"Wieso soll mein Körper kein Ebenbild Gottes sein?"
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Wer behindert ist, kann nur auf Wunderheilung warten? Oder ist stummes Objekt frommer Fürsorge? Quatsch, sagt die jüdische Theologin Julia Watts Belser. Sie will von der Fülle her denken und glauben, nicht vom Mangel.
Kirsten Dietrich: Julia Watts Belser ist Rabbinerin und jüdische Theologin und lehrt an der Georgetown University in Washington. Einer ihrer Schwerpunkte liegt in Disability Studies, also sinngemäß, wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Behinderung. Und dass es dafür im Deutschen kein richtiges Wort gibt, das zeigt vielleicht schon, dass die Diskussion hierzulande noch viel aufzuholen hat. Schon der Begriff Behinderung selbst ist ja aufgeladen und Gegenstand von Debatten. Julia Watts Belser, welche Worte verwenden Sie denn, wenn's nötig ist? Sagen Sie, ich bin behindert, oder sagen Sie, ich nutze einen Rollstuhl?
Julia Watts Belser: Beides. Ich sage, ich bin behindert, ich bin Rollstuhlfahrerin. Manchmal fragen mich Leute, ob man es nicht anders sagen soll, als ob Behinderung eine peinliche Sache wäre oder etwas, das man besser verdeckt, aber ich finde das nicht. Ich bin behindert, das ist ein wichtiger Teil meiner Identität – genauso bin ich Rabbinerin, Professorin, jüdische Theologin.
Keine Inspiration, aber auch kein Leiden
Dietrich: Dann frag ich doch mal die Theologin: Ist Ihre Behinderung für Sie eher eine Hürde für Ihren Glauben oder eine Inspiration?
Watts Belser: Es ist bestimmt keine Hürde, aber ich würde es auch nicht Inspiration nennen. Menschen mit Behinderungen werden oft als Inspiration beschrieben, als ob die ganz gewöhnlichen Tatsachen unseres Lebens total erstaunlich wären. So als ob nichtbehinderte Menschen von unserem Leben inspiriert werden sollen. Das lehne ich ab.
Behinderung ist für mich kein Leiden, kein Übel, es ist ein alltäglicher Aspekt meines Lebens. Es ist manchmal kompliziert, es ist manchmal frustrierend, aber es ist auch freudig, einfallsreich und kreativ. Ich kann mir mich selbst ohne Behinderung kaum vorstellen. Alles, was ich weiß, weiß ich durch diesen Körper. Meine Spiritualität, mein Verständnis von Gott, mein ganzes Selbstverständnis ist mit Behinderung verbunden.
Perspektiven von Menschen mit Behinderung achten
Dietrich: Wenn über Behinderung geredet wird, dann geht es ja ganz oft vor allem um technische Dinge. Es geht ums Dolmetschen, um Hilfsmittel, es geht um Zugang. Wie wichtig sind diese technischen Fragen?
Watts Belser: Die Fragen sind unbedingt wichtig. Es gibt so viele Barrieren für behinderte Personen – in der Synagoge, in der Kirche, in der Moschee und in religiösen Gemeinden. Barrierefreiheit macht es möglich, dass wir da sind, dass wir Eintritt haben. Diese Möglichkeit zu haben, da zu sein, das ist unbedingt wichtig. Aber es ist nicht genug. Präsenz allein ist keine Macht. Behinderte Erfahrung, behinderte Perspektiven müssen auch geachtet werden.
Dietrich: Aber was heißt das konkret, behinderte Perspektiven achten?
Watts Belser: Ich will, dass religiöse Gemeinden struktureller Ungerechtigkeit begegnen. Wir müssen gegen Ableismus kämpfen.
Dietrich: Ableismus, den Begriff müssten wir vielleicht kurz noch erklären, er meint: alles nur von einer sogenannten Normalität der nicht Behinderten her zu denken.
Watts Belser: Ja, und auch gegen Stigma und Armut und Rassismus und so weiter, alle diese Strukturen der Ungerechtigkeit. Wir müssen die Möglichkeiten für behinderte Menschen erweitern, nicht nur in der Kirche und in der Synagoge, sondern auch in der weiteren Welt. Und um das zu schaffen, müssen wir Behinderung als eine politische Sache verstehen.
