht die Hartz-IV-Regelungen dafür sorgen, dass sich jeder in Deutschland gute Lebensmittel leisten kann. Auf Dauer für alle die Lebensmittel billig zu halten, auf Kosten dann der Umwelt – das ist verantwortungslose Politik."
Der NABU möchte auch, dass Landwirte Direktgelder von der EU erhalten, wenn sie Flächen naturnah und produktionsfrei belassen – als Hecken, Blühstreifen oder Brachen. Denn das hat die Krefelder Studie gezeigt: Naturschutzgebiete können nicht funktionieren, wenn sie isoliert in Agrarwüsten liegen. Auch der Pestizideinsatz müsste sich ändern: weniger, besser abbaubar, nicht flächendeckend oder gar vorbeugend. Mehr Fördermittel müssten in einen pestizidfreien Anbau und die Beratung umstiegswilliger Landwirte fließen, denn die brauchen ein neues Know-how. Der Agrarökologe Teja Tscharntke.
Teja Tscharntke: "Zum Beispiel kann man dann nicht nur auf Hochertragssorten gehen, die konkurrenzschwach sind gegenüber Unkräutern, die auch sonst wenig resistent sind gegenüber Schädlingen oder Krankheiten. Sondern man muss auf robustere Sorten setzen, die dann auch nicht den maximalen Ertrag liefern, sondern meinetwegen fünf Prozent oder zehn Prozent darunter liegen, das wäre eine Strategie."
Experten fordern Verbot von Glyphosat
Seinen finanziellen Verlust könnte der Landwirt wettmachen, indem er am Chemiecocktail spart und sich von Raubinsekten stärker unterstützen lässt. Ein weiteres Stichwort in der Debatte heißt "Smart Farming". Schon heute sind Pflanzenschutzspritzen mit elektronischen Regelungen ausgestattet. Doch es geht auch ganz ohne Gift: Das Bundeslandwirtschaftsministerium unterstützt die Entwicklung von Robotern, die über den Acker fahren und Unkräuter in den Boden drücken. Naturschützer wie Konrad Kreiser begrüßen solche Entwicklungen, sofern sie mit Bedacht eingesetzt werden.
Konstantin Kreiser: "Präziseres Einbringen von bestimmten Pestiziden ist sicher besser als das flächendeckende Einbringen von Pestiziden. Aber wenn die Technik nur der reinen Produktionssteigerung, noch dazu vielleicht von Übermengen an Fleisch, dient, dann ist das eher nicht ein sinnvolles Ziel."
Breitbandpestizide, die Wildkräuter und Insekten flächendeckend vernichten, Stichwort Neonicotinoide und Glyphosat, müssten schlicht verboten werden, unterstreichen Ökologen.
Konstantin Kreiser: "Das ist in anderen Wirtschaftsbereichen auch so, das ist auch im Straßenverkehr so: Man darf einfach nicht alles, was geht, und man muss das verbieten, was der Allgemeinheit schadet und der Allgemeinheit Kosten verursacht."
Teja Tscharntke: "Und das ist letztlich alles auch eine politische Entscheidung, ähnlich wie der Ausstieg aus der Atomenergie oder das Verbot des Rauchens in Gaststätten – alles Dinge, die natürlich für die Wirtschaftlichkeit der einzelnen Betriebe sehr nachteilig sind, aber die auch ein Zeichen setzen in eine andere Richtung."
Insektensterben. Zoologen, Naturschutzbehörden und Umweltaktivisten sind sich einig, dass dringend ein flächendeckendes Insekten-Monitoring installiert werden muss, das viele einzelne Arten beobachtet. Nur dann können Forscherinnen und Forscher in ökologischen Modellen vorhersagen, wie sich eine Insektengemeinschaft unter verschiedenen Umständen entwickeln wird. Dabei versteht sich, dass die Vielfalt der Insekten auch ihren Wert in sich trägt – jenseits menschlichen Nützlichkeitsdenkens.
Teja Tscharntke: "Sie sind ein Teil auch unserer kulturellen Vielfalt, wie sie mit unseren Landschaften einhergeht, und daher müssen sie auch von daher erhalten werden, einfach aus ethischen, moralischen Gründen, indem man bunte Landschaften und einen vielfältigen Lebensraum erhält."
Um das Sterben jetzt aufzuhalten, hilft nur ein radikales Umsteuern in der Agrarpolitik. Die Krefelder Studie zeigt, wie sehr die Zeit drängt: Zehn Gramm Insekten pro Jahr fingen die Forscher am Anfang, zwei Gramm am Ende ihrer Studie.
Johannes Steidle: "Das sind hochgerechnet 0,3 Gramm pro Jahr, und wir haben jetzt noch zwei Gramm übrig, wenn man so will – und das sind dann noch sechs Jahre, bis die letzten zwei Gramm weg sind. Ich hoffe, das ist ein bisschen übertrieben, aber es ist ganz klar, dass es bis zum vollständigen Verschwinden der Insekten nicht mehr 30 oder 40 Jahre dauert, sondern eher 10 Jahre."