„Mit innigster Empfindung“
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Auch in der Musik gibt es Werke, die das Zeitgefühl aufheben, die sich so weit über die Formensprache ihrer Epoche erheben, dass sie als „zeitlos“ wahrgenommen werden. Ludwig van Beethovens fünf späte Streichquartette gehören dazu.
Beethovens fünf späte Streichquartette fanden zunächst nur als "wunderliches" Spätwerk des längst Ertaubten Akzeptanz. In ihrer ganzen musikalischen Bedeutung wurden sie erst im 20. Jahrhundert erfasst.
Der eigenen Zeit voraus
Dass auf neue Ideen und Ansätze mit Verwirrung, Unverständnis und Ablehnung reagiert wurde, ist in der Kunst- und Musikgeschichte ein wiederkehrendes Phänomen. Besonders zu beobachten ist es an Epochenübergängen. Auffällig ist, dass gravierende Veränderungen des Lebensumfelds im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts überwiegend hingenommen oder gar gefeiert wurden; die entsprechenden Entwicklungskurven in der Kunst aber meist auf wenig Gegenliebe stießen.
Ihre Zeitgebundenheit, etwa der Durchbruch zur atonalen Musik in den aufgewühlten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, wurde vielmehr als verstörend empfunden und vehement abgelehnt – worin sich auch ein latentes Unbehagen am rasanten gesellschaftlichen Wandel dokumentierte, das anhand der Kunst stellvertretend ausgelebt wurde.
Wunderliches Spätwerk
Bereits die Vorgeschichte der "Moderne", das gesamte 19. Jahrhundert, war von Wandel und Innovation geprägt. Und auch wenn sich das in der Musik nur indirekt widerspiegelte, blieb sie davon nicht unberührt. Sie reflektierte die Zeichen ihrer Zeit mit den Mitteln der Abstraktion, mit der Verdichtung von Struktur und Ausdruck und noch nicht mit der Imitation von Eisenbahn- und Dampfmaschinengeräuschen oder Ähnlichem, was theoretisch ja ab der Mitte des 19. Jahrhunderts möglich gewesen wäre.
Bekämpft wurden die musikalischen Neuerungen dennoch. Auch Beethoven wäre wohl massiver angegriffen worden, wenn er nicht längst als Genie und Übermensch gegolten hätte. So betrachtete man seine letzten Quartette als "wunderliches" Spätwerk.
Man verstand den längst Ertaubten nicht, während Beethoven selbst die innere Notwendigkeit des von ihm eingeschlagenen Weges hervorhob.
Projektionen auf die Zukunft
Im 20. Jahrhundert beanspruchten Komponisten wie Arnold Schönberg oder Luigi Nono für sich, erst die ganze musikalische Bedeutung der späten Quartette Beethovens erkannt zu haben. Sie begriffen sie als Projektionen auf die Zukunft und als Bindeglied zwischen klassischer Tradition und "Moderne".
Denn dies geschah nicht zuletzt zur Legitimation des eigenen Schaffens und Standpunkts. Nono bezog sich in "Fragmente, Stille, an Diotima" explizit auf Beethovens "Heiligen Dankgesang". Er zitierte ihn aber nicht, sondern deklarierte ihn zum geistig-spirituellen Anknüpfungspunkt – besonders die Vortragsanweisung "mit innigster Empfindung", die er als Blick auf den Grund der Seele und Ausdruck eines radikalen Aufbruchs ins Ungewisse verstand.
So weit wie Luigi Nono konnte Beethoven aufgrund der Zeitgebundenheit seiner Musik nicht gehen. Sein Aufbruch ins Ungewisse, "mit innigster Empfindung", beruht vielmehr auf der Entdeckung der eigenen subjektiven Emotionalität, die er für sein Schaffen fruchtbar machte.
Rückzug in seelische Innenräume
"Du darfst nicht Mensch sein; für dich nicht, nur für andre; für dich gibt’s kein Glück mehr als in dir selbst, in deiner Kunst."
Mit dieser Äußerung von 1812 kündigte Beethoven den Rückzug in seelische Innenräume an, und verantwortlich dafür war gewiss auch seine Ertaubung.
Allerdings nicht allein, denn seine Haltung deckt sich mit dem zu dieser Zeit erwachenden "romantischen" Lebensgefühl, in dem, so auch bei Franz Schubert und Robert Schumann, krisenhafte Zustände zur Grundlage künstlerischer Inspiration stilisiert wurden. Außerdem korrespondierte Beethovens kompositorische Reife mit der Entwicklung der Gattung Streichquartett, die sich endgültig vom Status der Hausmusik verabschiedet hatte und zu höchster Kunst aufgestiegen war.
Schöpferisch suchte er im Übrigen nicht nur in sich selbst, sondern in der Musikgeschichte, indem er alte kompositorische Verfahren umdeutete und in etwas Unerhörtes verwandelte. Im Falle des "Heiligen Dankgesangs" sind es Choralanklänge und die auf Giovanni Pierluigi da Palestrina zurückgehende Kontrapunktpraxis "Note gegen Note", die Beethoven in eine Art Sphärengesang überführte. Und in der Großen Fuge op. 133 ist es die Fugenform selbst, der er ganz neues Leben einhauchte.
Ebenso frei wie kunstvoll - die Große Fuge
Vorgesehen war die Große Fuge ursprünglich als Finalsatz des Streichquartetts B-Dur op. 130, das 1825 entstand und im März des folgenden Jahres vom Schuppanzigh Quartett uraufgeführt wurde. Auf Drängen seines Verlegers tauschte Beethoven aber bereits im November 1826 das Fugenfinale gegen einen leichteren Satz aus. Die Große Fuge B-Dur erschien dann unter der Opuszahl 133 kurz nach Beethovens Tod separat im Druck.
Beethoven dehnte die Musiksprache seiner Zeit bis ans Äußerste, doch die einkomponierten Stimmungsschwankungen markieren das eigentlich Zukunftsweisende in seinen fünf späten Streichquartetten – als in Klang abstrahierte psychische Prozesse eines "modernen" Menschen.
Ihrer Zeit voraus sind die Quartette dennoch nur bedingt, denn die Wurzeln der "Moderne" liegen just in jener frühromantischen Phase, in der Beethoven sie verfasste. Und sein auch durch die Taubheit bedingter seelischer Ausnahmezustand machte ihn besonders empfänglich dafür, die untergründigen Schwingungen jener Zeit aufzunehmen und in Kunst zu transformieren.