Der Online-Text ist eine gekürzte Fassung des Features von Thomas Franke.
Gedenken in Zeiten des Krieges
Skulptur eines Soldaten der Roten Armee auf der Gedenkstätte Seelower Höhen: In diesem Jahr fällt das gemeinsame Erinnern schwer. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild / Patrick Pleul
Befreier, Besatzer, Kriegstreiber
30:00 Minuten
Das Gedenken zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa steht normalerweise im Zeichen der Versöhnung und ist vom Geist des Friedens getragen. Dieses Jahr ist alles anders. Es stellt sich die Frage, wie sich angesichts des russischen Angriffskriegs daran erinnern lässt.
Auf den Seelower Höhen, in Brandenburg nahe der polnischen Grenze, steht ein Soldat auf einem Hügel. Sein Gewehr trägt er vor der Brust. Er blickt nach Osten, erschöpft. Hier fand eine der größten Schlachten des Zweiten Weltkriegs statt. Binnen drei Tagen starben mehr als 100.000 Menschen. Eine Gedenkstätte erinnert daran.
Ein Schlachtfeld ist Mahnung
„Ewig unvergessen seid ihr Sowjetsoldaten“, so steht hier eingemeißelt in Stein. „Ihr gabt euer Leben, uns von Faschismus und Krieg zu befreien. Was in euch brannte, soll in uns Fackel sein.“
Jedes Jahr am 16. April ehren hier Vertreter der ehemals sowjetischen Staaten gemeinsam mit Deutschen die Opfer. Aber in diesem Jahr ist alles anders. Keiner möchte angesichts des Krieges in der Ukraine mit Vertretern der russischen Botschaft gedenken.
Rainer Schinkel, der Vertreter des Landkreises, kommt im schwarzen Anzug. Er hat einen Kranz dabei. „Dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint“, steht auf der Schleife.
„Gedenken kann man auf die Art und Weise, wie wir es heute gemacht haben“, sagt er. „Ich denke, das ist angemessen. Es geht nicht um die Schlacht als solche, es geht um die Toten. Es geht um das unermessliche Leid, was Krieg mit sich bringt. Und wenn wir sehen, was wenige Kilometer entfernt im Osten jetzt stattfindet, glaube ich, ist das angemessen. Denn Trauer braucht keine öffentliche Aufmerksamkeit. Trauer kann man individuell zeigen, und das machen wir als Landkreis, und das macht auch sicher der eine oder andere am heutigen Tag und in den kommenden Tagen.“
Niemand will Vertretern Russlands begegnen
Dem russischen Botschafter wollte Schinkel offenbar nicht begegnen.
„Wir haben uns für dieses stille Gedenken entschieden und insofern niemanden eingeladen.“
„Wir haben uns für dieses stille Gedenken entschieden und insofern niemanden eingeladen.“
Dennoch bleibt Schinkel nicht allein. Drei Leute kommen den Weg hoch. Auch sie tragen einen Kranz aus roten Rosen und weißen Chrysanthemen. Darunter eine blau-gelbe Schleife: „Es lebe Belarus“ steht darauf, und "Ruhm der Ukraine", die Parole der Demokraten in der Ukraine 2014.
Olja Homza-Knies bleibt stehen und blickt zu Boden. Sie ist Belarussin, vor der Unterdrückung durch das Lukaschenko-Regime geflüchtet, erzählt sie. „Wir haben gemeinsam für den Frieden, für die Freiheit gekämpft. Leider dürfen wir aber nicht frei sein.“
Homza-Knies arbeitet bei der Kirchengemeinde Neutrebbin. Gemeinsam mit dem Pastor hat sie dort den Verein Mara gegründet. „Wir haben den Verein gegründet, um belarussischen Flüchtlingen zu helfen, die vor der Diktatur von Lukaschenko geflohen sind. Leider müssen sie jetzt sogar zum zweiten Mal fliehen. Manche sind zuerst in die Ukraine und jetzt müssen sie dort vor Putins Bomben fliehen.“
Russischen Vertretern wollen sie und der Pfarrer, der sie begleitet, auf keinen Fall begegnen. Still verlassen sie die Gedenkanlage.
"Wie gehen wir mit diesem Tag heute um?"
