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Groß in der Geste, frei in der Form
Beethoven spontan: Wie klang es, wenn der Meister selbst am Klavier in die Tasten griff? Die Klavierfantasie und die sogenannte Chorfantasie geben einen Eindruck von Beethovens Improvisationskunst.
Die letzte Möglichkeit, Beethoven als Klaviervirtuosen zu erleben, bot sich einem breiten Publikum bei der Musikalischen Akademie, die der Komponist am 12. Dezember 1808 im Theater an der Wien veranstaltete. Was das – legendär gewordene – Konzert mit ausschließlich eigenen Werken zur Attraktion machte: dass man Beethoven, durch seine Ertaubung bereits stark beeinträchtigt, noch einmal als Improvisator bewundern konnte.
Obwohl das Programm bereits über Gebühr mit Novitäten angefüllt war, mit der Uraufführung der Fünften und Sechsten Sinfonie sowie des G-Dur-Klavierkonzerts, mit einer Konzertarie und Teilen der C-Dur-Messe, gab Beethoven noch eine freie Fantasie für Fortepiano solo zum Besten und – als krönenden Abschluss – die Fantasie c-Moll für Klavier, Chor und Orchester op. 80, kurz "Chorfantasie" genannt.
Ob die Klavierfantasie so oder ähnlich klang wie das ein Jahr später "nachkomponierte", 1810 als Opus 77 veröffentlichte Werk, ist nicht auszuschließen, aber auch nicht beweisbar. Dessen ungeachtet dürfte uns das Stück einen lebendigen Eindruck von Beethovens Kunst des Stegreifspiels vermitteln. Nach den Worten seines Schülers Carl Czerny gibt diese "sehr geistreiche Fantasie ein getreues Bild von der Art, wie er zu improvisieren pflegte, wenn er kein bestimmtes Thema durchführen wollte und sich daher seinem Genie in Erfindung immer neuer Motive überließ".
Work in Progress
Auch der solistische Part der "Chorfantasie" wurde von Beethoven beim Akademie-Konzert zu Teilen improvisiert, allerdings aus eher praktischen Gründen: das Stück war schlichtweg nicht ganz fertig geworden. Um eine Fantasie im Sinne einer fixierten Improvisation handelt es sich ohnehin nur bei dessen Soloeinleitung. Sie ist zumindest dem ersten Teil der Klavierfantasie vergleichbar: in der formalen und harmonischen Ungebundenheit, der "tastenden" Motiv- und Themensuche, in der Attitüde spontan-impulsiven Ausdrucks.
In beiden Werken endet diese improvisatorische "Haltlosigkeit", sobald ein Thema für eine Folge von Variationen gefunden ist. Zugleich enden hier auch die Gemeinsamkeiten der beiden "Fantasien". Während das Solostück auf historischen Modellen fußt, etwa den Fantasien Carl Philipp Emanuel Bachs, hat die "Chorfantasie" kein Vorbild. Schon von der unkonventionellen Besetzung her, die alle Mitwirkenden der denkwürdigen Akademie von 1808 berücksichtigt, ist das Werk außerordentlich originell.
Preislied der Kunst
Vor allem aber weist die Dramaturgie der Großform in eine neue Richtung: Im Aufbau vom Klaviersolo über einzelne Instrumente und Gruppen bis hin zum Tutti und der Einbeziehung vokaler Soli und des Chores kündigt sich das Finale der 9. Sinfonie an. Nicht zu Unrecht hat man der "Chorfantasie" den Beinamen "kleine Schwester der Neunten" gegeben.
Mit dem Übertritt vom Instrumentalen ins Vokale wollte Beethoven seine Musikphilosophie darstellen. Durch Neutextierung deutete er ein zu seinen Lebzeiten unveröffentlichtes Liebeslied ("Gegenliebe" nach Gottfried August Bürger) zu einem Preisgesang auf die humanisierende, versöhnende Kraft der Künste, namentlich der Musik, um. Mit dem Text, den ihm der junge Dichter Christoph Kuffner lieferte, war Beethoven nicht vollends zufrieden, obwohl die Verse im Kern seine Gedanken wiedergaben.
Dies war 1951 für Johannes R. Becher, in der frühen DDR zum "Nationaldichter" aufgestiegen, hinreichende Legitimation für eine Umdichtung. In durchaus enger verbaler Anlehnung an Kuffner wurden die Künste nun als Mittler und Beförderer im Weltfriedenskampf gefeiert.
Obwohl nur in wenigen Aufnahmen dokumentiert, war die Fassung der "Chorfantasie" mit Bechers Text die in der DDR die verbindliche. Ob sie sich gegenüber der Originalversion behaupten könnte, ist einer von vielen Diskussionspunkten der Sendung.