Bei der Stasi am Telefon mitlauschen

Daniel Wetzel im Gespräch mit Frank Meyer |
Mit dem begehbaren Hörspiel "50 Aktenkilometer" kann man ab heute durch Berlin wandern und dabei per Kopfhörer Geschichten aus der Vergangenheit hören. Das ganze Projekt lässt sich in acht bis zehn Stunden erwandern. Oder man kann von einem so genannten Kontrollzentrum aus mithören.
Frank Meyer: Mit dem begehbaren Hörspiel "50 Aktenkilometer" kann man ab heute durch Berlin wandern und dabei per Kopfhörer Geschichten aus der Vergangenheit hören – Überwachungsgeschichten wie diese hier:

O-Ton Hörspiel: "Telefonzentrale des zentralen Apparativstabs des Ministeriums für Staatssicherheit. 14. September '89. Meldung Grenzübertretung eines Westberliners. (Stimme am Telefon:) Sicherungsabschnitt Reichstagsufer, Spree, GR36 Grenzkommando Mitte: Zur oben genannten Zeit nahm eine Besatzung des Grenzbootes des GR36 eine Person auf, die um 8.19 Uhr von Westberliner Seite aus in der Spree geschwommen war. Bei der Bergung erklärte die Person, dass sie mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Westberlin nicht mehr klar komme und in die DDR will. So, er wurde zum VP-Krankenhaus überführt und dann zum Vernehmerstützpunkt der Abteilung 9 des Reviers der deutschen Volkspolizei."

Meyer: Ja, Ironie der Geschichte: Ein Westberliner schwimmt im September 1989 durch die Spree in die DDR, die bald danach untergehen sollte. Diese Geschichte gehört zu einem begehbaren Hörspiel, das von dem Theaterkollektiv Rimini-Protokoll und Deutschlandradio Kultur gemeinsam produziert wurde. Daniel Wetzel, einer der drei Theatermacher aus diesem Kollektiv Rimini-Protokoll ist jetzt bei uns im Studio. Seien Sie herzlich willkommen!

Daniel Wetzel: Schönen guten Tag!

Meyer: Herr Wetzel, lassen Sie uns erst mal anschauen, wie dieses begehbare Hörspiel – das ist ja eine ungewöhnliche Form – wie das überhaupt funktioniert. Soweit ich es verstanden habe: Man wandert durch die Stadt, hat ein Smartphone dabei, Kopfhörer dazu, und wenn man bestimmte Orte in der Stadt erreicht, hört man solche Ausschnitte aus der Geschichte, wie wir sie eben gerade gehört haben. Ist das so richtig verstanden, das Grundprinzip?

Wetzel: Genau. Es ist sozusagen vielleicht eine Mischung zwischen Radiohörspiel und Theater. Wir arbeiten häufig auch damit, dass die Stadt eigentlich eine Bühne ist. In dem Fall ist es eben so, dass man nichts anderes zu sehen bekommt als sonst, und man bekommt eben was zu hören. Man kann das nicht sehen, es sind keine Lautsprecher oder so, sondern das Telefon weiß im Prinzip, wo man was zu hören bekommen soll.

Meyer: Man steht zum Beispiel dort, wo früher die Grenze war, und hört eine solche Geschichte von einem Grenzübertritt.

Wetzel: So ist es, genau. Wir haben nicht ganz Berlin abgegrast, wir haben uns auf einen Teil von Mitte beschränkt, und da eher eng gepflastert, so dass man im Prinzip wie spazieren gehen kann, und alle zehn, sechs, sieben Minuten ereignet sich was Neues – ich nenne es so was wie eine Wolke, eigentlich. Es ist nicht so richtig da …

Meyer: … eine Geschichtenwolke.

Wetzel: … eine Geschichtenwolke – es ist ein bisschen dynamisch. Das Ganze wird über GPS, also über Satelliteninformationen, gesteuert. Von denen bekommt das Telefon die Informationen, wann was abzuspielen ist, und die haben so eine schwankende Bewegung, so ein bisschen. Und so ist man den Tönen so auch ein bisschen am Hinterherlaufen, also man guckt, wo bin ich jetzt hier, da kommt was – dann bleibt man da, hört sich das an, dann geht man weiter. Die Geschichten beziehen sich nicht richtig zwingend aufeinander, sondern stehen nebeneinander, und so ist es sozusagen wie ein Gang durch auch die Vielfalt – abgelegte Geschichte einer Stadt.

