Bei Kindergewalt-Debatte "religiöse Beschneidung ausgeblendet"
Der Passauer Strafrechtsprofessor Holm Putzke bestreitet, dass es bei der positiven Bewertung der religiösen Beschneidung von Knaben einen gesellschaftlichen Konsens gebe. Vielmehr glaubt er, viele Menschen hätten über diese Frage so noch gar nicht nachgedacht.
Stephan Karkowsky: Ein Gericht spricht Recht und ein Jurist erlebt am eigenen Leib, was passiert, wenn das weltliche Recht religiöse Bräuche beschneidet – womit wir gleich beim Thema sind! Holm Putzke ist Strafrechtprofessor an der Universität Passau und er gilt als einer der geistigen Väter des Kölner Urteils, nach dem die Vorhautbeschneidung kleiner Jungs aus religiösen Gründen künftig strafbar ist.
Holm Putzke: Herr Karkowsky, ich grüße Sie!
Karkowsky: Über Sie ist das hereingebrochen, was man neudeutsch einen Shitstorm nennt, eine Welle der Empörung. Wie weit gehen denn die Drohungen und Beschimpfungen, die man an Sie richtet?
Putzke: Also, die Drohungen gehen schon sehr weit, ich habe das schon 2008 erlebt im Ansatz, als mein erster Beitrag zu dem Thema erschienen war, in einer Festschrift und dann im "Deutschen Ärzteblatt" zusammen mit zwei Münchener Ärzten. Die Drohungen reichen – ich sage es ganz unverblümt – von Zwangsbeschneidung hin zu Ertränken und Ähnlichem, das ist überwiegend anonym. Und die Vergleiche mit dem Dritten Reich, dass die selbstverständlich auch permanent gebracht werden, daran habe ich mich inzwischen gewöhnt.
Es bringt auch nichts, in dieser Richtung zu argumentieren, weil diejenigen, die solche Vergleiche ziehen und die solche Drohungen aussprechen, in der Regel auch nicht empfänglich sind für eine Argumentation, die rational geführt wird. Und damit erreicht man diese Menschen nicht.
Karkowsky: Wer Ihre wissenschaftlichen Artikel kennt, weiß, die Empörung trifft Sie nicht ganz unvorbereitet: In Ihrer Schrift "Die strafrechtliche Relevanz der Beschneidung von Knaben" erläutern Sie 2008 zunächst seitenlang, wie heikel es ist, überhaupt als Jurist Stellung zu nehmen zu diesem Thema. Sie wussten also einigermaßen, was auf Sie zukommt. Warum haben Sie es trotzdem gemacht?
Putzke: Also, es wäre naiv gewesen, zu glauben, ein solches Thema anzupacken und keinerlei emotionale Reaktion zu erhalten. Und auch, es wäre naiv gewesen, zu glauben, dass da nicht auch jenseits von rationalen Argumenten Angriffe gestartet werden. Das habe ich gewusst, das habe ich vorhergesehen und deswegen braucht man mit mir jetzt auch kein Mitleid haben. Die Betroffenen werden das ohnehin nicht haben, weil sie es als Angriff auf ihre Religion verstehen.
Ich habe mich gleichwohl mit diesem Thema beschäftigt, weil ich mich damals gewundert habe, dass diese Thematik überhaupt keine Rolle spielt im juristischen Schrifttum oder im Schrifttum überhaupt, dass in der Gesellschaft keine Debatte stattfindet über diesen körperlichen Eingriff, wo wir doch in der Gesellschaft immer wieder reden über Gewalt gegen Kinder, die Gewalt gegen Kinder kriminalisiert und eingeschränkt wird. Völlig zu Recht, im bürgerlichen Gesetzbuch gibt es eine Vorschrift, 1631 BGB, ein Paragraf, der sagt, Gewalt gegen Kinder - auch in der Erziehung - ist nicht zulässig. Wir beschäftigen uns damit, aber immer wurde die religiöse Beschneidung ausgeblendet.
