Brita Reimers, Mara Sylvester: "Begegnungen. Von Natur und Natur"
Matthes & Seitz Berlin 2016, Hardcover, 270 Seiten, 30,00 Euro
Mit unbedingter Liebe zum Detail
Brita Reimers und Mara Sylvester haben ein Buch herausgegeben, das unsere Kritikerin bezaubert hat: "Begegnungen. Von Natur zu Natur" dokumentiert in Texten, Bildern und Collagen die Möglichkeit enger konstruktiver Beziehungen zwischen Mensch und Natur. Ein kleines Kunstwerk.
"(Begegnungen)" – der Titel wohlgemerkt: in Klammern gesetzt - ist ein überraschendes Buch. Trotz anspruchvoller Texte keine anstrengende Lektüre. Trotz reicher Bebilderung kein Coffee-Table-Book. Eher ein Kunstwerk. In Konzeption und Komposition erinnert es ein wenig an einen Landschaftsgarten: Wie die Besucher eines kunstvoll angelegten Parkes ihre Wege selbständig einschlagen, um nach jeder Biegung neue Sichtbeziehungen zu finden, darf man als Leser oder Betrachter des Buches die Linearität üblicher Lektüreformen verlassen, um eigene Zugänge zu entdecken.
Dabei ist es egal, wo man das Buch aufschlägt. Oder wo es auf-fällt: Denn das Buch "fällt auf". Buchstäblich. Die offene Fadenbindung ermöglicht das komplette Aufschlagen jeder einzelne Seite. Und jede einzelne Seite wurde einzeln und meisterlich von Mara Sylvester gestaltet. Dies wiederum veranlasste die Autorin und Ideengeberin des Buches Brita Reimers, die Grafikerin Mara Sylvester zur Co-Autorin zu erklären:
Schläft ein Lied in allen Dingen,/die da träumen fort und fort,/und die Welt hebt an zu singen,/triffst Du nur das Zauberwort. (Joseph Freiherr von Eichendorff)
Die Natur neu entdecken
Die Natur neu zu entdecken und sich mit ihr vertraut zu machen – darum geht es den beiden Künstlerinnen. Dabei beschränken sie nicht auf die "äußere Natur", sondern meinen auch diejenige, die wir als Menschen je selbst sind. Im Laufe der Geschichte, heißt es in der Einleitung, seien wir immer mehr aus der Natur herausgetreten.
"Was als Befreiung begann, hat sich ins Gegenteil verkehrt."
"Begegnungen. Von Natur und Natur" – so der ganze Titel – lädt ein zu einem kontemplativen Kontakt. Dazu führen die Künstlerinnen die Leser und Betrachter an verschiedenste Orte, Räume, Zeiten, Materialien und zu Texten unterschiedlichster Herkunft aus Dichtung, Wissenschaft, Kunst und Philosophie. Viele von ihnen bisher nicht ins Deutsche übersetzt.
"Ich erahne die Möglichkeit einer Musik, die eigens für die Aufführung im Freien komponiert ist, aus großen Linien und vokalen und instrumentalen Eigenwilligkeiten, die in freier Luft spielen und fröhlich über den Wipfeln der Bäume schweben."
(Claude Debussy)
(Claude Debussy)
Keine sattsam bekannten Zeugnisse der Zerstörung von Natur
Seit fast 30 Jahren beschäftigt sich Brita Reimers mit der Erfahrbarkeit von Natur. In diesem Buch hat sie die Ergebnisse ihrer Beschäftigung versammelt. Zeugnisse, eben nicht der sattsam bekannten Zerstörung, sondern der Möglichkeit enger, konstruktiver Beziehungen von Mensch und Natur. Brita Reimers – und darin liegt die politische Dimension des Buches – will an das Gelingen erinnern, das bei allem Scheitern immer möglich bleibt.
