Wie wir Abschied nehmen
Immer noch sterben die meisten Menschen im Krankenhaus, oft ohne Begleitung durch Angehörige. Das ist aber wichtig, sagen Forscher. Nur gelebter Abschied kann trösten.
Gabriele Kohn arbeitet als Bestatterin in Berlin: "Wenn ich in den Raum rein gehe, wo mein Verstorbener auf einem Tisch liegt, dann mache ich als erstes eine Kerze an. Die Verstorbenen sind bei uns meistens noch in ein Laken eingewickelt. Dann öffne ich das Laken und nehme als Nächstes, wenn sie aus dem Krankenhaus kommen, diesen Zettel am Fuß ab."
Waschen, Kämmen, Anziehen. – Gabriele Kohn und ihre Kollegen Jan Möllers und Judith Giese machen Verstorbene bereit für den letzten Weg.
"Und das ist auch gar nicht so, wie es jetzt klingt vielleicht, standardisiert. Es ist schon sehr personenabhängig. Da guckt man immer: Was ist denn vielleicht nötig? Oder was will ich diesem Menschen jetzt gerade Gutes tun? Dann gibt es auch so was wie: Schön fest in ein weißes Leinentuch eingewickelt, 'einpucken', wie bei Babys man das ja auch macht. Wir hauchen dem dann wieder was ein. Ja, ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll, wir hauchen ihm natürlich kein Leben ein, aber man hat wieder das Gefühl, jetzt sieht es anders aus, jetzt sieht es wieder weicher aus, ja."
Was zu tun ist, wenn ein Mensch gestorben ist, das spielt sich meist hinter verschlossenen Türen ab. Es kommt auch in Familien oder unter Freunden nur selten zur Sprache. Zu selten, findet die Bestatterin Caitlin Doughty aus Los Angeles. In ihrem Buch "Fragen Sie Ihren Bestatter - Lektionen aus dem Krematorium" gibt sie persönliche Einblicke in ihr Metier. Für die Berliner Buchpremiere hat sie einen alten Anatomie-Hörsaal der Universitätsklinik Charité ausgesucht:
"Eine Frau erinnert sich immer an die erste Leiche, die sie rasiert hat. Byron war ein Mann um die Siebzig mit einer weißen Haarmähne und dichten weißen Bartstoppeln. Ich zog die Gummihandschuhe an und fuhr mit dem Daumen über Byrons kalte, steife Wangen, die Bartstoppeln, die ihm in den letzten Tagen gesprossen waren. Ich fühlte mich meiner Aufgabe auch nicht ansatzweise gewachsen."
An ihrem ersten Arbeitstag im Krematorium, als sie völlig unvorbereitet einen Leichnam versorgen sollte, fühlte sich Caitlin Doughty ziemlich unbehaglich.
"Wird dieser tote Körper mir wehtun? Wird er nach meiner Hand greifen? Wird er anfangen zu riechen? Kann ich etwas kaputt machen? All diese Fragen schossen mir durch den Kopf."
Der Tod als Tabu
Inzwischen betreibt die 32-Jährige ihr eigenes Bestattungsinstitut. Zusammen mit Gleichgesinnten hat sie den "Order of the Good Death" gegründet, ein Forum von Bestattern, Künstlern, Philosophen und Medizinern, die den Tod wieder ins Gespräch bringen wollen:
"Es geht mir darum, dass Kinder und Erwachsene unbefangen über den Tod sprechen können. Als Kinder stellen wir viele Fragen nach Tod und Sterben. Aber dann sagen uns die Erwachsenen: Lass das! Das ist morbid, das ist makaber. Darüber spricht man nicht! – So treibt man Kindern ihre natürliche Neugier aus. Wenn sie dann erwachsen sind, haben sie Angst vor dem Tod und bringen weitere Kinder zum Schweigen. Es ist ein Teufelskreis, und am Ende haben wir eine westliche Gesellschaft, in der Tod ein Tabu ist."
