Berlin bekämpft mit Quereinsteigern den Lehrermangel
Sie bringen frischen Wind und Lebenserfahrung ins System: Besonders hoch ist der Anteil von Quereinsteigern bei neueingestellten Lehrern unter anderem in Berlin. Dort werden Castings abgehalten, bei denen sich die Kandidaten vor den Schulleitern präsentieren müssen.
"Hi! Mein Name ist Linus, bin 10 Jahre alt. Ich gehe auf die Hundsrück-Grundschule, mein Musiklehrer ist Herr Hegewald. Ja."
Rick Hegewald, der Musiklehrer von Linus, ist 33, hat einen Magister in Musik und Informatik, wollte auch immer irgendwie Lehrer werden, war dann aber erstmal – freiberuflicher Zirkuspädagoge:
"Zirkuspädagoge ist jemand, der Menschen Zirkus beibringt. Alles möglich, von Jonglage bis Artistik und so weiter."
"Und da haben die Schulleiter beim Casting sofort gesagt: Du bist unser Mann, das ist genau das, was brauchen?!"
"Ja, ein bisschen schon."
Ein Fach reicht nicht aus
Aber Rick Hegewald war natürlich auch so begehrt, weil sich seine Studienabschlüsse hervorragend in zwei Schulfächer ummünzen ließen – eine Voraussetzung, um in Berlin quer ins Lehramt einzusteigen. Wer nur ein Fach bieten kann, muss eins nachstudieren. Dann fehlt Ingenieuren oder Chemikern aber immer noch didaktisches Knowhow:
"Die Didaktik, das heißt das kleingliedrige Unterrichtsgeschehen, wie bringe ich es feinstufig Kindern bei, dass man schriftlich addiert oder im Rhythmus spielt, das sind Dinge, die musste ich nachlernen oder musste ich mir selbst aneignen."
Dabei helfen sollen den Quereinsteigern Seminare und ihre Schulen, in denen sie ein reguläres Referendariat und das 2. Staatsexamen machen. Belohnt wird die harte Arbeit mit einer unbefristeten normalen Lehrer-Stelle. Denn Schulen brauchen viel mehr Lehrer, als auf dem Markt sind - vor allem in Sachsen und Berlin.
Hohe Quereinsteigerquoten in Sachsen und Berlin
"Das ist ja ein Ausdruck der Mangelpolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte in Berlin."
Tom Erdmann, Berliner Landeschef der Lehrergewerkschaft GEW:
"Klar ist, Berlin hat zu wenige Lehrkräfte ausgebildet."
Berlin und Sachsen verbeamten ihre Lehrer aber auch nicht mehr und zahlen wenig. Die Folge: Von den Lehrern, die im vergangenen Jahr eingestellt wurden, war bundesweit fast jeder zehnte ein Quereinsteiger; in Berlin waren es rund 40 Prozent, in Sachsen über 50 Prozent.
Die Quereinsteiger können frischen Wind und Lebenserfahrung ins System bringen. Vom Ingenieur über den Mathematiker bis zum freiberuflichen Zirkuspädagogen Rick Hegewald, der mehr Sicherheit suchte, aber mit Kindern, Musik und Mathematik arbeiten wollte:
"Ich finde das Prinzip Klasse. Es ist eine Riesenchance für mich und viele, viele andere als Lehrer zu arbeiten."
Auch Eltern können sich mit den Quereinsteigern anfreunden. Nikolai Longolius, Vater des 10-jährigen Linus:
"Ich persönlich finde, dass es mit den vielen Quereinsteigern an den Berliner Grundschulen erstaunlich gut funktioniert, obwohl ich grundsätzlich der Meinung bin, dass ausgebildete Grundschullehrer den Quereinsteigern vorzuziehen sind. Aber die Quereinsteiger sind alle Male besser als Unterrichtsausfälle."
Vom wissenschaftlichen Alltag frustriert
"Für mich war es perfekt, dass es dieses Quereinsteigerprogramm gab."