Auf Seite 222 – eine kleine Fotocollage: Das obere Bild suggeriert durch einen starken Zoom Steine, die sanft von Wasser umspült werden. Darunter jedoch die Information:
"'Cradle to Cradle' zertifizierter AirMaster Teppich, der das Raumklima verbessert. Die polyolefinbasierte Rückenbeschichtung wird vollständig recycelt."
Cradle-to-Cradle - "Von der Wiege zur Wiege" – ist die Vision einer abfallfreien Wirtschaft. Hier verpflichten sich Firmen, ausschließlich Stoffe zu verwenden, die dauerhaft Nährstoffe für natürliche oder für geschlossene technische Kreisläufe sind. Diese weiterführende Informationen erhält der interessierte Leser im Kapitel "Wie man lebt und denkt". Biographische Notizen.
Ich berühre den hartnäckigen Mut des Felsens,/seine in der Salzlake berannte Wehr,/und weiß, hier blieben Risse von mir zurück,/durchfurchte Substanzen, die aus Tiefen/aufstiegen bis zu meiner Seele,/und Stein war ich, Stein werde ich sein, deshalb/berühre ich diesen Stein, und für mich ist er nicht gestorben:/er ist, was ich war, was ich sein werde, Ruhe/eines Kampfes endlos wie die Zeit.
(Pablo Neruda)
(Pablo Neruda)
Schöne Beiläufigkeit
In einer schönen Beiläufigkeit erinnert das Buch an japanische Kunst, die mit unbedingter Liebe zum Detail ebenso leidenschaftlich und sorgfältig ist. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, während gleichzeitig der Eindruck naturhafter Zufälligkeit entsteht.
Der alte Teich/ein Frosch springt hinein/Wassers Klangalter weiher/ein frosch springt rein/wasserplatschen
(Matsuo Basho)
Natur meint und fordert den respektvollen Umgang miteinander.
Und so hat Mara Sylvester neben dem Titel auch die Kapitelüberschriften und Seitenzahlen in Klammern gesetzt: Alles und Jedes - eine Möglichkeit. Ein Vielleicht. Keine feste Hierarchie. Fließrichtungen oder Wolkenspiegelungen.
Heiter und berührend
Wie bei einem Spaziergang durch einen Landschaftsgarten, bei dem sich der aufmerksame Besucher in einer oszillierenden Landschaft findet, erfährt die Rezipientin beim Blättern, Lesen, Schauen des Buches berührende wie heitere Momente. Zum Beispiel die zwei gegenübergestellten Fotos. Auf einer linken Buchseite:
Eine Wiese mit einem schmalen Trampelpfad. Von Bildmitte unten zur Bildmitte oben - "A Line made by Walking" - ein Schwarz-Weiß-Foto des britischen Land-Art-Künstlers Richard Long. Und auf der rechten Buchseite, ebenfalls von Bildmitte unten zur Bildmitte oben:
"Ein schmaler, dennoch üppig gedeihender Rasenstreifen, der sich über den gepflasterten Vorplatz der Universität Innsbruck zieht."
"Cut", ein Werk des österreichischen Künstlers Lois Weinberger.
Oder das laute grüne Etwas auf Seite Klammer auf, 239, Klammer zu: Eine hornähnliche Figur, wie von selbst gewachsen, als die Künstlerin Eva-Maria Schön mit dem in Tusche getunkten Daumen das Papier berührte. Darunter zu lesen:
"Der Daumen bewegt sich von links nach rechts geradeaus und dann einmal im Kreis um 360 Grad, er nimmt die feuchte Farbe auf und drückt weiter geradeaus."
"Begegnungen. Von Natur und Natur". Dieses Buch schult nicht nur den Blick für die Schönheit von Alltäglichkeiten. Es zeigt auch, wie Schönheit entsteht - in uns, wie um uns. Leise und dennoch dringlich, fordert es auf, inne zu halten. Zu Verweilen. Wahrzunehmen.
Es wäre ein Versäumnis, sich nicht zu versenken in diesen buchgewordenen Landschaftsgarten; ein Versäumnis, ihn nicht als eine neue, reiche Quelle zu entdecken.