Auch Gabriele Kohn, Jan Möllers und Judith Giese möchten den Tod aus der Tabuzone holen. Sie organisieren nicht nur Beisetzungen. Mit Vorträgen und Lesungen laden sie dazu ein, sich über Erfahrungen mit Trauer und Abschied auszutauschen. Alle drei haben sich bewusst für den Beruf des Bestatters entschieden und möchten Menschen ermutigen, Abschiede persönlich zu gestalten.
Manchmal wundern sich die Leute, dass sie nicht als erstes davon reden, wie der Verstorbene unter die Erde kommt, sagt Judith Giese.
Judith Giese: "Ich glaube, die erwarten dann immer, ich komme jetzt mit einem Sarg-Katalog an, aber ich bin da noch gar nicht! – Wir sind erst mal bei der Totenfürsorge, beim Wiederankleiden, Waschen, Herrichten, Umsorgen. – Umsorgen der Toten. Halt nicht: gleich weg! Sondern: umsorgen und sich dabei Zeit lassen."
Zeit, um den Verstorbenen wahrzunehmen – und wirklich zu begreifen, was passiert ist.
Caitlin Doughty: "Wir sehen den Tod nicht mehr, wir sehen keine toten Körper mehr. Und wenn man die physische Realität des Todes nicht vor Augen hat, fällt es viel leichter, sich vorzumachen, dass er gar nicht real ist, dass er nicht stattfindet."
Man stirbt nicht mehr zuhause
Der französische Historiker Philippe Ariès bemerkte schon 1976, dass Tod und Sterben in den Industrieländern seit einem halben Jahrhundert aus dem Alltag verschwunden seien:
"Der früher so gegenwärtige und derart vertraute Tod verliert sich (…). Er wird schamhaft ausgespart und zum verbotenen Objekt. (…) Der Ort des Todes verschiebt sich. Man stirbt nicht mehr zuhause, im Kreise der Seinen. Man stirbt allein im Krankenhaus."
Stefan Koch, Pathologe: "Ja, das ist wirklich so, dass man in großstädtischen Ballungsräumen den Tod aus den Familien hinausgeleitet hat in Krankenanstalten. Dort wurde gestorben, unter welchen Bedingungen auch immer. Und der Tod in der Familie war eher die Ausnahme."
Professor Dr. Stefan Koch leitet das Institut für Pathologie an den Helios Kliniken in Bad Saarow. Obwohl drei Viertel der Deutschen sich wünschen, eines Tages zu Hause zu sterben, stirbt jeder Zweite im Krankenhaus und ungefähr jeder Dritte in einem Pflegeheim. Das ergab der "Faktencheck Gesundheit" der Bertelsmann Stiftung im Herbst 2015.
Oft liegen die Patienten, fern von ihren Familien, wochen- oder monatelang im Sterben. Viele verlieren das Bewusstsein, lange bevor der Tod schließlich eintritt. Dennoch beobachtet Stefan Koch, dass viele Angehörige mit dem Tod im Krankenhaus inzwischen anders umgehen.
"Ich stelle eigentlich fest, dass wir in den letzten Jahren wieder eine große Sensibilität in den Familien haben, von Verstorbenen auch Abschied zu nehmen und auch im Krankenhaus Abschied zu nehmen. Und es gibt auch viele Nachfragen, diese Verabschiedung am Krankenbett durchzuführen, auch auf Palliativstationen, und es ist heute so, dass der Tod im Krankenhaus durchaus eine würdige Abschiednahme ermöglicht."
Die Sachzwänge der technischen Medizin
Als Philippe Ariès seine "Studien zur Geschichte des Todes im Abendland" veröffentlichte, war das noch kaum vorstellbar. Das Sterben im Krankenhaus, umgeben von Apparaten, gilt seit den 1970er-Jahren als Sündenfall der modernen Medizin, die das Leben verlängert, aber die Menschen am Ende allein lässt. Der wissenschaftliche Fortschritt hat dazu geführt, dass Alter und Tod "von den Profis des Gesundheitswesens gemanagt werden", schreibt der amerikanische Chirurg Atul Gawande in seinem Buch "Sterblich sein. Was am Ende wirklich zählt".