Das hat mich gewundert und ich habe mich deswegen aus wissenschaftlichem Interesse mit dieser Thematik befasst. Ich war allerdings, wenn ich das noch anfügen darf, nicht der Erste. Das heißt, die Mediziner, die waren noch viel früher dran zu überlegen, ob das Ganze denn medizinisch überhaupt sinnvoll ist.
Karkowsky: Was glauben Sie denn, warum das ausgeblendet wurde aus der Diskussion?
Putzke: Da gibt es natürlich jetzt viele spekulative Überlegungen, die man anstellen kann. Möglicherweise ist es eine Art von falsch verstandenem Schutzdenken oder vielleicht auch eine Furcht vor den Konsequenzen, wenn man so etwas anspricht. Es ist ja nun mal so: Wir haben bei der religiösen Beschneidung zwei große Weltreligionen, die davon betroffen sind.
Und selbstverständlich ist es gerade in Deutschland – ich kann nun mal um diesen Punkt auch nicht herumkommen – durchaus ein heikler Akt, wenn sich eine Kritik gerade gegen eine Religion wie das Judentum richtet, die wahrlich in diesem Land genug gelitten haben. Und das bestreitet niemand. Dass das eine ganz heikle Angelegenheit ist, das mag möglicherweise dazu geführt haben, dass Kritik zurückgehalten wurde und nur ganz vorsichtig geäußert wurde.
Karkowsky: Glauben Sie nicht, dass es in Deutschland einen gesamtgesellschaftlichen Konsens gibt darüber, dass diese Frage vielleicht strafrechtlich relevant sein mag, gesellschaftlich aber dennoch akzeptiert wird?
Putzke: Ich bestreite das, dass es einen solchen Konsens gibt. Ich glaube, viele Menschen haben über diese Frage so noch gar nicht nachgedacht. Und wenn man einmal die Argumente auf den Tisch legt und wenn man einmal die Argumente würdigen lässt und vorlegt, dann hört man doch überwiegend: Ja, das ist durchaus überzeugend, dass hier ein Eingriff stattfindet, der nicht im Kindeswohl liegt.
Und warum wird denn nicht gewartet, bis die Kinder selber entscheiden können, ob sie ein solches religiöses, ja, Mal, also eine Art Stigmatisierung ja auch – man kann sich dieses Merkmals nicht mehr entziehen, es ist irreversibel –, warum man das denn nicht verschiebt und wartet, bis diejenigen selber entscheiden können?
Karkowsky: Zum Urteil des Kölner Landgerichts, die Beschneidung kleiner Jungs als Körperverletzung zu werten, hören Sie Holm Putzke, Strafrechtprofessor an der Universität Passau. Herr Putzke, lassen Sie uns Ihre Argumente mal, soweit wir das in der Kürze der Zeit können, durchdeklinieren! Sie fragen als Erstes: Ist eine Zirkumzision, also eine Vorhautbeschneidung bei Knaben, medizinisch indiziert, behebt sie also ein Leiden? Das beantworten Ärzte und Juristen gleichermaßen mit Nein, wenn religiöse Gründe vorliegen. Ist denn jeder medizinisch nicht indizierte Eingriff automatisch verboten?
Putzke: Nein, also, bei Erwachsenen würde gar niemand zweifeln daran, dass man eine religiöse Beschneidung vornehmen kann. Oder bei Erwachsenen kommt ja auch niemand auf die Idee, dass man Schönheitsoperationen untersagt. Wenn das Erwachsene sind, dann können die eigenverantwortlich einwilligen, sie sind einwilligungsfähig, und selbstverständlich wirkt diese Einwilligung rechtfertigend, es gibt kein Körperverletzungsunrecht, wenn ein Arzt dies tut.
Karkowsky: Gut, dann lasse Sie uns mal über andere Dinge reden, die man an Kindern vollzieht, zum Beispiel das Ohranlegen bei Kindern mit sogenannten Segelohren, oder vergleichbare Schönheitsoperationen. Warum sollte das legitim sein, aber die Beschneidung nicht?
Putzke: Nun, weil wir bei Segelohren schon wieder darüber nachdenken, ob nicht auch hier eine medizinische Indikation vorliegt.
Karkowsky: Welche?