Obwohl es dieses Jahr keine offizielle Gedenkveranstaltung gibt, füllt sich langsam der Parkplatz. Ein paar Bereitschaftspolizisten inspizieren das Denkmal. Sicherheitsvorkehrungen.
Als nächstes kommt Jörg Schröder, der Bürgermeister von Seelow. Die Blumen sind blau und weiß, wie die Schleife: „In Gedenken, Stadt Seelow“ steht darauf. Auch er möchte nicht unbedingt auf die Vertreter der russischen Botschaft treffen.
Schröder legt den Kranz neben den des Landkreises. Dann verharrt auch er kurz in stillem Gedenken. Ein paar Leute schauen ihm dabei zu. Man kennt sich. Es sind Angehörige der Linken. Auch ein Kamerateam ist mittlerweile eingetroffen. Schröder stellt sich an die Seite, strafft sich ein wenig, verschränkt die Hände vor dem Bauch.
„Ich möchte euch noch einmal ganz herzlich hier auf der Gedenkstätte auf dem Seelower Höhen begrüßen. 77 Jahre nach Kriegsende sind wir ja mit unseren Gedanken so ein bisschen hin und hergerissen. Wie geht man mit diesen Tag hier und heute um?“
Eine Frau von der Linken legt ein Gesteck mit roten Nelken ab. „In ehrendem Gedenken“ steht auf der Schleife. Schröder stellt sich neben die Kränze. Er weiß nicht so recht, wie es nun weitergehen soll in Seelow. "Wir hatten jetzt 77 Jahre Frieden und haben uns auch gut entwickelt. Und wie gesagt, das Schlimmste ist jetzt, wenn das alles in Frage stehen würde."
Die ersten Russen kommen
Auf dem Parkplatz vor der Gedenkstätte Seelower Höhen stehen nun mehrere Mannschaftswagen der Polizei. Man fürchtet offenbar Auseinandersetzungen.
Eine weitere Gruppe kommt. Junge Familien mit Kindern, zwei Rentner. Etwa zehn Leute nehmen an einer Führung teil.
Dann plötzlich taucht ein Mann im dunklen Anzug auf, den Mund von einem sorgsam gestutzten Bart umkränzt, begleitet von einer sehr schlanken jungen Frau im Hosenanzug. In der Hand trägt er einen Kranz, geschmückt mit der russischen Trikolore und dazu passenden weißen, blauen und roten Blumen. Er drapiert den Kranz auf einem der freien Ständer, hält kurz inne. Seine Begleiterin richtet die Schleife. „Botschaft der Russischen Föderation“, steht darauf.
Wenig später steht der Mann im dunklen Anzug an einem der Einzelgräber, in der Hand ein Buch. Er scheint zu beten. Weiter unten stehen mittlerweile zwei Polizisten auf dem Weg. Eine Frau und zwei Männer mit einem Kranz in den ukrainischen Farben, blau-gelb, lassen sie passieren. Der junge Mann trägt ein T-Shirt mit der ukrainischen Fahne und dem Dreizack auf der Brust.
Auch Ukrainer sind hier gestorben
„Wir sind nicht umsonst hier“, sagt er. „Wir möchten auch ein Zeichen setzen. Dass das nicht nur russische Soldaten der Roten Armee waren, sondern auch ukrainische, die hier liegen.“
Der junge Mann heißt Thomas Ney und ist Stadtverordneter der Piratenpartei in Oranienburg. „Meine Schwiegermutter ist Ukrainerin. Und ich bin ehrenamtlich aktiv zurzeit in der Ukraine-Hilfe. Und da ist uns das natürlich wichtig als Zeichen sozusagen, dass das eben vor allem ukrainische Opfer des Faschismus waren.“
Seine Schwiegermutter steht neben ihm, trägt eine schwarze Jacke, und hat ihr rötlich gefärbtes Haar mit einem blau-gelben Band zusammengebunden. Sie heißt Alina Erler.