Meyer: Und das Hauptthema ist die Stasigeschichte der DDR, sie arbeiten da mit Archiv-O-Tönen, wir haben vorhin einen gehört – Sie arbeiten aber auch mit Interviews, die Sie geführt haben zur Vorbereitung dieses Projektes. Wie bereitwillig haben denn zum Beispiel frühere IMs mit ihnen geredet?

Wetzel: Es war zumindest sehr viel einfacher, mit Leuten zu sprechen, die in der Opferakte bei der mittlerweile Jahn-Behörde beantragt haben, also wissen wollten, was da über sie vorliegt. Leute, die mit der Stasi zusammengearbeitet haben, für die Stasi gearbeitet haben, ihr verpflichtet waren in irgendeiner Form, oder wirklich hauptamtlich, haben auch schlechte Erfahrungen gemacht in der Art und Weise, wie ihre Sicht der Dinge in den Medien rüberkommt letztlich. Da gibt es null Vertrauen in irgendeinen, der irgendetwas schneidet, und es ist uns schon gelungen, an der einen oder anderen Stelle dann bei Leuten das Vertrauen wiederzugewinnen, aber das ist ungleich schwieriger.

Meyer: Wir haben mal ein Beispiel von einer Frau, die frühere inoffizielle Mitarbeiterin war, und hier ein Stück aus ihrer Geschichte erzählt:

O-Ton Hörspiel: "1961. Salomea Genin wird vom MfS angeworben. - 'Ich war IM, Informeller Mitarbeiter. Und das bedeutete, es war eingebaut vollkommen in den Rest meines Lebens. Alle Leute, die ich kennenlernte, mit denen ich sprach, waren für mich potenziell Personen, über denen ich meinem Führungsoffizier bei der nächsten Zusammenkunft erzählen konnte. Es war so ein Teil meines gesamten Lebens, dass es eigentlich nicht zu trennen ist. Sie müssen ja bedenken, ich bin doch freiwillig in die DDR als heute - würde ich sagen - fanatische Kommunistin gekommen. Ich habe doch geglaubt an die ganzen schönen Propaganda-Worte.'"

Meyer: Die Geschichte einer Inoffiziellen Mitarbeiterin der DDR-Staatssicherheit aus dem Mitmachhörspiel "50 Aktenkilometer", eine Zusammenarbeit des Theaterkollektivs Rimini-Protokoll und von Deutschlandradio Kultur. Daniel Wetzel von Rimini-Protokoll ist hier bei uns im Studio. Sie haben schon angesprochen, Dass Sie auch Opfergeschichten gefunden und eingebaut haben. Können Sie uns von einer erzählen, die Sie vielleicht besonders beeindruckend fanden?

Wetzel: Im Moment denke ich eher an die Leute, die eben, wie Frau Genin, innerhalb dieses gesamten Projekts so Positionen einnehmen, die einem erst mal – zumindest uns – sehr viel mehr irritiert haben, Leute die versuchen zu erklären, wie sie gedacht haben und teilweise auch – was auch überhaupt nicht mehr politisch passt, sie noch bei sich behalten. Also, wo das Denken, dass man sozusagen landläufig nennen würde, und ihr Denken einfach überhaupt nicht zusammengehen – bezogen darauf, warum sie wie wofür gekämpft und gearbeitet haben.

Meyer: Haben Sie gezielt solche Geschichten gesucht, die unser Bild, das wir uns inzwischen gemacht haben, von DDR, von Staatssicherheit, auch irritieren?

Wetzel: Wir sind immer interessiert an der speziellen Perspektive einzelner Leute und an ihren Lebensgeschichten, da bricht sich das, was selbst in Ausstellungen häufig dann Klischee ist, und da entstehen auch Widersprüche. Da bekommt man Widersprüche erzählt, denen man so nachfühlen und –denken kann.

Meyer: Können Sie das konkreter sagen? Was für Widerspruche meinen Sie?

