Begegnung zweier ungleicher Mädchen
Lou ist 13 und hochbegabt, doch der banale Alltag überfordert sie oft. Eines Tages begegnet sie No, die fünf Jahre älter ist und als Obdachlose in Paris lebt. Lou will die Außenseiterin kennenlernen und geht dabei weit über ihre Grenzen hinaus.
Was verbindet eine hochbegabte 13-Jährige aus einem sogenannten guten Elternhaus mit einer 18-Jährigen, die auf der Straße lebt und durch alle Maschen der staatlichen Fürsorge rutscht?
Lou besucht die zehnte Klasse. Sie ist zwei Jahre jünger als ihre Mitschüler, weil sie zweimal eine Klasse übersprungen hat. Ihr Verstand arbeitet auf Hochtouren. Sie kann sich Dinge merken und logische Verknüpfungen anstellten, die weit über den Durchschnitt hinausgehen. Doch diese intellektuelle Frühreife geht mit einer großen Unsicherheit im praktischen Lebensalltag einher. Die Schnürsenkel zuzubinden überfordert Lou regelmäßig. Sie hat Angst vor ihren Klassenkameradinnen, deren wichtigste Themen das Make-up, die neueste Mode und Musik sind. Lou zieht sich zurück, versucht ihren nie endenden Gedankenstrom zu beherrschen. Wenn sie sich unsicher fühlt, führt sie schwierige Multiplikationen oder Divisionen im Kopf durch. Doch nicht nur in der Schule fühlt sich Lou als Außenseiterin und allein gelassen, auch zu Hause ist sie einsam. Im Alter von sechs Jahren hatte Lou eine lang ersehnte Schwester bekommen. Doch das Baby stirbt nach wenigen Monaten und hinterlässt eine sprachlose Familie. Besonders die Mutter kann ihre Trauer nicht überwinden, verfällt in eine tiefe Depression und ist für die verstörte Lou unerreichbar.
No ist 18 und obdachlos. Nach einer glücklosen Kindheit mit Pflegefamilie, Internat und Heimaufenthalt zieht sie nun durch die Straßen von Paris, sucht jede Nacht einen neuen Ort, an dem sie schlafen kann.
Die beiden Mädchen begegnen sich auf dem Bahnhof, Lou will ein Referat über Obdachlosigkeit halten und versucht, No kennenzulernen. No erweist sich als spröde und abweisend, aber Lou gibt nicht auf. Sie sieht es als persönliche Herausforderung an, No kennenzulernen und "die Dinge" zu verändern. Dabei geht Lou weit über ihre Grenzen hinaus und stellt die Regeln der Erwachsenen immer wieder in Frage. Sie weiß, dass der Fuchs für den kleinen Prinzen einzigartig ist, weil er ihn gezähmt hat.
Die Autorin Delphine de Vigan arbeitet als Soziologin und hat die Situation obdachloser Frauen gründlich recherchiert. Mit dem Kunstgriff, die Geschichte von No aus der Perspektive einer anderen Jugendlichen zu zeigen, entgeht sie der Gefahr, eine Betroffenheitsgeschichte zu schreiben. In einer schlichten Sprache lässt Delphine de Vigan Lous Welt entstehen, in der sich die Sätze schon mal endlos auf einer Seite aneinanderreihen, um Lous nicht endenden Gedankenstrom für den Leser spürbar werden zu lassen. In einem Interview gesteht die Autorin ein, dass die beiden Mädchen ihre eigenen Seiten ein Stück weit widerspiegeln. So ist es Delphine de Vigan gelungen, sehr authentisch wirkende Figuren zu entwickeln. Sie beschreibt sie mit solcher Wärme, dass der Leser sie annehmen und für beide Sympathie entwickeln muss.
Einfühlsam und anrührend erzählt sie von den Schwierigkeiten und Träumen der beiden einsamen jungen Mädchen zu denen sich noch Lucas gesellt, der ebenfalls davon überfordert ist, dass seine Eltern ihn sich selber überlassen. Sehr gradlinig und stringent entwickelt die Autorin die Geschichte in kurzen Kapiteln, was die Dynamik noch erhöht. Lange Zeit bleibt es offen, ob es den Jugendlichen gelingt, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen und zu einem glücklichen Ende zu führen. Der Leser zittert und fiebert mit Lou und ahnt doch schon, dass das Happy End nur im Märchen stattfindet.
Delphine de Vigan wurde 1966 in Paris geboren, wo sie heute mit ihren beiden Kindern lebt. Sie begann neben ihrer soziologischen Forschungstätigkeit nachts zu schreiben und hat mit diesem Roman ihren internationalen Druchbruch erreicht. "No & ich" ist in Frankreich mit zwei Preisen ausgezeichnet und in elf Sprachen übersetzt worden.