Putzke: Wir haben ja nicht nur eine medizinische Indikation mit Blick auf körperliche Spätfolgen, sondern es kann durchaus auch sein, dass in psychischer Hinsicht da durchaus die Notwendigkeit besteht, die Ohren anzulegen. Ich weiß, das ist heikel, dass man da mit psychischen Gründen argumentiert. Ich glaube sehr wohl heute, dass es nicht mehr schlimm ist, wenn man abstehende Ohren hat, in unserer heutigen Gesellschaft ist das nicht mehr so stigmatisierend, wie möglicherweise das noch vor einigen Jahren oder Jahrzehnten der Fall war.
Karkowsky: Ich habe heute auf unserer Facebook-Seite gelesen von einem Muslim, der sagt: Wenn ich nicht beschnitten werden darf, werde ich keine Frau finden, die mich heiratet! Ist das nicht auch ein wichtiger Grund, aus dem man diese Beschneidung zulassen sollte?
Putzke: Ja, also, da halte ich etwas ganz Normales entgegen: Muslime werden ja, wie auch alle anderen Menschen, nicht schon im Alter von 14 Jahren geheiratet, also, so ist jedenfalls mein Kenntnisstand und ich denke, dass ich da gar nicht so falsch liege. Also, und mit 14 Jahren kann ja jeder sich – wenn man das mal als Alter nimmt, wo man jetzt sagt, da besteht eine Einwilligungsfähigkeit, darüber kann man im Einzelnen noch streiten –, wenn man sagt, mit 14 ist die Einwilligungsfähigkeit vorhanden, ja, dann können doch diejenigen selber entscheiden, ob sie dies wollen, und dann sind sie doch beschnitten, wenn sie auf dem Heiratsmarkt sind, und dann ist doch alles in Ordnung!
Karkowsky: Die Beschneidung von Knaben gilt – ich habe das auch staunend gelesen – als der am häufigsten vollzogene chirurgische Eingriff weltweit. Kann das denn wirklich sein, dass Milliarden von Menschen als Kinder Opfer einer Straftat geworden sind?
Putzke: So ganz einfach ist das selbstverständlich nicht. Dass es eine Straftat ist, das ist auf dem Boden unserer Gesetze der Fall. Wie das in anderen Ländern aussieht, das wage ich nicht zu beurteilen. Es ist aber so, dass beispielsweise in den USA die medizinisch nicht notwendige Beschneidung auch aus nicht religiösen Gründen in der Tat sehr stark verbreitet war. Mitte der 80er-Jahre waren die Beschneidungsraten von Säuglingen also routinemäßig noch bei über 80 Prozent.
Inzwischen hat eine ganz gewaltige Diskussion in den USA eingesetzt und auch in vielen anderen Ländern. Und die routinemäßige Säuglingsbeschneidung liegt inzwischen, na, es gibt Zahlen, unter 50 Prozent, manche sagen, bei 30 Prozent. Also, ein rapides Absinken der Beschneidungsrate, weil man gemerkt hat, diese Eingriff ist ethisch nicht zu rechtfertigen.
Karkowsky: Was ist mit den Ärzten in Deutschland, müssen die sich ab sofort darauf einstellen, verfolgt zu werden, weil sie medizinisch nicht notwendige Vorhautbeschneidungen vornehmen?
Putzke: Dieses Risiko besteht natürlich jetzt. Wenn ein Arzt eine medizinisch nicht notwendige Beschneidung an einem Kind vornimmt und das kommt zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft, ist dies möglich. Das ist nicht unbedingt zwingend, dass das passiert, es muss sich nicht jede Staatsanwaltschaft jetzt verpflichtet fühlen, das zu tun, alleine aufgrund des Urteils des Landgerichts Köln, aber das ist möglich.
Ich halte allerdings eine zweite Gefahr für die Ärzte für viel größer: Wenn eine Komplikation auftritt oder Ähnliches, dann wird wahrscheinlich keine Versicherung, keine Haftpflichtversicherung dafür einstehen, weil, die Versicherungen werden sagen, es handelt sich um einen rechtswidrigen Eingriff, der da vorgenommen wurde, und die werden einfach nicht zahlen. Ich denke, das wird die Ärzte viel mehr abschrecken als vielleicht eine möglicherweise drohende Strafverfolgung.