Keinen Teil des Lebens ausschließen
Dietrich: Da geht es also zum Beispiel um gesellschaftliche Teilhabe, aber der Anspruch reicht dann ja, wenn ich Sie richtig verstehe, noch viel weiter: nämlich dahin, wirklich auch zu erweitern, wie wir übers Menschsein nachdenken, über die Welt und dann in letzter Konsequenz auch über Gott. Entscheidet sich ein hilfreiches religiöses Verständnis von Behinderung zum Beispiel daran, ob die jeweilige behinderte Person eben auch mit ihrer Behinderung Ebenbild Gottes sein darf, wenn wir jetzt mal von der jüdischen - und in dem Fall auch christlichen - Tradition ausgehen?
Watts Belser: Es ist mir kristallklar, dass behinderte Menschen ein Ebenbild Gottes sind. Behinderung ist kein ungewöhnlicher Teil des Lebens. Mensch zu sein, ist, behindert zu sein oder behindert zu werden. Wenn wir Behinderung von unserer Idee von Gott ausschließen, dann schließen wir auch so viel Leben aus.
Ich selber bin von Geburt an behindert, so wurde ich geschaffen. Wieso soll mein Körper kein Ebenbild Gottes sein? Und als ich Rollstuhlfahrerin wurde – meiner Meinung nach ist das auch eine Erfahrung, die Gott selber kennt.
Dietrich: Gott benutzt einen Rollstuhl?
Watts Belser: Es gibt einen wunderschönen Moment am Anfang des Buches Ezechiel im ersten Kapitel, als der biblische Prophet seine Vision von Gott beschreibt: Ezechiel sah Engel, Feuer und Lichterglanz, und was noch? Er sah einen göttlichen Wagen mit großen, wunderbaren Rädern. Die Räder glänzten wie Topas. Und, so sagte Ezechiel 1.21: Der Geist und die Kraft der himmlischen Wesen war in den Rädern.
Ein Gott auf Rädern als Vision von Majestät
Ich werde es nie vergessen, als ich vor einigen Jahren diese Worte hörte, die Verwandtschaft, die ich fühlte als Rollstuhlfahrerin. Gott hat Räder! Und was mir hier so gefällt: Gott auf Rädern ist kein Bild von Leiden oder Unglück, sondern ein Bild von Majestät. Wenn ich mir Gott auf Rädern vorstelle, denke ich auch an die Freude, die mir mein eigener Rollstuhl gibt. Meine Räder befreien mich, sie erweitern meinen Geist.
Dietrich: Ich habe, als ich studiert habe, Orgel gespielt in einer Krankenhauskirche, und da merkte man immer, wenn im Gottesdienst eine Vertretung predigte. Die Person predigte nämlich dann unweigerlich über eine der vielen, vielen Wunderheilungen, die von Jesus im Neuen Testament der christlichen Bibel überliefert sind. Der reguläre Gemeindepfarrer machte das nie, denn er wusste, dass diese Wunderheilungen für seine in der Regel chronisch kranken Gottesdienstbesucher und -besucherinnen keine Hoffnungsgeschichten sind, sondern bestenfalls nervig und schlimmstenfalls ziemlich bedrückend. Denn sie betonen, dass ihr Leben so, wie es ist, auf Heilung wartet und eigentlich eine sogenannte Normalität das Ziel ist. Ist das eine ganz spezielle Form von toxischem Christentum, oder müssen auch Sie sich mit solchem Wunderglauben als Reaktion auf Behinderung auseinandersetzen?
Watts Belser: Die Wunderheilungen im Neuen Testament sind für viele behinderte Personen sehr schwierige und unangenehme Texte, genau wie Sie gesagt haben. Auch als nichtchristliche Person begegne ich den Wundergeschichten – Fremde kommen auf der Straße auf mich zu, die sehen meinen Rollstuhl und wollen für mich beten, was sehr unangenehm ist.
Wundergeschichten helfen nicht
Dietrich: Das kann ich mir vorstellen.
Watts Belser: In der jüdischen Tradition ist die Wunderheilungsgeschichte eigentlich nicht so häufig, aber Behinderung wird immer noch oft als negativer Zustand dargestellt. Zum Beispiel: Der Prophet Jesaja, in Jesaja 35, beschreibt die kommende Welt. Er sagt: "Dann werden die Augen der Blinden geöffnet und die Ohren der Tauben aufgetan. Dann werden die Lahmen wie Hirsche springen und die Zungen der Stummen jubeln."
In diesem Text benutzt der Prophet die Heilung von Blindheit und Gehörlosigkeit als Symbol für die Veränderung der Welt. Dieser Text gehört zur Tradition der Eschatologie, also Texten zur Endzeit, die eine kommende Welt vorstellen. In diesem Text benutzt Jesaja Taubheit und Blindheit als Symbole eines nicht befreiten Zustandes. Behinderung wird als negativer Zustand dargestellt. Blindheit, Gehörlosigkeit und Lahmheit sind etwas, von dem man befreit werden muss. Und damit bin ich nicht zufrieden.