Wann jemand stirbt, hängt auch im hohen Alter zunehmend von "Sachzwängen der technischen Medizin" ab, sagt Gawande. Die Entscheidung, wie lange es noch sinnvoll ist, den Sterbeprozess mit lebenserhaltenden Maßnahmen aufzuhalten, ist heikel, erst Recht für Angehörige, die dem medizinischen Personal als Laien gegenüberstehen.
Wladimir Goerdt hat das erlebt, als sein Vater mit 92 Jahren in einem Pflegeheim im Sterben lag. Einmal war der Vater noch unter großen Strapazen mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ein zweites Mal wollte die Familie ihm das ersparen. Wladimir Goerdt und seine Geschwister waren sich einig, dass sie für ihren Vater nur noch eine palliative, schmerzlindernde Behandlung wünschten.
Wladimir Goerdt: "Aber das braucht einfach eine große Selbstbewusstheit der Angehörigen, dann in dem Moment, wenn zum Beispiel das in der Nacht ist, und es kommt der Notarzt, und der Notarzt will den Patienten ins Krankenhaus einweisen, dann zu sagen: Vielen Dank für Ihren Besuch, und vielen Dank für Ihre Hilfe, aber wir möchten, dass der Vater jetzt hierbleibt, wir wollen keine weiteren therapeutischen Maßnahmen hier mehr. Das ist auch im Willen des Versterbenden hier festgelegt. Es gibt eine Patientenverfügung, es gibt eine Vollmacht. Wir behalten den Vater jetzt einfach hier."
Wladimir Goerdt hat seine beiden Eltern im Sterben begleitet. In einer Zeit, in der viele Familien verteilt auf weit voneinander entfernte Städte leben, ist es selten geworden, dass jemand den Tod eines nahen Angehörigen so erlebt wie er.
Nahe beim Sterbenden sein
Als das Leben seiner Mutter zu Ende ging, hatten die Eltern noch ein eigenes Appartement in einem Haus für betreutes Wohnen. In der letzten Nacht schlief Wladimir Goerdt im Gästezimmer nebenan. Am frühen Morgen holte ein Pfleger ihn ins Schlafzimmer der Eltern.
Wladimir Goerdt: "Und dann bin ich rein und habe schon gesehen, dass die Mutter eine sehr spitze Nase hat, und dass da schon etwas Entrücktes ist, und nehme so die Hand, nehme sie an der Schulter, und in dem Moment löst sich noch einmal das Gaumensegel, du hörst ein letztes Ausatmen, und dann war sie dahingegangen. An einem klaren Wintermorgen. Draußen Schnee, und Sterne haben geblinkt, in der Frühe um sechs Uhr."
Vater und Sohn saßen für eine Weile bei der Verstorbenen, hielten gemeinsam Rückschau, sprachen ein Gebet. Dann legte der Vater sich noch einmal schlafen. Auch in den nächsten zwei Nächten schlief er im Ehebett neben seiner verstorbenen Frau.
Wladimir Goerdt: "Man ist sich so verbunden, man hat den ganzen Weg zusammen gegangen, und der Mensch ist eben irgendwie auch noch da. Es ist noch kein Abstraktum. Aber natürlich ist das auch nicht was für jeden. Vielleicht gruselt es den einen oder anderen davor. Aber das war in unserem Falle nicht so. Und tagsüber war der Papa ganz normal in der Wohnung, dann lag die Mama eben in dem Schlafzimmer, und dann konnte jeder auch immer wieder alleine dorthin, oder manchmal waren wir auch gemeinsam dort."
Zwei, drei Tage lang blieb die Mutter auf ihrem Sterbebett aufgebahrt, so dass Mitbewohner, Pflegerinnen und Pfleger, Familienangehörige und Freunde sich von ihr verabschieden konnten. Für Wladimir Goerdt waren die Stunden und Tage der Totenwache eine wichtige Zeit.