Karkowsky: Sie wissen, das Kölner Urteil setzt die jüdischen und muslimischen Gemeinden enorm unter Druck. Da werden täglich Kinder geboren, die nach religiösem Brauch beschnitten werden müssen. Besteht jetzt nicht die Gefahr, dass diese Beschneidung als illegale Aktion künftig nicht mehr von Fachpersonal vorgenommen wird, sondern von Pfuschern?
Putzke: Also, zunächst einmal, was die Verpflichtung betrifft, da muss man unterscheiden zwischen dem Islam und dem Judentum: Im Islam gibt es gar keinen festgelegten Zeitpunkt. Es wäre durchaus möglich, dass man sagt, mit der Vollendung des 14. Lebensjahres kann man da noch eine Beschneidung durchführen, ohne gleich in Konflikt mit der Religion zu geraten. Im Judentum ist das in der Tat problematischer, da ist der achte Tag nach der Geburt der entscheidende Tag. Ich wage nicht, irgendeine Alternative vorzuschlagen, ich begebe mich nicht auf das Gebiet der Religion und rede da auch nicht rein, aber das ist in der Tat problematisch.
Was das Vertreiben in die Hinterhöfe angeht, so muss ich sagen: Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass es sich um einen rechtswidrigen Eingriff handelt, dann muss man solche Folgen möglicherweise tolerieren. Wir tolerieren und akzeptieren ja auch, dass das Verbot von Drogen, leichten Drogen, dazu führt, dass die Leute sich verschmutzte Spritzen geben und setzen, und wir akzeptieren auch, dass die Abtreibung nach der zwölften Schwangerschaftswoche möglicherweise dazu führt, dass Frauen auch nach der zwölften Schwangerschaftswoche sich in irgendwelche unqualifizierte Hände begeben.
Immer, wenn wir ein Verbot haben, droht, dass dieses Verbot irgendwo dann in die Illegalität führt. Aber das ist nun mal zwangsläufig bei jedem Verbot so.
Karkowsky: Zum Urteil des Kölner Landgerichtes, die Beschneidung kleiner Jungs aus religiösen Gründen als Körperverletzung zu werten, hörten Sie Holm Putzke, Strafrechtprofessor an der Universität Passau. Herr Putzke, besten Dank!
Putzke: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Holm Putzke: Herr Karkowsky, ich grüße Sie!
Karkowsky: Über Sie ist das hereingebrochen, was man neudeutsch einen Shitstorm nennt, eine Welle der Empörung. Wie weit gehen denn die Drohungen und Beschimpfungen, die man an Sie richtet?
Putzke: Also, die Drohungen gehen schon sehr weit, ich habe das schon 2008 erlebt im Ansatz, als mein erster Beitrag zu dem Thema erschienen war, in einer Festschrift und dann im "Deutschen Ärzteblatt" zusammen mit zwei Münchener Ärzten. Die Drohungen reichen – ich sage es ganz unverblümt – von Zwangsbeschneidung hin zu Ertränken und Ähnlichem, das ist überwiegend anonym. Und die Vergleiche mit dem Dritten Reich, dass die selbstverständlich auch permanent gebracht werden, daran habe ich mich inzwischen gewöhnt.
Es bringt auch nichts, in dieser Richtung zu argumentieren, weil diejenigen, die solche Vergleiche ziehen und die solche Drohungen aussprechen, in der Regel auch nicht empfänglich sind für eine Argumentation, die rational geführt wird. Und damit erreicht man diese Menschen nicht.
Karkowsky: Wer Ihre wissenschaftlichen Artikel kennt, weiß, die Empörung trifft Sie nicht ganz unvorbereitet: In Ihrer Schrift "Die strafrechtliche Relevanz der Beschneidung von Knaben" erläutern Sie 2008 zunächst seitenlang, wie heikel es ist, überhaupt als Jurist Stellung zu nehmen zu diesem Thema. Sie wussten also einigermaßen, was auf Sie zukommt. Warum haben Sie es trotzdem gemacht?