Rezensiert von Birgit Koß
Delphine de Vigan: No & ich
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
Droemer Verlag, München 2008
250 Seiten, 16,95 Euro
Lou besucht die zehnte Klasse. Sie ist zwei Jahre jünger als ihre Mitschüler, weil sie zweimal eine Klasse übersprungen hat. Ihr Verstand arbeitet auf Hochtouren. Sie kann sich Dinge merken und logische Verknüpfungen anstellten, die weit über den Durchschnitt hinausgehen. Doch diese intellektuelle Frühreife geht mit einer großen Unsicherheit im praktischen Lebensalltag einher. Die Schnürsenkel zuzubinden überfordert Lou regelmäßig. Sie hat Angst vor ihren Klassenkameradinnen, deren wichtigste Themen das Make-up, die neueste Mode und Musik sind. Lou zieht sich zurück, versucht ihren nie endenden Gedankenstrom zu beherrschen. Wenn sie sich unsicher fühlt, führt sie schwierige Multiplikationen oder Divisionen im Kopf durch. Doch nicht nur in der Schule fühlt sich Lou als Außenseiterin und allein gelassen, auch zu Hause ist sie einsam. Im Alter von sechs Jahren hatte Lou eine lang ersehnte Schwester bekommen. Doch das Baby stirbt nach wenigen Monaten und hinterlässt eine sprachlose Familie. Besonders die Mutter kann ihre Trauer nicht überwinden, verfällt in eine tiefe Depression und ist für die verstörte Lou unerreichbar.
No ist 18 und obdachlos. Nach einer glücklosen Kindheit mit Pflegefamilie, Internat und Heimaufenthalt zieht sie nun durch die Straßen von Paris, sucht jede Nacht einen neuen Ort, an dem sie schlafen kann.
Die beiden Mädchen begegnen sich auf dem Bahnhof, Lou will ein Referat über Obdachlosigkeit halten und versucht, No kennenzulernen. No erweist sich als spröde und abweisend, aber Lou gibt nicht auf. Sie sieht es als persönliche Herausforderung an, No kennenzulernen und "die Dinge" zu verändern. Dabei geht Lou weit über ihre Grenzen hinaus und stellt die Regeln der Erwachsenen immer wieder in Frage. Sie weiß, dass der Fuchs für den kleinen Prinzen einzigartig ist, weil er ihn gezähmt hat.
Die Autorin Delphine de Vigan arbeitet als Soziologin und hat die Situation obdachloser Frauen gründlich recherchiert. Mit dem Kunstgriff, die Geschichte von No aus der Perspektive einer anderen Jugendlichen zu zeigen, entgeht sie der Gefahr, eine Betroffenheitsgeschichte zu schreiben. In einer schlichten Sprache lässt Delphine de Vigan Lous Welt entstehen, in der sich die Sätze schon mal endlos auf einer Seite aneinanderreihen, um Lous nicht endenden Gedankenstrom für den Leser spürbar werden zu lassen. In einem Interview gesteht die Autorin ein, dass die beiden Mädchen ihre eigenen Seiten ein Stück weit widerspiegeln. So ist es Delphine de Vigan gelungen, sehr authentisch wirkende Figuren zu entwickeln. Sie beschreibt sie mit solcher Wärme, dass der Leser sie annehmen und für beide Sympathie entwickeln muss.
Einfühlsam und anrührend erzählt sie von den Schwierigkeiten und Träumen der beiden einsamen jungen Mädchen zu denen sich noch Lucas gesellt, der ebenfalls davon überfordert ist, dass seine Eltern ihn sich selber überlassen. Sehr gradlinig und stringent entwickelt die Autorin die Geschichte in kurzen Kapiteln, was die Dynamik noch erhöht. Lange Zeit bleibt es offen, ob es den Jugendlichen gelingt, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen und zu einem glücklichen Ende zu führen. Der Leser zittert und fiebert mit Lou und ahnt doch schon, dass das Happy End nur im Märchen stattfindet.
Delphine de Vigan wurde 1966 in Paris geboren, wo sie heute mit ihren beiden Kindern lebt. Sie begann neben ihrer soziologischen Forschungstätigkeit nachts zu schreiben und hat mit diesem Roman ihren internationalen Druchbruch erreicht. "No & ich" ist in Frankreich mit zwei Preisen ausgezeichnet und in elf Sprachen übersetzt worden.
Rezensiert von Birgit Koß
Delphine de Vigan: No & ich
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
Droemer Verlag, München 2008
250 Seiten, 16,95 Euro