Beethoven: Die Neunte Sinfonie

"Wem der große Wurf gelungen…"

Neuerungen bis zuletzt: Auch mit seiner Neunten und letzten Sinfonie gelang es Beethoven noch einmal, die Musikwelt zu überraschen. Porträt von Joseph Karl Stieler, 1820
Neuerungen bis zuletzt: Auch mit seiner Neunten und letzten Sinfonie gelang es Beethoven noch einmal, die Musikwelt zu überraschen. Porträt von Joseph Karl Stieler, 1820. © imago images / United Archives International
Gast: Michael Stegemann, Musikwissenschaftler; Moderation: Olaf Wilhelmer |
Sie ist Inbegriff und Sonderfall zugleich, sie wird geliebt und gehasst, sie wird rauf und runter gesungen und gespielt, und trotz allem bleibt sie schwierig und rätselhaft: Mit Beethovens Neunter Sinfonie ist die Welt noch lange nicht fertig.
1926, genau einhundert Jahre nach dem Erstdruck der Noten im Schott-Verlag, erschien die erste Gesamteinspielung von Beethovens Neunter Sinfonie. Das ist lange her, allerdings nicht so lange wie die erste Einspielung einer Beethoven-Sinfonie überhaupt – 1913 hatten bereits Arthur Nikisch und die Berliner Philharmoniker das "Tatatataa" der Fünften in einen damals futuristisch anmutenden Schalltrichter geschmettert.
Bis Felix Weingartner und das London Symphony Orchestra mit der Neunten nachzogen, vergingen etliche Jahre – eine Zeit des Wartens, des Respekts, des Tüftelns.

Hier geht es zur Playlist der Sendung.

Ehrensache, dass diese Sendung, mit der die Reihe "Wege zu Beethoven" kurz vor dem Beethoven-Jubiläum 2020 ihren Abschluss findet, mit Weingartners Aufnahme beginnt, mit einer "Stunde Null" der modernen Beethoven-Interpretation. Unser heutiger Abstand zu dieser mehr als nur historisch bedeutungsvollen Aufnahme ist fast genauso groß wie damals der Abstand Weingartners zur Uraufführung der Neunten 1824 im Kärntnertortheater Wien!
Inzwischen war Beethovens Neunte zu der "Neunten Sinfonie" schlechthin geworden, und das sollte sie in den folgenden Jahrzehnten auf dem Plattenmarkt auch immer bleiben – bis ins aktuelle Beethoven-Jubiläumsjahr hinein, in dem beispielsweise das Freiburger Barockorchester eine Neuaufnahme des großen Werks vorgelegt hat.

Antipoden und Visionäre

Die Entwicklung der Interpretation verläuft in dieser Zeitspanne keineswegs einheitlich. Schon die Gegenüberstellung der großen Antipoden zwischen 1930 und 1950, Wilhelm Furtwängler und Arturo Toscanini, zeigt grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen.
Und die heute weitverbreitete Berücksichtigung der Metronomangaben Beethovens, die lange Zeit als unausführbar schnell galten, ist nicht etwa ein Produkt der Alte-Musik-Bewegung, sondern findet sich schon in den frühen 1960er Jahren bei René Leibowitz und dem Royal Philharmonic Orchestra.
Auf einer historischen Fotografie ist ein Dirigent zu sehen, der ein sehr dicht besetztes Orchester mit großen Notenpulten leitet.
Alle Klangquellen bestmöglich einfangen: Der Dirigent, Komponist und Schallplattenpionier Felix Weingartner bei einer Probe in der Queen‘s Hall, London 1936.© imago / United Archives International
Gleichwohl leiteten Roger Norrington und die London Classical Players 1987 eine neue Ära ein, in der Beethovens Neunter mit historischem Instrumentarium und rhetorisch geschärfter Spielweise ein neuer Klang abgewonnen wurde. Viele andere Aufnahmen sollten diesem Beispiel – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen – folgen.

Britische Beethoven-Liebe

Dass mit den Deutungen von Weingartner, Klemperer, Leibowitz, Norrington und Gardiner etliche der hier vorgestellten Einspielungen aus London stammen, belegt nicht nur die Vitalität des englischen Musiklebens, sondern steht auch für die enge Verbundenheit der Stadt mit diesem Werk, das Beethoven einst im Auftrag der Philharmonic Society of London komponierte.
So unterschiedlich all diese Deutungen auch sein mögen: Alle Interpreten haben Beethovens Neunte als besondere Herausforderung angenommen, als Ringen um den "großen Wurf" im Konzertsaal und im Tonstudio.
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