Putzke: Also, es wäre naiv gewesen, zu glauben, ein solches Thema anzupacken und keinerlei emotionale Reaktion zu erhalten. Und auch, es wäre naiv gewesen, zu glauben, dass da nicht auch jenseits von rationalen Argumenten Angriffe gestartet werden. Das habe ich gewusst, das habe ich vorhergesehen und deswegen braucht man mit mir jetzt auch kein Mitleid haben. Die Betroffenen werden das ohnehin nicht haben, weil sie es als Angriff auf ihre Religion verstehen.
Ich habe mich gleichwohl mit diesem Thema beschäftigt, weil ich mich damals gewundert habe, dass diese Thematik überhaupt keine Rolle spielt im juristischen Schrifttum oder im Schrifttum überhaupt, dass in der Gesellschaft keine Debatte stattfindet über diesen körperlichen Eingriff, wo wir doch in der Gesellschaft immer wieder reden über Gewalt gegen Kinder, die Gewalt gegen Kinder kriminalisiert und eingeschränkt wird. Völlig zu Recht, im bürgerlichen Gesetzbuch gibt es eine Vorschrift, 1631 BGB, ein Paragraf, der sagt, Gewalt gegen Kinder - auch in der Erziehung - ist nicht zulässig. Wir beschäftigen uns damit, aber immer wurde die religiöse Beschneidung ausgeblendet.
Das hat mich gewundert und ich habe mich deswegen aus wissenschaftlichem Interesse mit dieser Thematik befasst. Ich war allerdings, wenn ich das noch anfügen darf, nicht der Erste. Das heißt, die Mediziner, die waren noch viel früher dran zu überlegen, ob das Ganze denn medizinisch überhaupt sinnvoll ist.
Karkowsky: Was glauben Sie denn, warum das ausgeblendet wurde aus der Diskussion?
Putzke: Da gibt es natürlich jetzt viele spekulative Überlegungen, die man anstellen kann. Möglicherweise ist es eine Art von falsch verstandenem Schutzdenken oder vielleicht auch eine Furcht vor den Konsequenzen, wenn man so etwas anspricht. Es ist ja nun mal so: Wir haben bei der religiösen Beschneidung zwei große Weltreligionen, die davon betroffen sind.
Und selbstverständlich ist es gerade in Deutschland – ich kann nun mal um diesen Punkt auch nicht herumkommen – durchaus ein heikler Akt, wenn sich eine Kritik gerade gegen eine Religion wie das Judentum richtet, die wahrlich in diesem Land genug gelitten haben. Und das bestreitet niemand. Dass das eine ganz heikle Angelegenheit ist, das mag möglicherweise dazu geführt haben, dass Kritik zurückgehalten wurde und nur ganz vorsichtig geäußert wurde.
Karkowsky: Glauben Sie nicht, dass es in Deutschland einen gesamtgesellschaftlichen Konsens gibt darüber, dass diese Frage vielleicht strafrechtlich relevant sein mag, gesellschaftlich aber dennoch akzeptiert wird?
Putzke: Ich bestreite das, dass es einen solchen Konsens gibt. Ich glaube, viele Menschen haben über diese Frage so noch gar nicht nachgedacht. Und wenn man einmal die Argumente auf den Tisch legt und wenn man einmal die Argumente würdigen lässt und vorlegt, dann hört man doch überwiegend: Ja, das ist durchaus überzeugend, dass hier ein Eingriff stattfindet, der nicht im Kindeswohl liegt.
Und warum wird denn nicht gewartet, bis die Kinder selber entscheiden können, ob sie ein solches religiöses, ja, Mal, also eine Art Stigmatisierung ja auch – man kann sich dieses Merkmals nicht mehr entziehen, es ist irreversibel –, warum man das denn nicht verschiebt und wartet, bis diejenigen selber entscheiden können?