„Man hat schon jahrelang beobachtet, immer zu dem Tag des Sieges - diese Dominanz. Da konnte man als Ukrainer gar nicht zeigen, dass du auch den Kriegsopfern gedenkst. Und jetzt wird es langsam Zeit, dass wir das zeigen.“
Plötzlich wird es voll. Angeführt von einem bulligen Mann in blauer Uniformjacke mit einem goldenen Stern auf der Schulterklappe und goldenem russischen Adler auf der Mütze, eilt ein Tross von Anzugträgern die Anhöhe hinauf. Direkt steuern sie die Kranzablagestelle an. Die russische Delegation. Viele tragen kleinere Gestecke, rote Nelken, Georgsbänder. In Teilen Deutschlands und der EU ist die Schleife partiell oder dauerhaft verboten.
Ein russischer Offizier will reden
Als erstes stellen sich zwei Uniformierte als Ehrenwache links und rechts von den Kränzen auf, salutieren. Die Bereitschaftspolizisten sichern jetzt breitbeinig das Gelände.
Ein russischer Offizier tritt nach vorn, in der Hand eine rote Nelke. Sie knien nieder, legen die Blume vor die Kränze. Dann drücken sie die Beine und Rücken durch, heben die Hand an den Rand ihrer Mütze, halten kurz inne.
Der russische Offizier ist der Militärattaché, und er will reden. „Allein in Polen sind 600.000 sowjetische Soldaten gefallen, in Deutschland bei der Befreiung vom Nazismus 100.000. Weil sie verstanden haben, dass wir den Nazismus besiegen müssen und Europa Freiheit bringen müssen. Wir dachten, der Krieg sei beendet. Aber nun hat sich herausgestellt, dass der Krieg nicht zu Ende gekämpft ist.“
Er betrachtet offenbar den Angriff Russlands auf die Ukraine als Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs. Er beugt beim Sprechen den Kopf nach vorn, sichtlich aufgebracht angesichts der diesjährigen Feierlichkeiten Anfang Mai.
„Wir haben Informationen, dass es Versuche gibt, die Feiern am 9. Mai zu stören. Denn es wurden bereits alternative antirussische, antisowjetische Veranstaltungen angemeldet im Treptower Park und im Tiergarten, zu den Zeiten, zu denen unsere traditionellen Veranstaltungen geplant sind, gemeinsam mit unseren deutschen Freunden, unseren Partnern aus unseren befreundeten Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Da werden tausend Leute erwartet.“
"Butscha ist eine Inszenierung"
Der Mann wirkt sichtlich unter Druck. Stimmt, sagt er, was sonst? „Wenn von zehn Mitarbeitern des Apparats des Militärattachés neun ausgewiesen wurden. Vor einer Woche haben sie das Land verlassen. Ich bin jetzt allein hier. Deshalb, natürlich, das ist politischer Druck, und moralischer, und psychologischer, und medialer", sagt er.
"Schauen Sie, was für ein Ton in den hiesigen Zeitungen herrscht, es gibt keine einzige Zeitung, die nüchtern die einen oder anderen Ereignisse beschreibt. Stattdessen verbreiten sie Fakes und Lügen. Wo immer es die Möglichkeit gibt, versuchen sie, uns zu diskreditieren, zu kompromittieren, versuchen, Schmutz über uns zu verbreiten, versuchen, einen Keil zwischen Russland und Deutschland zu treiben. Die jüngsten Ereignisse… Ich möchte eigentlich nicht an diesem heiligen Ort darüber sprechen. Aber diese Fake News aus der Ukraine: Butscha. Kramatorsk. Das verstehen doch alle, dass das inszeniert war.“
Vereinte Trauer reicht nicht für den Frieden
Butscha ist ein Symbol für abscheuliche Verbrechen in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine geworden, in Kramatorsk haben russische Raketen den Bahnhof voller Flüchtlinge getroffen. Aber der Offizier glaubt das nicht.
„Alle Politiker Deutschlands haben Russland ohne Beweise zu haben beschuldigt und gesagt, an allem sei Russland Schuld, russische Soldaten hätten gemordet, bevor sie Butscha verließen. Sie kennen den russischen Soldaten nicht. Es entspricht nicht unseren Traditionen, so zu kämpfen. Das sind Traditionen von Nazisten, die gegen ihr eigenes Volk kämpfen.“
Gedenken zum Kriegsende 77 Jahre danach – erst jetzt wird plötzlich und schmerzhaft klar, dass die bloße Trauer über Kriegstote nicht für den Frieden reicht.