Ich suche für uns alle eine andere Art von Freiheit. Ich möchte von Ungerechtigkeit befreit sein, von Normativität befreit sein, von Stigma, von Ableismus befreit sein.
Der Himmel ist barrierefrei
Dietrich: Wie sieht denn dann für Sie so ein Konzept von Befreiung und von Gerechtigkeit aus, das Raum eben auch für behinderte Menschen bietet?
Watts Belser: Im heutigen jüdischen Glauben ist das Konzept von einem himmlischen Leben nach dem Tode relativ selten. Für viele Juden ist Himmel nicht so wichtig. In der jüdischen Tradition ist es am wichtigsten, wie wir unser jetziges Leben verbringen, dass wir Gutes tun und für Gerechtigkeit arbeiten, jetzt, auf dieser Erde, in diesem Leben. Ich bin darum nicht so sicher, wie es mit dem Himmel steht.
Aber wenn es einen Himmel gibt, dann würde es mich sehr enttäuschen, wenn der Himmel nicht barrierefrei ist. Es würde mich sehr enttäuschen, wenn es keine Rollstuhlfahrer im Himmel gäbe, wenn Springen wie ein Hirsch eine Bedingung zum Eintritt wäre. Ich erinnere mich oft an eine Drascha, eine Predigt, die die amerikanische Rabbinerin Margaret Moers Wenig einmal gehalten hat. Sie erzählte die Geschichte eines Mädchens in ihrer Synagogenschule, die gehörlos war. Einmal sagte eine Lehrerin zu ihr: Mach dir keine Sorgen, in der kommenden Welt wirst du hören. Aber das Mädchen antwortete: In der kommenden Welt kennt Gott Gebärdensprache.
Und diese Umkehr, dieser Perspektivenwechsel ist für mich unheimlich wichtig. Dies zeigt ein Verständnis, dass das Problem nicht von unseren Sinnen oder unserem Körper ausgeht, sondern von einer Welt, die uns nicht angepasst ist. Ich will eine Welt, wo jeder Gebärdensprache kennt, wo jeder Platz für Rollstuhlfahrer hat, wo Behinderung verstanden ist als ein wichtiger Teil unseres Lebens.
Schabbatruhe als Wertschätzung
Dietrich: Das ist ja ein sehr grundlegender Perspektivwechsel. Welche religiösen Traditionen stärken Sie dabei?
Watts Belser: Eine der wichtigsten jüdischen Traditionen ist für mich Schabbat. Schabbat ist der siebte Tag der Woche, der am Freitagabend anfängt, kurz vor Sonnenuntergang, und 25 Stunden bis zum Samstagabend dauert. Schabbat ist ein Ruhetag, ein Tag, an dem auch Gott Pause macht und sich ausruht. In der jüdischen Praxis ist Schabbat eine Zeit mit vielen Einschränkungen – ich verwende kein Geld, ich benutze kein Handy, ich schaue nicht fern, ich schreibe keine E-Mails, ich mache keine Arbeit. Von außen sieht das alles vielleicht sehr streng aus, voll mit Sachen, die man nicht tun darf, aber von innen fühlt es sich ganz anders an. Schabbat ist eine Erholung für Körper und Seele.
Dietrich: Aber diese Bedeutung hat Schabbat ja für alle, die ihn halten. Was im Schabbat verschafft speziell diese neue Perspektive fürs Leben mit Behinderung?
Watts Belser: In der heutigen Kultur, die so mit Kapitalismus verbunden ist, beurteilen wir oft den Wert von Menschen danach, wie viel oder wie schnell sie produzieren können. Eines der wichtigsten Prinzipien der Behindertenkultur und Behindertengerechtigkeit ist, diese Idee umzustürzen, zu betonen, dass Menschen wichtig sind, auch wenn sie nicht produzieren. Dass das Leben Wert hat, auch wenn man keine Preise gewinnt, auch wenn man keinen Job hat, auch wenn man krank ist. Lebenswert ist unabhängig von unseren Leistungen.
Dieser Grundsatz wird ganz kraftvoll ausgedrückt im Schabbat. Schabbat ist eine andere Art von Zeit, eine Zeit, wo Wert total anders verstanden wird. Schabbat ist eine Zeit, wo ich weiß, mein Wert liegt nicht in meinem Tun oder meinem Machen, mein Wert liegt in mir selbst, gerade so, wie ich bin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.