Wetzel: Na, zum Beispiel habe ich gesprochen mit einem ehemaligen Chefredakteur der "Jungen Welt", der sich selber als wirklichen Hardliner beschreibt in den letzten Jahren der DDR, und praktisch bis an die Kante – bis die Meute unten vorm Verlagshaus war – nicht daran gedacht hat, dass irgendwas falsch laufen könnte, und der seither weiter arbeitet als Autor und Journalist, aber natürlich in einer völlig anderen Position, und sich sehr stark damit beschäftigt: Wie konnte dieses Ja-sagen und dieses von der guten Sache so hart überzeugt zu sein, dass man so viel übersieht, wie könnte sich das so in mir einpflanzen? Und warum bin ich eigentlich nicht politisiert worden, als mir kurz nach der Schulzeit das Journalistikstudium verboten wurde, weil jemand mich angeschwärzt hat, sogar noch unberechtigter Weise? Wieso bin ich eigentlich nicht Rebell geworden? Und wieso bin ich sozusagen so zielgerade sogar dann auch noch auf die Spitze des Systems geklettert, von dem ich doch selber gespürt habe, wie willkürlich es sich anfühlen kann?

Meyer: Das sind die Geschichten, die Sie ausgraben. Und die bringen Sie nun in diese ganz besondere Form, dieses begehbaren Hörspiels, bei dem man eine Begegnung hat mit der heutigen Stadt, sich selber mit dem eigenen Körper, mit dem eigenen Kopf da herumbewegt – denken Sie, dass das eine besondere Form ist, eine vielleicht besonders eindringliche Form der eigenen Geschichte, der Geschichte des eigenen Landes zu begegnen?

Wetzel: Ja. Wir sind, wie gesagt, eben auch Theatermacher, und jetzt – das ist ja auch eine Produktion und eine Zusammenarbeit von Deutschlandradio und dem Hebbel am Ufer, dem HAU – und da kreuzt sich eben genau etwas. Unser Konzept von der Stadt als Bühne und die Frage, was ist eigentlich Hörspiel? Was für Möglichkeiten hat es, wenn die meisten Hörerlebnisse mittlerweile eben irgendwie über so was wie ein Telefon oder irgendwelche kleinen Geräte, die man irgendwo stecken hat, laufen? Und was bedeutet eigentlich, dass diese Telefone mittlerweile auch wissen, wo wir sind? Steckt da nicht ein Potenzial? Ist da nicht sozusagen etwas, was normalerweise beim Theater der Fall ist – die Position im Raum, auf der Bühne? Etwas, was sich sozusagen jetzt so einschleicht in unsere ganz alltäglichen Strecken und Routen, Hinweise, wo man hin kann, jeder hat die Karte auf dem Display, und hören tut man eben dabei auch.

Meyer: Das ist ja die nächste Ebene des ganzen Unternehmens, dass die modernen Überwachungstechnologien da wieder mit hineinkommen, die eben da sind. Wir haben alle mitbekommen in letzter Zeit den – Applegate hieß die Geschichte, dass beim iPhone die eigenen Standorte über Jahre hinweg festgestellt und festgehalten wurden. Wie erlebt man, wenn man jetzt bei Ihrem Projekt mit einem Smartphone unterwegs ist, wie erlebt man da diese Form der Kontrolle?

Wetzel: Beruhigenderweise erlebt man bei diesen Consumer-Geräten erst mal, dass es sehr wackelig ist – man schaut auf dieses Display und sieht auch, wie die Satelliten einen manchmal auch in der falschen Ecke des Parks platzieren, und man ist sozusagen auf eine Art mit der Technik auf Augenhöhe, hat nicht das Gefühl, dass sie einen dominieren könnte, aber natürlich – es ist eben die Frage: Was akzeptiert man eigentlich? Was möchte man davon haben? Was bringt es einem? Und wie viel bringt es einen wohin? Das ist ja ein ständiger Abgleich zwischen Technik und Benutzer – und das Stück ist eben insoweit erweitert, als man eben nicht nur seine Strecken gehen kann.

Übrigens, wenn man das Stück wirklich hören will, braucht man wahrscheinlich so was wie acht, neun, zehn Stunden, also es ist eigentlich an einem Tag nur zu schaffen, wenn es echt gutes Wetter ist. Aber man kann auch von dem sogenannten Kontrollzentrum, was wir eingerichtet haben, mit beobachten, wie wohin die Leute, die gerade im Feld sind sozusagen, sich bewegen, und kann mithören, was die hören. Und dann gibt es eben so eine spielerische Ebene, wo Leute, wenn sie laufen, potenziell von Leuten, die ihnen – also nicht ihnen, sondern den Punkten, die sie repräsentieren auf der Karte, Nachrichten schicken können. Sie können ihnen sozusagen Hinweise geben, wenn sie was verpasst haben, oder – das ist die Frage, inwieweit das gefüllt wird. Aber erst mal ist es sozusagen ein offenes System, was zwei Richtungen hat.