Gesine Palmer, geboren 1960, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihre Themen sind Religion, Psychologie und Ethik.
Fluch der gekränkten Männerseele
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Der erste Frauentag ist 110 Jahre her. Die Religionsphilosophin Gesine Palmer sieht die Geschlechtergerechtigkeit vielerorts noch immer bedroht. Auch Wahlrecht, Ausbildung und Selbstbestimmung schützen nicht vor Unterdrückung und Gewalt.
Ovid hatte damals in einem sehr beliebten und durchaus offenherzigen Buch über die Liebeskunst eine Warnung an junge Menschen vor der unglücklichen Liebe folgen lassen. Darin den Satz: "Wehre den Anfängen!"
Wenn ich heute, am Internationalen Tag der Frau, Ovid und seine Zeit herbeizitiere, dann deswegen, weil ich eine ähnliche Tendenz in unserer Zeit sehe: Noch haben nicht alle alles gelernt über die Liebe in Zeiten von Geschlechtergerechtigkeit und gegenseitigem Respekt.
Da droht von verschiedenen Seiten eine restriktiv-patriarchalische Familienpolitik vieles zunichte zu machen von dem, was wir doch erreicht haben, seit der erste Frauentag am 19. März 1911 auf Anregung der deutschen Sozialdemokratin Clara Zetkin mit großen Demonstrationen für das aktive und passive Frauenwahlrecht in Deutschland, Dänemark, Österreich und der Schweiz begangen wurde.
Frauenfeindliche Regime
Da ist einerseits die Finsternis "ex oriente": Namen wie Nasrin Sotoudeh im Iran und Loujain Alhatloul in Saudi-Arabien stehen für rigorose Maßnahmen massiv frauenfeindlicher islamistischer Regimes gegen jeden weiblichen Widerstand. Da ist andererseits der traurige Rekord an Frauenmorden in südamerikanischen Länder, der im vergangenen Jahr wütende Demonstrationen hervorgerufen hat.
Und da sind die kleinen, kaum auffälligen Anfänge, wenn wieder mal eine Frau in Deutschland nach Beendigung einer für sie unbefriedigenden Beziehung von einem gekränkten Mann mit tödlicher Gewalt bestraft wird. Tatsächlich werden weltweit 82 Prozent aller Morde an Frauen von ehemaligen Partnern verübt. In Deutschland wird es statistisch an jedem Tag einmal versucht, an jedem dritten Tag gelingt es.
Ovid warnte vor allem Männer davor, sich zu sehr auf die Frauen einzulassen, die dann ihrer Liebe nicht würdig sind, es nur auf ihr Geld abgesehen haben usw. Aber Mord als letztes Mittel hatte er nicht im Sinn.
Anders unsere Pop-Kultur: Ob "Hey Joe" von Jimi Hendrix oder Raps, die detailliert ausmalen, wie man mit "Schlampen" umzugehen habe – anscheinend kennen auch die sogenannten "aufgeklärten" Kulturen gewalttätige Empfehlungen, wie ein Mann sich kurieren könne, wenn ihm der Kummer über unerwiderte Liebe zu einer Frau zusetzt.
Dass eine gekränkte Männerseele das Recht, vielleicht sogar die Pflicht habe, sich zu rächen, ist so tief in vielen Kulturen dieser Welt verwurzelt, dass es dort fast schon wie eine natürliche Tatsache erscheint.
Liebeswahl kann tödliche Folgen haben
Was nützt aber das schönste Wahlrecht, die beste Ausbildung, die modernste Haltung zu Freiheit und Selbstbestimmung in der Wahl von Lebensgestaltung und Liebespartner:in, wenn eine Liebeswahl tödliche Folgen haben kann? Es kann die qualifizierte Frau von nebenan treffen, die sich von ihrem Mann getrennt hat, weil sie nicht plötzlich das Kopftuch tragen wollte, das er neuerdings an ihr sehen wollte. Es kann die Ärztin treffen und die Verkäuferin.
Ich weiß von Publizistinnen, die umziehen mussten oder unter Polizeischutz stehen, weil sie ihre Nasen frech in die Öffentlichkeit gehalten haben. Ich weiß von Frauen, die heftigste Verleumdungen bis hin zur Karrierezerstörung erleben mussten, weil sie "zu viel wollten".
Ich weiß von geschiedenen Frauen mitten in Berlin, die nun tatsächlich allen Anfängen möglicher neuer Lieben widerstehen. Nicht, um sich seelische Leiden in Folge der Liebesverwicklungen zu ersparen, sondern um ganz einfach am Leben zu bleiben, auch unter den Augen einer eng kontrollierenden Community, in der ihr Ex-Partner den Ton angibt. So fängt das mit dem autoritären Druck besonders auf Frauen an.
Zur Rechtfertigung eher bedrohlicher sozialer Kontrolle wird heute immer öfter der familiäre Zusammenhalt angeführt. Zweifellos eine feine Sache, wenn er denn freiwillig ist. Erzwungen und ernötigt geht er immer auf Kosten der Frauen. Solidarität mit den um Freiheit kämpfenden Frauen der Welt ist heute so nötig wie vor 110 Jahren.