Karkowsky: Zum Urteil des Kölner Landgerichts, die Beschneidung kleiner Jungs als Körperverletzung zu werten, hören Sie Holm Putzke, Strafrechtprofessor an der Universität Passau. Herr Putzke, lassen Sie uns Ihre Argumente mal, soweit wir das in der Kürze der Zeit können, durchdeklinieren! Sie fragen als Erstes: Ist eine Zirkumzision, also eine Vorhautbeschneidung bei Knaben, medizinisch indiziert, behebt sie also ein Leiden? Das beantworten Ärzte und Juristen gleichermaßen mit Nein, wenn religiöse Gründe vorliegen. Ist denn jeder medizinisch nicht indizierte Eingriff automatisch verboten?
Putzke: Nein, also, bei Erwachsenen würde gar niemand zweifeln daran, dass man eine religiöse Beschneidung vornehmen kann. Oder bei Erwachsenen kommt ja auch niemand auf die Idee, dass man Schönheitsoperationen untersagt. Wenn das Erwachsene sind, dann können die eigenverantwortlich einwilligen, sie sind einwilligungsfähig, und selbstverständlich wirkt diese Einwilligung rechtfertigend, es gibt kein Körperverletzungsunrecht, wenn ein Arzt dies tut.
Karkowsky: Gut, dann lasse Sie uns mal über andere Dinge reden, die man an Kindern vollzieht, zum Beispiel das Ohranlegen bei Kindern mit sogenannten Segelohren, oder vergleichbare Schönheitsoperationen. Warum sollte das legitim sein, aber die Beschneidung nicht?
Putzke: Nun, weil wir bei Segelohren schon wieder darüber nachdenken, ob nicht auch hier eine medizinische Indikation vorliegt.
Karkowsky: Welche?
Putzke: Wir haben ja nicht nur eine medizinische Indikation mit Blick auf körperliche Spätfolgen, sondern es kann durchaus auch sein, dass in psychischer Hinsicht da durchaus die Notwendigkeit besteht, die Ohren anzulegen. Ich weiß, das ist heikel, dass man da mit psychischen Gründen argumentiert. Ich glaube sehr wohl heute, dass es nicht mehr schlimm ist, wenn man abstehende Ohren hat, in unserer heutigen Gesellschaft ist das nicht mehr so stigmatisierend, wie möglicherweise das noch vor einigen Jahren oder Jahrzehnten der Fall war.
Karkowsky: Ich habe heute auf unserer Facebook-Seite gelesen von einem Muslim, der sagt: Wenn ich nicht beschnitten werden darf, werde ich keine Frau finden, die mich heiratet! Ist das nicht auch ein wichtiger Grund, aus dem man diese Beschneidung zulassen sollte?
Putzke: Ja, also, da halte ich etwas ganz Normales entgegen: Muslime werden ja, wie auch alle anderen Menschen, nicht schon im Alter von 14 Jahren geheiratet, also, so ist jedenfalls mein Kenntnisstand und ich denke, dass ich da gar nicht so falsch liege. Also, und mit 14 Jahren kann ja jeder sich – wenn man das mal als Alter nimmt, wo man jetzt sagt, da besteht eine Einwilligungsfähigkeit, darüber kann man im Einzelnen noch streiten –, wenn man sagt, mit 14 ist die Einwilligungsfähigkeit vorhanden, ja, dann können doch diejenigen selber entscheiden, ob sie dies wollen, und dann sind sie doch beschnitten, wenn sie auf dem Heiratsmarkt sind, und dann ist doch alles in Ordnung!
Karkowsky: Die Beschneidung von Knaben gilt – ich habe das auch staunend gelesen – als der am häufigsten vollzogene chirurgische Eingriff weltweit. Kann das denn wirklich sein, dass Milliarden von Menschen als Kinder Opfer einer Straftat geworden sind?
Putzke: So ganz einfach ist das selbstverständlich nicht. Dass es eine Straftat ist, das ist auf dem Boden unserer Gesetze der Fall. Wie das in anderen Ländern aussieht, das wage ich nicht zu beurteilen. Es ist aber so, dass beispielsweise in den USA die medizinisch nicht notwendige Beschneidung auch aus nicht religiösen Gründen in der Tat sehr stark verbreitet war. Mitte der 80er-Jahre waren die Beschneidungsraten von Säuglingen also routinemäßig noch bei über 80 Prozent.
