Beherzt gelärmt

Von Uwe Friedrich |
"Ein Stück Gegenwart" will die Neuköllner Oper aus der romantischen Nationaloper machen. Dafür hat man die Handlung teilweise in die Metropole verlegt, die Musik kräftig durchgeschüttelt und fast allen Personen neue Namen verpasst.
Ein "Freischütz" ohne Hörnerklang. Denn die Hörner hat der Komponist Jan Müller-Wieland in seiner Kammerversion für fünf Musiker gleich ganz weggelassen. Eine Klarinette gibt es immerhin noch, denn die ist bei Weber nun wirklich unverzichtbar. Außerdem Cello, Trompete, Schlagwerk und Klavier. Vom deutschen Wald ist auch nichts mehr übrig, schließlich wollten Müller-Wieland, seine Librettistin Luise Rist und der Dramaturg Bernhard Glocksin "Ein Stück Gegenwart" aus der romantischen Nationaloper machen. Dafür haben sie Elemente der Handlung nach Berlin-Neukölln verlegt, die Musik kräftig durchgeschüttelt, bearbeitet und ergänzt und fast allen Personen neue Namen verpasst.

Nur Max bleibt Max, ein junger Mann mit Ambitionen und Selbstzweifeln, von dem am Ende nicht ganz klar ist, ob seine Sache gut ausgeht. Dieser neue Max ist Streifenpolizist, träumt aber davon, zum Sondereinsatzkommando zu wechseln, weil er meint, dort besser für Recht und Ordnung sorgen zu können als im Neuköllner Streifendienst. Seit seiner Unterschichtenkindheit ist er mit Tom befreundet, also dem Kaspar des Originals. In der U-Bahn lernt er zufälligerweise Linn kennen, das wäre also Agathe. Deren Vater, hier namenlos, früher Kuno, ist eine große Nummer in der Organisierten Kriminalität und tritt gleichzeitig als Samiel auf. Ein Ännchen gibt es auch noch, heißt jetzt Leonie und spielt weiter keine Rolle.

Die Hochzeitstafel für Max und Linn ist gedeckt, alle haben sich in den feinsten Zwirn geworfen, aber irgendwas stimmt nicht mit dem Bräutigam. Der verliert sich in seinen Gedanken über Gott und die Welt und spielt Schlüsselszenen aus seinem problematischen Werdegang durch. Mutter früh gestorben, vom gefühllosen Vater gequält, Außenseiter mit Liebe zu Recht und Ordnung, Eintritt in die Polizei, U-Bahnflirt mit Linn, wie die Freundschaft zu Tom drunter leidet, dass er sich verändert. Dummerweise haben Jan Müller-Wieland, Librettistin Luise Rist und Dramaturg Bernhard Glocksin darauf verzichtet, die Personenkonstellation des Original-"Freischütz" überzeugend in die Gegenwart zu übertragen.

Während sich bei Weber die handelnden Figuren in einem engen sozialen Netz der Abhängigkeiten bewegen, bleibt an der Neuköllner Oper unklar, was den eigentlich ganz netten und vollkommen undämonischen Tom mit dem Waffenschieber Samiel, also Linns Vater, verbindet und warum er Max ins Verderben ziehen möchte. Schon lange bevor überhaupt von irgendeinem problematischen Schuss die Rede ist, singt Tom "schweig, damit dich niemand warnt", obwohl es gar nichts zu verschweigen gibt. Eines der vielen Probleme dieser Bearbeitung ist, dass vor lauter Respekt die Gesangstexte unangetastet blieben. Da nimmt Max seine Leonie in den Arm, singt ihr von Agathes Liebesblick vor, und sie fragt nicht einmal, wer denn diese Agathe ist, von der bislang nicht die Rede war.

Der Komponist Jan Müller-Wieland hat im Vorfeld betont, wie sehr er Webers Musik verehrt. Die Gesangslinien hat er weitgehend erhalten, eine Menge gekürzt und allerlei Geschmacksverstärker aus der Instantküche einer sattsam bekannten Musiktheatermoderne hinzugefügt. Da wird beherzt geclustert und gelärmt, ein bisschen 20. Jahrhundert hier, ein bisschen spätes 19. dort. Eine eigene Handschrift, eine Haltung zu Webers Musik entwickelt Müller-Wieland jedoch nicht. Mit dem ganzen Pling und Plong und Kratz und Quietsch wird allenfalls die Intonationssicherheit der Sänger auf eine harte Probe gestellt.

Der Tenor Ilja Martin Schwärsky gibt einen nicht recht sympathischen Max, dem die wirklich schweren Passagen seiner Originalmusik erlassen sind, Victor Petitjean ist ein sehr knuffiger Tom, dem man die schwarzen Abgründe der intriganten Seele keine Sekunde lang abnimmt und Nora Leschkowitz müht sich vor allem in den verinnerlichten Momenten nicht immer erfolgreich um die richtigen Töne. Hans-Peter Kirchberg leitet die kleine Combo engagiert, kann aus diesem Arrangement aber auch nur wenig Atmosphäre rauskitzeln.

Eine schöne Szene gibt es dann aber doch. Linn nimmt ihren Max zum ersten Mal mit in die Oper. In den "Freischütz" natürlich. Hier tritt Linns alter Freund Kilian auf als Bauer Kilian, verspottet Max mit Pappgewehr und erigierter Pistole hinterm Hosenlatz. Endlich spielt der Regisseur Gustav Rueb mal mit den verschiedenen Bedeutungsebenen zwischen "Freischütz" und "Freischuss", zwischen Schauerromantik und Berliner Gegenwart. Dieser Ansatz hätte das Potential für eine gewitzte Auseinandersetzung mit unserer Nationaloper, das bleibt jedoch ebenso ungenutzt wie die Möglichkeit einer aufregenden, gerne auch ruppigen Abbrucharbeit an Webers genialer Musik.

Informationen der Neuköllner Oper zur Inszenierung "Der Freischuss"
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