Caitlin Doughty: "Wenn Sie sich zu dem Leichnam eines geliebten Menschen setzen und einfach etwas Zeit mit ihm verbringen, vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei Stunden, vielleicht vier oder fünf, irgendwann gelangen Sie an einen Punkt, wo etwas in Bewegung kommt, wo sich etwas verändert. Irgendwann sagen Sie sich: Ja, dieser Mensch ist tot. Jetzt habe ich es verstanden. Er ist gegangen, und ich weiß, dass mein Leben für immer anders sein wird."
Angst vorm toten Körper
Caitlin Doughty hat erfahren, dass es vielen Trauernden gut tut, den Übergang vom Leben zum Tod auf diese Weise nachzuvollziehen. Aber sie weiß auch, dass es gegenüber dem toten Körper starke Berührungsängste gibt.
In ihrem Videoblog "Ask a Mortician" informiert Caitlin Doughty über alle Aspekte des Bestattungswesens. Eine Folge widmete sie der Angst, dass Leichen den Lebenden gefährlich werden könnten – zum Beispiel durch giftige Ausdünstungen.
Solche Schreckensszenarien, die im 18. und 19. Jahrhundert dazu führten, dass Friedhöfe vor die Tore der großen Städte verbannt wurden, spielen in den USA bis heute eine Rolle. Anders als in Europa hielt man dort an der Totenwache fest. Der Abschied vom – allerdings einbalsamierten – Leichnam des Verstorbenen ist ein weit verbreitetes Ritual. Philippe Ariès erkannte in diesem American Way of Death eine merkwürdige Art von Körperkult.
"Häufig ist der Verstorbene einfach in einem Raum des funeral home aufgebahrt wie zu Hause, und man (…) versucht (…) stets, die Zeichen des Todes durch die Kunst des mortician zu tilgen, der den Toten herausputzt und schminkt, um ihn möglichst lebendig wirken zu lassen."
(Aus: Philippe Ariès - "Die Geschichte des Todes")
(Aus: Philippe Ariès - "Die Geschichte des Todes")
Lebendig und ungefährlich: Die ersten amerikanischen Bestattungsunternehmer, die Funeral Directors, traten wie Ärzte oder medizinische Spezialkräfte auf.
Caitlin Doughty: "Die Bestatter haben damit gute Geschäfte gemacht. Ihre Botschaft war: Wir können etwas, das ihr nicht könnt. Nur wir können mit dem Leichnam umgehen und ihn so behandeln, dass er hygienisch und ungefährlich ist. Aber heute wissen wir, dass das nicht stimmt, und können uns diesen Teil unseres Lebens zurückholen."
Caitlin Doughty versteht sich als Botschafterin einer alternativen Bestattungskultur, die allmählich auch hierzulande Fuß fasst. Mitte der 1980er-Jahre stieß die Hospiz-Bewegung in Deutschland eine Diskussion über das würdevolle Sterben an. Eltern, deren Kinder tot geboren wurden, erkämpften sich einen Platz auf den Friedhöfen. Schwule Männer erfanden neue Trauer- und Abschieds-Rituale für ihre Lebensgefährten und Freunde, die an AIDS gestorben waren.
Alternative Bestatter möchten Angehörige ermutigen, den Abschied von ihren Verstorbenen bewusst zu gestalten und Aufgaben zu übernehmen, die üblicherweise der Bestatter erledigt.
Angehörige sollen die Totenfürsorge selbst in die Hand nehmen
Ein frisch Verstorbener verströmt kein "Leichengift", wie früher oft behauptet wurde. In seltenen Fällen muss man sich vor Krankheitserregern schützen, die bereits den Lebenden befallen haben. Aber sonst spricht nichts dagegen, dass Angehörige die Totenfürsorge wieder selbst in die Hand nehmen.
"Am Morgen haben wir alles so vorbereitet mit Wasser und schöner duftender Seife, und dann haben wir ihn gewaschen."
Eine Angehörige, die von Jan Möllers begleitet wurde, und die ihren Namen nicht im Radio nennen möchte, fand in der Totenfürsorge für ihren Mann Ermutigung und Trost. Viele Wochen und Monate lang hatte sie ihn zu Hause auf dem Krankenbett gepflegt. Als er schließlich starb, machte sie ihn zusammen mit einer Freundin selbst bereit für die Bestattung.
