Begeisternd, amüsant und erschütternd
Kleist ist Pflichtlektüre - an der man nun das Vergnügen zurückgewinnen kann: mit Hörbüchern zum 200. Todesjahr. Otto Sander hat Aufsätze, Anekdoten und Briefe eingelesen. Rolf Boysen bietet in fast 19 Stunden dazu sämtliche Novellen und Kostproben von Kleists journalistischen Arbeiten.
Zwei alte Haudegen des Theaters machen sich um Kleist verdient: Otto Sander mit seiner beliebten Reibeisenstimme und Rolf Boysen, der in den vergangenen Jahren mittelalterliche Epen wie das Nibelungenlied vor begeistertem Publikum gelesen und sich nun Kleists Prosa mit mythengestählter Stimme live vorgenommen hat.
Die Anekdote "Charité-Vorfall" ist von bezwingend grotesker Komik. Sie erzählt von einem Mann namens Beyer, der von der Kutsche eines Arztes überfahren wurde und daraufhin in der Charité von mehreren Doktoren untersucht wird, was zu einer Kette "lächerlicher Missverständnisse" führt, weil dieser Beyer in seinem Leben bereits dreimal ein ähnliches Schicksal erlitt. Hören wir zunächst Sander:
"Der geheime Rat, der zuvörderst seine beiden Beine, welche krumm und schief und mit Blut bedeckt waren, bemerkte, fragte ihn: ob er an diesen Gliedern verletzt wäre? Worauf der Mann jedoch erwiderte: nein! Die Beine wären ihm schon vor fünf Jahr, durch einen anderen Doktor, abgefahren worden. Hierauf bemerkte ein Arzt, der dem Geheimen Rat zur Seite stand, dass sein linkes Auge geplatzt war; als man ihn jedoch fragte: ob ihn das Rad hier getroffen hätte, antwortete er: nein! Das Auge hätte ihm ein Doktor bereits vor vierzehn Jahren ausgefahren."
Das ist gut. Aber es könnte besser sein. Otto Sanders Lesung ist charaktervoll, preußisch-bärbeißig, jedoch ziemlich modulationsarm. Auf Dauer klingt sie mürbe und ein wenig ermüdend. Hören wir nun, wie Rolf Boysen die Anekdote vom ramponierten Herrn Beyer fortsetzt:
"Endlich, zum Erstaunen aller Anwesenden, fand sich, dass ihm die linke Rippenhälfte, in jämmerlicher Verstümmelung, ganz auf den Rücken gedreht war; als aber der Geheime Rat ihn fragte, ob ihn des Doktors Wagen hier beschädigt hätte, antwortete er: nein! Die Rippen wären ihm schon vor sieben Jahren durch einen Doktorwagen zusammengefahren worden. – Bis sich endlich zeigte, dass ihm durch die letztere Überfahrt der linke Ohrknorpel ins Gehörorgan hineingefahren war. – Übrigens bessert er sich, und falls er sich vor den Doktoren, wenn er auf der Straße geht, in acht nimmt, kann er noch lange leben."
Unglaublich, was der 90-Jährige für eine Bühnenkondition hat! Knurrig und expressiv performt Boysen nicht nur solche makabren Anekdoten, sondern auch die wuchtig-wütigen Novellen Kleists mit ihren katastrophischen Zuspitzungen, darunter "Michael Kohlhaas", die berühmteste Erzählung, die mehr über das Entstehen von Gewalt weiß als viele Handbücher der Sozialpädagogik. Immer wieder geht es dabei in den Momenten größter Verunsicherung um die grundlegende Wahrheit des Gefühls. Dass auch die gefährlich trügen kann, wird nirgends deutlicher als in den großen Fehlentscheidungs- und Missverständnisaugenblicken von Kleists Werken. Die fundamentale Täuschbarkeit des Menschen gehört zu Kleists zentralen Themen.