Inzwischen hat eine ganz gewaltige Diskussion in den USA eingesetzt und auch in vielen anderen Ländern. Und die routinemäßige Säuglingsbeschneidung liegt inzwischen, na, es gibt Zahlen, unter 50 Prozent, manche sagen, bei 30 Prozent. Also, ein rapides Absinken der Beschneidungsrate, weil man gemerkt hat, diese Eingriff ist ethisch nicht zu rechtfertigen.
Karkowsky: Was ist mit den Ärzten in Deutschland, müssen die sich ab sofort darauf einstellen, verfolgt zu werden, weil sie medizinisch nicht notwendige Vorhautbeschneidungen vornehmen?
Putzke: Dieses Risiko besteht natürlich jetzt. Wenn ein Arzt eine medizinisch nicht notwendige Beschneidung an einem Kind vornimmt und das kommt zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft, ist dies möglich. Das ist nicht unbedingt zwingend, dass das passiert, es muss sich nicht jede Staatsanwaltschaft jetzt verpflichtet fühlen, das zu tun, alleine aufgrund des Urteils des Landgerichts Köln, aber das ist möglich.
Ich halte allerdings eine zweite Gefahr für die Ärzte für viel größer: Wenn eine Komplikation auftritt oder Ähnliches, dann wird wahrscheinlich keine Versicherung, keine Haftpflichtversicherung dafür einstehen, weil, die Versicherungen werden sagen, es handelt sich um einen rechtswidrigen Eingriff, der da vorgenommen wurde, und die werden einfach nicht zahlen. Ich denke, das wird die Ärzte viel mehr abschrecken als vielleicht eine möglicherweise drohende Strafverfolgung.
Karkowsky: Sie wissen, das Kölner Urteil setzt die jüdischen und muslimischen Gemeinden enorm unter Druck. Da werden täglich Kinder geboren, die nach religiösem Brauch beschnitten werden müssen. Besteht jetzt nicht die Gefahr, dass diese Beschneidung als illegale Aktion künftig nicht mehr von Fachpersonal vorgenommen wird, sondern von Pfuschern?
Putzke: Also, zunächst einmal, was die Verpflichtung betrifft, da muss man unterscheiden zwischen dem Islam und dem Judentum: Im Islam gibt es gar keinen festgelegten Zeitpunkt. Es wäre durchaus möglich, dass man sagt, mit der Vollendung des 14. Lebensjahres kann man da noch eine Beschneidung durchführen, ohne gleich in Konflikt mit der Religion zu geraten. Im Judentum ist das in der Tat problematischer, da ist der achte Tag nach der Geburt der entscheidende Tag. Ich wage nicht, irgendeine Alternative vorzuschlagen, ich begebe mich nicht auf das Gebiet der Religion und rede da auch nicht rein, aber das ist in der Tat problematisch.
Was das Vertreiben in die Hinterhöfe angeht, so muss ich sagen: Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass es sich um einen rechtswidrigen Eingriff handelt, dann muss man solche Folgen möglicherweise tolerieren. Wir tolerieren und akzeptieren ja auch, dass das Verbot von Drogen, leichten Drogen, dazu führt, dass die Leute sich verschmutzte Spritzen geben und setzen, und wir akzeptieren auch, dass die Abtreibung nach der zwölften Schwangerschaftswoche möglicherweise dazu führt, dass Frauen auch nach der zwölften Schwangerschaftswoche sich in irgendwelche unqualifizierte Hände begeben.
Immer, wenn wir ein Verbot haben, droht, dass dieses Verbot irgendwo dann in die Illegalität führt. Aber das ist nun mal zwangsläufig bei jedem Verbot so.
Karkowsky: Zum Urteil des Kölner Landgerichtes, die Beschneidung kleiner Jungs aus religiösen Gründen als Körperverletzung zu werten, hörten Sie Holm Putzke, Strafrechtprofessor an der Universität Passau. Herr Putzke, besten Dank!
Putzke: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.