"Wir haben ihn gewaschen. Und ich habe ihn mit dem Öl, was wir vorher auch immer, um seine Hände einzucremen, hatten, habe ich ihn überall eingeölt. Und das war unglaublich gut."
Wenn jemand stirbt, der einem wichtig ist, dann ist das eine ganz existenzielle Ohnmachts-Erfahrung. Und um sich dieser Ohnmacht dem Tod gegenüber stellen zu können ist es eben wichtig, selber gestalten zu können und eben auch selber tun zu können.
"Und dann haben wir ihn ja auch so schön angezogen. So, wie wenn er zum Sommerhaus fährt oder wenn er irgendwo hingeht, wo was Besonderes ist. Ich habe es ganz genau ausgewählt, was er angezogen hat. Und er hat auch Schuhe, seine Schuhe angezogen, die er so schön fand, wo er richtig gut drin laufen konnte. Die waren noch leider viel zu unbenutzt. Und er sah ganz toll aus, fand ich.
Ich glaube, dass ein Teil von meiner Trauerverarbeitung schon passiert ist mit dem Moment, wie ich ihn habe körperlich verabschieden dürfen. Das ist ganz sicherlich so. Weil ich sonst eine Lücke hätte. Ich hätte eine Lücke. In der Begleitung. Zu der Stelle, wo er jetzt ist. Es ist besser, sich mit dem Toten zu befassen, als irgendwie die Totenbriefe abzustempeln oder zum Standesamt zu rennen, um da noch den Stempel zu kriegen, dass er jetzt tot ist. Also, es ist besser, sich in dem Ort aufzuhalten, wo es offensichtlich was Persönliches zu tun gibt, als sich mit den anderen Sachen da zu beschäftigen."
Das Krematorium in Brandenburg an der Havel steht auf einer leichten Anhöhe. Umgeben von einem Friedhof, mit Säulengängen und einer stilisierten Fensterrose an der Front, strahlt es die Ruhe eines Klosters aus. Hinter der schweren Kupfertür leuchtet dem Gast die Inschrift "Memento Mori" entgegen.
Der Betriebsleiter Gregor Walkusch macht auf farbige Feuerschalen und Reliefs im Jugendstil aufmerksam, die dem Gebäude von 1926 seinen besonderen Charme verleihen. Dann erlaubt er einen Blick auf die Hinterbühne:
"Jetzt verlassen wir gleich den öffentlichen Bereich und gehen in den technischen Bereich. Dort wird es dann auch ein bisschen lauter – und wärmer."
Der metallisch glänzende Kremationsofen ist schulterhoch und handwarm. Aber in der obersten Verbrennungskammer, hinter einer dreißig Zentimeter dicken Wand aus Schamott-Gestein, herrscht eine Temperatur von 800 Grad Celsius.
Wenn der Sarg durch eine schmale Falltür hinein gefahren wird, entzündet er sich sofort selbst. Ein Computersystem kontrolliert die Temperatur, überwacht Emissionswerte, und garantiert durch aufeinander abgestimmte Klappen, dass sich die Asche der Verstorbenen, die zügig hintereinander in verschiedenen Brenn-Kammern kremiert werden, nicht miteinander vermischen kann.
Es ist ein nüchterner, technisch geregelter Vorgang, der normalerweise im Verborgenen stattfindet. Aber auf Wunsch können die Angehörigen an der Einäscherung teilnehmen und dem Verstorbenen Grabbeigaben mit auf den Weg geben.
Gregor Walkusch: "Vom Teddybär über Buch bis zur Schachtel Zigaretten, Möglichkeiten gibt es da viele. Was ich auch sehr, sehr schön finde: Es werden wieder Münzen für den Fährmann mitgegeben. Das ist ja eine sehr alte Tradition, die es mal gegeben hat, und tatsächlich sehen wir das jetzt immer öfter mal wieder."