Ein Höhepunkt ist die "Marquise von O... ". Die Novelle, die im 19. Jahrhundert als anstößig empfunden wurde, erweist sich in Boysens Lesung als fulminante, abgründige Familienkomödie. Eine Dame der guten Gesellschaft lässt den Vater ihres ungeborenen Kindes per Zeitungsanzeige suchen. Tatsächlich weiß sie von nichts, denn in den wenige Monate zurückliegenden Kriegsereignissen ist sie während einer Ohnmacht vergewaltigt worden – ausgerechnet von ihrem Retter, dem honorigen Grafen F. Die nicht nur ungewollte, sondern unbewusste Schwangerschaft ist für die Familie ein Skandal, und die Ereignisse spitzen sich zu, als die tugendhafte Marquise eine Hebamme hinzuzieht, um ihren unbegreiflichen Zustand sachverständig prüfen zu lassen:
"Die Hebamme, während sie sich von demselben unterrichtete, sprach von jungem Blut und der Arglist der Welt; äußerte, als sie ihr Geschäft vollendet hatte, dergleichen Fälle wären ihr schon vorgekommen; die jungen Witwen, die in Ihre Lage kämen, meinten alle auf wüsten Inseln gelebt zu haben, beruhigte inzwischen die Frau Marquise, und versicherte sie, dass sich der muntere Korsar, der zur Nachtzeit gelandet, schon finden würde. Bei diesen Worten fiel die Marquise in Ohnmacht."
Geschmeidig bewegt sich Boysen durch die Stromschnellen und Stauungen des hochkomplexen Kleist-Stils. Sein Gefühl für Rhythmus, Satzgliederung und Pausen ist einzigartig, und man entdeckt durch seine Betonungen und Emphasen viele neue Details an Kleists Prosa.
Hier regieren nicht Lakonie und Coolness, sondern das große, pathetische Gefühl, das – mit einem Wort Kleists – durch die "Kruste der Konvenienz" bricht, oft allerdings mit komischen Nebenwirkungen. Dieses großartige Hörbuch, das Beste zum Kleist-Jubiläum, lässt einen begeistert, amüsiert, am Ende aber auch erschüttert zurück – wenn Boysen die Abschiedsbriefe liest, die Kleist kurz vor seinem Selbstmord in euphorischer Stimmung verfasste. Er schreibt an seine Schwester Ulrike:
"Wirklich, du hast an mir getan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl, möge der Himmel dir einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit, dem meinigen gleich ... Stimmings bei Potsdam, Dein Heinrich – am Morgen meines Todes."
Besprochen von Wolfgang Schneider
Heinrich von Kleist: Novellen
Gelesen von Rolf Boysen
Hörverlag 2011
14 CDs, 1120 Min., 49,99 Euro
Weg des Glücks
Gelesen von Otto Sander
Audiobuch 2011
2 CDs, 158 Min., 19,95 Euro
Die Anekdote "Charité-Vorfall" ist von bezwingend grotesker Komik. Sie erzählt von einem Mann namens Beyer, der von der Kutsche eines Arztes überfahren wurde und daraufhin in der Charité von mehreren Doktoren untersucht wird, was zu einer Kette "lächerlicher Missverständnisse" führt, weil dieser Beyer in seinem Leben bereits dreimal ein ähnliches Schicksal erlitt. Hören wir zunächst Sander:
"Der geheime Rat, der zuvörderst seine beiden Beine, welche krumm und schief und mit Blut bedeckt waren, bemerkte, fragte ihn: ob er an diesen Gliedern verletzt wäre? Worauf der Mann jedoch erwiderte: nein! Die Beine wären ihm schon vor fünf Jahr, durch einen anderen Doktor, abgefahren worden. Hierauf bemerkte ein Arzt, der dem Geheimen Rat zur Seite stand, dass sein linkes Auge geplatzt war; als man ihn jedoch fragte: ob ihn das Rad hier getroffen hätte, antwortete er: nein! Das Auge hätte ihm ein Doktor bereits vor vierzehn Jahren ausgefahren."
Das ist gut. Aber es könnte besser sein. Otto Sanders Lesung ist charaktervoll, preußisch-bärbeißig, jedoch ziemlich modulationsarm. Auf Dauer klingt sie mürbe und ein wenig ermüdend. Hören wir nun, wie Rolf Boysen die Anekdote vom ramponierten Herrn Beyer fortsetzt:
"Endlich, zum Erstaunen aller Anwesenden, fand sich, dass ihm die linke Rippenhälfte, in jämmerlicher Verstümmelung, ganz auf den Rücken gedreht war; als aber der Geheime Rat ihn fragte, ob ihn des Doktors Wagen hier beschädigt hätte, antwortete er: nein! Die Rippen wären ihm schon vor sieben Jahren durch einen Doktorwagen zusammengefahren worden. – Bis sich endlich zeigte, dass ihm durch die letztere Überfahrt der linke Ohrknorpel ins Gehörorgan hineingefahren war. – Übrigens bessert er sich, und falls er sich vor den Doktoren, wenn er auf der Straße geht, in acht nimmt, kann er noch lange leben."
