Bei Dao: "Das Stadttor geht auf"

Leben unter Zwang

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Cover des Buchs "Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking" von Bei Dao.
Im Zickzack geht es zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden hin und her: in "Das Stadttor geht auf" von Bei Dao. © Deutschlandradio / Hanser
Von Marko Martin |
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Äußerliches verweist auf Inneres: In Bei Daos Jugenderinnerungen zeigen Räume und Landschaften die früh erfahrene Angst des chinesischen Dichters. Sein Buch "Das Stadttor geht auf" weist weit über die Jahre von Maos blutiger "Kulturrevolution" hinaus.
Als im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Panzer rollten, um die demonstrierenden Studenten zu bekämpfen, befand sich der 1949 in Peking geborene Lyriker Bei Dao gerade als DAAD-Stipendiat in Berlin, in einer Wohnung in der Günzelstraße.
Dort erfuhr er im Fernsehen von der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung, die zuvor in ihren Rufen nach Freiheit und Selbstbestimmung auch einige seiner eigenen Gedichtzeilen skandiert hatte.

Geistig und geografisch dazwischen

Bei Dao, ansonsten eher ein introvertierter Dichter, doch nun entsetzlich aufgewühlt, gab dem ZDF ein Interview - und durfte danach bis zum Jahr 2001 nicht nach China zurückkehren. In dieser Zeit lag sein Vater im Sterben, und eine merkwürdige, bis heute andauernde geistig-geografische Zwischensituation begann für den Dichter: Lehrtätigkeit im bis 2020 noch freien Hongkong und genehmigte Reisen nach Festlandchina, wo man Bei Dao allerdings bei den berüchtigten "Teestunden" (sprich Verhören) der Geheimpolizei klar gemacht hatte, welche Themen nicht erwünscht waren.
Davon schreibt der Dichter in seinen 2010 im chinesischen Original und nun auch auf Deutsch veröffentlichten Pekinger Jugenderinnerungen "Das Stadttor geht auf" nichts, doch geht zumindest das Nachwort seines renommierten Übersetzers Wolfgang Kubin kursorisch auf die existenzielle Malaise ein.
Freilich sollte man unbedingt von diesem Hintergrund wissen, um den inzwischen längst als Poet verstummten und zum Essayisten gewordenen Bei Dao nicht der unstrukturierten Fahrigkeit beim Verfassen des Buches zu zeihen.

Verbotene Bücher

In der Tat nämlich geht es im Zickzack zwischen Kindheit und Jugend und frühem Erwachsenwerden hin und her, Gestalten tauchen auf und ab, Pekinger Interieurs weiten sich zu Gassen und Höfen, werden zu Schulzimmern und Seminarräumen.
Gleichzeitig haken sich die sinnlichen Details beim Lesen fest und verursachen Schauer. So entdeckt der Heranwachsende auf dem Dachboden des elterlichen Hauses in einer Kiste zahlreiche verbotene, soll heißen, vor Maos Machtergreifung 1949 erschienene Bücher.
Die Hand-Verletzungen, die er sich beim Kramen im Dunklen zuzieht, sind jedoch nur Vorboten für ungleich schlimmere Verheerungen: Zusammen mit seinem Vater, der aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft ohnehin misstrauisch beäugt wird, muss der Sohn eines Tages all diese Bücher hinunter in den Hof tragen, wo sie den Roten Garden zum Verbrennen übergeben werden. Andernfalls, so war in den amtlichen Bekanntmachungen zu lesen, hätte die standrechtliche Erschießung gedroht.

Von Unrast und Angst

Doch es kommt noch wahnwitziger: Um seine Loyalität zum Großen Führer Mao zu bezeugen, schließt sich zu Beginn der sechziger Jahre auch der junge Bei Dao dem jugendlichen Mob an und dringt gewaltsam in die Wohnung eines älteren Mannes ein, um diesen als vermeintlichen "Konterrevolutionär" zu demütigen und hinunter in den Hof zu schleifen. Wenig später erfährt er von Selbstmorden aus dem engsten familiären Umkreis.
Dieses aufwühlende Buch ist alles andere als ein gediegenes "Porträt des Künstlers als junger Mann". Im oft geradezu fliegenden Wechsel zwischen fünfziger, sechziger und siebziger Jahren scheint es die früh erfahrene Unrast - vielleicht wäre besser von Angst zu sprechen - noch längst nicht abgeschüttelt zu haben, sie mitunter geradezu zu reproduzieren.

Physischer und geistiger Hunger

Denn wenn auch am Schluss dieser literarisierten Erinnerungen die Eltern ihren inzwischen zum Exilanten gewordenen Sohn in San Francisco besuchen - sie sind dort still auf eine hochnervöse Weise, und ein Happy-End wird es auch für die zwei inzwischen bejahrten China-Rückkehrer nicht geben.
Die Frage, was solches Erleben mit einem Menschen macht, der nun selbst längst kein Jugendlicher mehr ist, stellt Bei Dao freilich nicht. Wir können über seine Gründe nur spekulieren, fest steht allerdings: "Das Stadttor geht auf" beschreibt innere und äußere Landschaften der Demütigung und des physischen wie auch geistigen Hungers. Eine immens wichtige Lektüre - gerade zur jetzigen Zeit, in welcher der nunmehr Große Vorsitzende Xi das Stadttor wieder rabiat verschließen lässt.

Bei Dao: "Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking"
Aus den Chinesischen und mit einem Essay vom Wolfgang Kubin
Hanser Verlag, München 2021
336 Seiten, 25 Euro

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