Das Krematorium ist auch ein Ort der Abschiednahme. Eine Zeremonie in der geräumigen Trauerhalle im ersten Stock blieb Gregor Walkusch ganz besonders in Erinnerung:
"Was mich sehr bewegt und berührt hat, ist tatsächlich, dass ein relativ junger Mensch verstorben ist anhand eines Motorradunfalls und die Mutter dieses zerstörte Motorrad hat aufbauen lassen auf der Bühne, hat also die Freunde, Motorradfreunde, eingeladen, und die Motorradfahrer haben nicht nur eine Urne gesehen oder einen Sarg, und das klinisch rein, sondern auch das zerstörte Motorrad."
Mittlerweile sind solche Trauerfeiern keine Seltenheit mehr – sie finden im Theater, in Kneipen oder in den eigenen Räumen statt, begleitet von Kirchenmusik, Pop oder Punkrock – Abschiede, so verschieden, wie die Leute leben.
Das Prinzip Diversity, bekannt aus der Arbeitswelt, beginnt auch unseren Umgang mit dem Tod zu verändern, schreibt Reiner Sörries. Der Theologe, bis 2015 Direktor des "Museums für Sepulkralkultur" in Kassel, beschäftigt sich seit langem mit den neuen Formen der Bestattungs- und Trauerkultur. In seinem Buch "Ein letzter Gruß" berichtet er, dass seit einer Weile wieder mehr Menschen am offenen Sarg Abschied nehmen.
"Während früher meist geraten wurde, den Sarg nicht mehr zu öffnen, um den Verstorbenen so in Erinnerung zu behalten, wie er war, haben die Bestatter ihre Meinung revidiert (…). Jetzt gelten die postmortalen Berührungen des Verstorbenen als ein hilfreiches "Begreifen" der Endgültigkeit des Abschieds."
(Aus: Reiner Sörries - "Ein letzter Gruß”)
"Der taktile, der körperliche Kontakt von Hinterbliebenen mit dem Verstorbenen spielt nach meiner Erfahrung eine relativ große Rolle."
Stefan Koch hat selbst erlebt, wie wichtig es für Trauernde ist, dem Verstorbenen noch einmal zu begegnen, besonders wenn ihr Angehöriger plötzlich aus dem Leben gerissen wurde und für eine Weile zur Untersuchung in der Pathologie verschwand.
Stefan Koch: "Einerseits denjenigen nochmal zu sehen, wie er nun im Angesicht des Todes aussieht, ihm die Hand zu drücken, ihn zu berühren, letztmals seine Haut zu streicheln, anzufassen. Das ist das, was häufig Hinterbliebene zu uns bringt und ein Teil der Abschiednahme ist und auch des Realisierens, dass jemand, der zum Leben gehörte, ab sofort nicht mehr zur Verfügung steht, nicht mehr zu berühren ist."
Als Sylvia Habermann im Sommer 2015 ihren Mann plötzlich verlor, brauchte sie nicht lange zu überlegen, ob sie von seinem toten Körper Abschied nehmen wollte. Aber sie war im Zweifel, ob sie ihren Sohn mitnehmen sollte, der damals erst vier Jahre alt war.
"Darf ich das? Ist das erlaubt? Und auch relativ schnell der Gedanke: Kann ihn das schädigen? Weil ich gedacht habe: Er ist vier. Wie könnte das sein? Ich habe mir versucht das vorzustellen. Was macht das bei ihm? Und auch durchaus die Angst: Könnte er Schaden daran nehmen?"
Nach Gesprächen mit einer Psychologin und mit der Bestatterin hat sie ihr Kind dann mitgenommen. Für einen Moment standen Mutter und Sohn schweigend vor dem Sarg.
"Und dann hat mein Sohn zu mir gesagt: Mama, darf ich rein klettern? Und da war ich verdutzt und habe gesagt: Ja. Hab ihn hoch gehoben, es war relativ hoch, und dann hat er sich breitbeinig auf seinen Papa gesetzt, auf den Bauch seines Papas, wie er das eigentlich auch immer gemacht hat, als er noch lebte. Es war für ihn das Natürlichste von der Welt, das zu machen."
Von zu Hause war ihr Junge wie ein kleiner Krieger aufgebrochen, erinnert sich die Mutter: in Leggins und Gummistiefeln, mit nacktem Oberkörper und mit einem Holzschwert in der Hand. Das hatte er dann zur Seite gelegt.