Jens Paraknowitsch, Diplomchemiker, einst wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin, dann gefrustet vom Unibetrieb und heute Lehrer für Chemie und Physik am Rosa-Luxemburg Gymnasium in Berlin:
"Ich habe das Gefühl wirklich meinen richtigen Beruf gefunden zu haben, ich habe daher auch das Gefühl, dass das Programm sehr viel Potential bietet. Aber natürlich muss der Mensch, der diese Entscheidung trifft, wirklich den Willen haben Lehrer zu werden, und das nicht machen, weil er gerade keine andere Möglichkeit sieht."
Davon gibt es offenbar jedoch eine ganze Menge. Rund die Hälfte aller Bewerber, die er gesehen habe, seien Leute, die woanders gescheitert sind, sagt ein Berliner Schulleiter, der seinen Namen nicht im Radio hören möchte.
Er berichtet von 55-jähigen Quereinsteigern, die beratungsresistent und ohne pädagogisch-didaktisches Gespür 45-minütige Vorträge halten und sich wundern, wenn die Klasse am Ende leer ist. Oder eingeschlafen.
Per Casting an die passende Schule
"Der wichtigste Punkt ist die Personalauswahl."
Sagt Ralf Treptow, seit 27 Jahren Schulleiter am Berliner Rosa-Luxemburg-Gymnasium, Vorsitzender der Berliner Gymnasialdirektoren und großer Fan der Quereinsteiger – wenn man denn die richtigen findet. Doch Berlins Antwort auf die Frage: Wie kommen die richtigen Kandidaten an die richtigen Schulen heißt: Casting.
Das Casting absolvieren fast alle Quereinsteiger, auch der ehemalige Zirkuspädagoge Hegewald:
"Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich vor 50 Schulleitern und Schulleiterinnen stand und mich präsentieren musste."
In diesen fünf Minuten müssen die Schulleiter entscheiden, ob sie den Kandidaten an ihrer Schule wollen.
Gerangel um die besten Kandidaten
"Es ist schwierig, weil viele Schulleiter da sind und gerne die guten Leute haben möchten. Man kriegt nicht immer den, den man auf Platz eins gesetzt hat."
Sagt Anke Mauersberger, Leiterin der Grundschule an der Strauchwiese in Berlin Pankow und selber Vorgesetzte von zwei Quereinsteigern. Ihr Kollege Ralf Treptow vom Rosa-Luxemburg-Gymnasium hält von diesen Castings:
"Gar nichts. Ich gehe da auch niemals hin. Ich mache das nur komplett hier an der Schule."
Denn an seiner angesehenen Schule bewerben sich Quereinsteiger auch direkt. Zwei Tage nehme er sich für einen Bewerber Zeit. So müssten das alle Schulen machen können, sagt Treptow, deshalb fordere sein Verband der Gymnasialdirektoren seit Jahren, dass Schulen Zugriff auf die Listen mit allen Bewerbern bekommen:
"Und dann muss der Schulleiter oder die Schulleiterin sagen können: Weil es keine Laufbahnbewerber gibt, möchte ich jetzt Quereinsteiger einstellen können – bitte alle Daten her!"
Abschlüsse, Alter, Kompetenzen aller Bewerber in Berlin. Das wolle die Berliner Verwaltung jetzt auch liefern.
"Und dann lade ich mir wegen meiner eben acht davon ein und nehme mir zwei Tage Zeit und dann weiß ich, wem ich das zutraue und wem ich das nicht zutraue."
Beamtenstatus als Anreiz
Langfristig müsse der Lehrerberuf wieder attraktiver werden in Berlin, sagt Treptow. Denn Studienplätze seien genug da, die Interessenten fehlten. Schulleiter Treptow fordert: mehr Gehalt und Rückkehr des Beamtenstatus. Bis wieder ausreichend Lehrende ausbildet werden, müssen Kinder wie Linus noch sehr auf ihr Glück vertrauen, um Quereinsteiger zu ergattern wie den ehemaligen Zirkuspädagogen Rick Hegewald:
"Herr Hegewald ist gerade so ein Fall, da haben wir Glück gehabt, aber ich kann mir auch vorstellen, dass es dann Leute gibt, die das dann nicht so können. Meinetwegen können sie gute Musik-Leute sein, aber sie sind dann eben keine guten Lehrer. Herr Hegewald ist ein guter Lehrer und kann´s einfach auch."