Der Computer kann den Altmeister noch nicht ersetzen
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Neun Sinfonien, dann ist Schluss – eine Regel für Komponisten, die dank Beethoven offenbar bis heute gilt. Dabei hat dieser bis zu seinem Tod sogar an einer Zehnten gearbeitet. Nun hat eine künstliche Intelligenz sie vollendet. Kann das gut gehen?
Das Beethoven Orchester Bonn kennt sich – das deutet der Name schon an – sehr gut mit den Werken des Komponisten Ludwig van Beethoven aus. Doch seine zehnte Sinfonie haben die Musikerinnen und Musiker noch nie gespielt. Kein Wunder, schließlich wurde sie nie fertiggestellt. Bis jetzt. Denn nun wurde eine künstliche Intelligenz eingesetzt, um die vorhandenen Skizzen zu einer richtigen Sinfonie zu vollenden.
Damit tritt ein Computer in die Fußstapfen vieler Menschen, die sich an dieser Aufgabe bereits versucht haben – und gescheitert sind. Dafür wurden alle Werke Beethovens maschinenlesbar aufgearbeitet und in Datenbanken eingespeist. Aus diesen konnte der Algorithmus sich dann bedienen, um herauszufinden, wie der Altmeister tickt und wie er Musik schreibt.
Das Ergebnis klingt schon nach Beethoven. Seine Eigenheiten und Marotten sind ganz gut erkannt und technisch erneuert worden. Doch es erinnert eher an eine Sammlung früherer Werke. Was man hört, klingt wie die Schauspielmusik des Komponisten, nicht wie die späten Streichquartette oder die großen Sinfonien. Neue, revolutionäre Gedanken, die eine echte zehnte Sinfonie nach der großen Neunten sicher gehabt hätte, fehlen ganz.
Dazu kommen deutliche Unterschiede zwischen dem dritten und dem vierten Satz, in dem plötzlich eine Orgel auftaucht. Dabei war Beethoven einer der Komponisten, die mit diesem Instrument gar nichts anfangen konnten und überhaupt nicht dafür komponiert haben.
Noch kein neues Meisterwerk
Es handelt sich also eher um eine hochspekulative Spielerei an der Grenze zur Unseriosität, statt um Beethovens Zehnte. Trotzdem wird das Werk interessant, wenn man einen kulturkritischen Bogen schlägt. Es wirft Fragen von Urheberschaft und ästhetischer Individualität auf. Wo im heutigen digitalen Zeitalter kein Unterschied zwischen Original und Kopie besteht, besteht dann in zehn Jahren auch kein Unterschied zwischen dem Original aus Fleisch und Blut und dem Genie aus künstlicher Intelligenz?
Robert Levin, Harvard-Professor für Musikwissenschaft, hält das durchaus für möglich. Man könne natürlich sagen, der Computer komponiert nach Algorithmen, aber der Mensch leistet es ja auch nur aufgrund von Erfahrungen oder Ausbildung. Vielleicht kann eine künstlerische künstliche Intelligenz also künstlerische Eigenheiten in Zukunft viel besser erkennen, als das im Moment noch der Fall ist.
Doch man darf nicht vergessen: Zumindest das europäische Konzept von Kunst im engeren Sinne – nicht der Kunst als Unterhaltung, sondern als wirkliche künstlerische Hervorbringung – beruht auf der individuellen Abweichung von der Konvention. Wo Beethoven konventionell ist, ist er eigentlich uninteressant. Die Punkte wo er unkonventionell, wo er ganz einzigartig ist, die machen ja den Reiz an Beethoven aus. Und da ist maschinelle Intelligenz bisher noch nicht wirklich herangekommen.
Quelle: Rainer Pöllmann, Hagen Terschüren