"Und dann saß er auf dem Bauch seines Vaters, mit nacktem Oberkörper, hat die Arme so ein bisschen auseinander gemacht und hat sich dann auf ihn drauf gelegt. Er hatte einfach keine Angst. Das war großartig. Ich dachte: Das ist Freiheit! Wenn man als Mensch keine Angst davor hat, dann ist man frei."
Durch ihren Sohn ermutigt, trat auch Sylvia Habermann einen Schritt näher und nahm die Hand ihres Mannes. Das gemeinsame Erlebnis der Abschiednahme gibt ihr immer noch Kraft. Bis heute.
"Ich würde sagen, dass das meinen Sohn und mich von innen stärkt. Das ist etwas, woran wie uns immer wieder aufrichten. In dieser Trauer, die einen ja immer wieder auch, ja, droht zu vernichten. Wir waren einfach sehr zusammen zu dritt, wir haben sehr zusammen gelebt, und in diesem Jahr sind wir uns oft vorgekommen wie, ja, 'Hinterbliebene' eben, also: die, die übrig geblieben sind, nach der Zerstörung.
Und dann gibt es einfach, nicht nur bei mir, auch bei meinem mittlerweile jetzt sechsjährigen Sohn, das Bedürfnis zu sterben. Das sagt der auch. Aber dann ist es bei mir immer so, dass ich an die Abschiednahme denke und weiß: Wir haben das gemacht, und wir leben weiter. Es gibt diese Erinnerung, diese körperliche Erinnerung daran. Und dann kann es das System, glaube ich, integrieren, das körpereigene System, das kann es dann – auch wenn es sehr schmerzhaft und schwierig ist –, aber das arbeitet daran, diesen Verlust zu verarbeiten und weiter zu gehen."
Caitlin Doughty: "Einen Leichnam zu sehen, vermittelt ein tiefes Gefühl von Verantwortung."
Für einen guten Abschied braucht es keine Bestatter, sondern Begleiter
Caitlin Doughty wünscht sich, dass mehr Menschen die Chance ergreifen, für ihre Toten selbst zu sorgen.
"Alles, was ein Bestatter kann, könnten Familien auch selbst tun. Natürlich brauchen sie dafür gewisse Fähigkeiten, aber das sind Fähigkeiten, die wir seit Menschengedenken besessen haben. Das große Interesse an alternativen Bestattungsformen zeigt doch: Die Leute spüren, dass es bei Tod und Sterben, bei Trauerzeremonien und -ritualen um mehr geht, als sie von einem gewöhnlichen Bestatter bekommen."
Für einen guten Abschied braucht es keine Bestatter, die einem alles aus der Hand nehmen, sondern Begleiter, die einen dabei unterstützen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Und es braucht Gespräche über das Sterben – lange vor dem letzten Atemzug.
Wladimir Goerdt: "Der, an dessen Stelle es ist zu gehen, ist meine Erfahrung, wünscht sich meist das offene Gespräch darüber. Der weiß ja, was los ist."
Aber Familie und Freunde tun sich schwer damit, das Thema anzusprechen, meint Wladimir Goerdt.
Wladimir Goerdt: "Gerade, wenn es eben auf die letzten Dinge geht, ist es doch den meisten immer noch lieber, man kriegt nichts davon mit, und – ja, irgendwann müssen wir schon sterben, aber heut essen wir noch Schnitzel, und heut haben wir es noch schön, und noch a Bier! – Das kann man ja auch alles machen, aber besser, glaube ich, für alle Beteiligten ist, wenn man irgendwann sagen kann: Jetzt mache ich mir Gedanken drüber. Was passiert da eigentlich? Und wie möchte ich das wirklich haben?"
Diese Verantwortung kann uns niemand abnehmen.
"Es kann uns niemand von außen sagen – nicht die Medizin, nicht der Gesetzgeber, niemand. Wir müssen uns trauen, wir selbst zu sein, und da zueinander zu kommen. Das wäre eigentlich auch fürs Leben ganz schön."