Unglaublich, was der 90-Jährige für eine Bühnenkondition hat! Knurrig und expressiv performt Boysen nicht nur solche makabren Anekdoten, sondern auch die wuchtig-wütigen Novellen Kleists mit ihren katastrophischen Zuspitzungen, darunter "Michael Kohlhaas", die berühmteste Erzählung, die mehr über das Entstehen von Gewalt weiß als viele Handbücher der Sozialpädagogik. Immer wieder geht es dabei in den Momenten größter Verunsicherung um die grundlegende Wahrheit des Gefühls. Dass auch die gefährlich trügen kann, wird nirgends deutlicher als in den großen Fehlentscheidungs- und Missverständnisaugenblicken von Kleists Werken. Die fundamentale Täuschbarkeit des Menschen gehört zu Kleists zentralen Themen.
Ein Höhepunkt ist die "Marquise von O... ". Die Novelle, die im 19. Jahrhundert als anstößig empfunden wurde, erweist sich in Boysens Lesung als fulminante, abgründige Familienkomödie. Eine Dame der guten Gesellschaft lässt den Vater ihres ungeborenen Kindes per Zeitungsanzeige suchen. Tatsächlich weiß sie von nichts, denn in den wenige Monate zurückliegenden Kriegsereignissen ist sie während einer Ohnmacht vergewaltigt worden – ausgerechnet von ihrem Retter, dem honorigen Grafen F. Die nicht nur ungewollte, sondern unbewusste Schwangerschaft ist für die Familie ein Skandal, und die Ereignisse spitzen sich zu, als die tugendhafte Marquise eine Hebamme hinzuzieht, um ihren unbegreiflichen Zustand sachverständig prüfen zu lassen:
"Die Hebamme, während sie sich von demselben unterrichtete, sprach von jungem Blut und der Arglist der Welt; äußerte, als sie ihr Geschäft vollendet hatte, dergleichen Fälle wären ihr schon vorgekommen; die jungen Witwen, die in Ihre Lage kämen, meinten alle auf wüsten Inseln gelebt zu haben, beruhigte inzwischen die Frau Marquise, und versicherte sie, dass sich der muntere Korsar, der zur Nachtzeit gelandet, schon finden würde. Bei diesen Worten fiel die Marquise in Ohnmacht."
Geschmeidig bewegt sich Boysen durch die Stromschnellen und Stauungen des hochkomplexen Kleist-Stils. Sein Gefühl für Rhythmus, Satzgliederung und Pausen ist einzigartig, und man entdeckt durch seine Betonungen und Emphasen viele neue Details an Kleists Prosa.
Hier regieren nicht Lakonie und Coolness, sondern das große, pathetische Gefühl, das – mit einem Wort Kleists – durch die "Kruste der Konvenienz" bricht, oft allerdings mit komischen Nebenwirkungen. Dieses großartige Hörbuch, das Beste zum Kleist-Jubiläum, lässt einen begeistert, amüsiert, am Ende aber auch erschüttert zurück – wenn Boysen die Abschiedsbriefe liest, die Kleist kurz vor seinem Selbstmord in euphorischer Stimmung verfasste. Er schreibt an seine Schwester Ulrike:
"Wirklich, du hast an mir getan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl, möge der Himmel dir einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit, dem meinigen gleich ... Stimmings bei Potsdam, Dein Heinrich – am Morgen meines Todes."
Besprochen von Wolfgang Schneider
Heinrich von Kleist: Novellen
Gelesen von Rolf Boysen
Hörverlag 2011
14 CDs, 1120 Min., 49,99 Euro
Weg des Glücks
Gelesen von Otto Sander
Audiobuch 2011
2 CDs, 158 Min., 19,95 Euro