Beichte, Weihrauch, Orgelbrausen
Sie trugen Sonntagskleidung, mussten regelmäßig zur Beichte, sangen im Kirchenchor: Viele Menschen wurden in Deutschland von der katholischen Erziehung geprägt. Wer als Erwachsener an diese Zeit denkt, erinnert sich oft mit gemischten Gefühlen.
Margarete Weber: "Ich bin in einem kleinen Ort in der Eifel groß geworden, der rein katholisch war. Ich habe nie irgendwas infrage gestellt. Nichts. Weil alle gleich waren. Es gab kein Anderssein dort. Man gehörte einfach in so einer Gemeinschaft dazu. Jetzt, wo ich schon 20 Jahre in Berlin lebe und in vielen anderen Orten gelebt habe, empfinde ich das als eine der schönsten Erinnerungen.
Johannes Wöllfert: "Ich bin ja in der DDR aufgewachsen, und habe in einer nichtchristlichen, atheistischen Umwelt eben in dieser Gemeinschaft die christlichen Werte behauptet."
Sylvia Poppitz: "Ich bin in einem Vorort von München aufgewachsen, eine kleinere Provinzgemeinde. Die Erziehung war eben katholisch, obwohl bei uns war schon eben der Sonderfall, dass mein Vater Protestant war, und das war eine Mischehe, nannte man damals so. Ja, das merkten wir schon als Kinder, dass das eigentlich nicht so gehört."
Michael Siedle: "Aufgewachsen bin ich in Baden-Württemberg. In dieser Gemeinde mit 15.000 Einwohnern gab's 6000, 7000 katholische Christen. Da kam also nicht ein Diaspora-Gefühl auf. Man wusste halt nur, es gab zwei Religionen, evangelisch, katholisch. Ich hatte ja auch Freunde dann, die evangelisch waren."
Katholische Kindheit in der Nachkriegszeit. In der Diaspora war sie anders als in einem katholischen Dorf oder dort, wo die christlichen Konfessionen nahezu gleich stark vertreten waren. Aber es gibt Gemeinsamkeiten. Und an manche erinnern sich viele gern:
Johannes Wöllfert: "Die lateinischen Festgottesdienste, die in Peter und Paul in Potsdam sehr feierlich begangen wurden. Da war ein schöner Chor, Weihnachten, an den Feiertagen. Wir sind fast jeden Sonntag zur Kirche gegangen. Überhaupt die lateinische Messe, die hat mir sehr viel gegeben."
Margarete Weber: "Wir hatten ja damals noch Sonntagskleidung. Wir hatten extra Kleidung für die Kirche. Die haben wir dann angezogen und sind dahin gegangen. Dann saßen wir da alle. Auf der einen Seite die Jungs, auf der anderen Seite die Mädchen. Die Kirche war jeden Sonntag rappelvoll. Die Leute standen bis in den Kirchengang rein. Das war jeden Sonntag wirklich ein Ereignis."
Michael Siedle: "Wenn ich mit meiner Oma zur Kirche gegangen bin, das fand ich sehr schön dann. Ja, sie war ein sehr gläubiger Mensch. Sie hat auch mit uns manchmal gebetet. Das empfand ich eben auch als schön. Das hatte einfach auch mit der Person zu tun."
Sylvia Poppitz: "Besonders schön fand ich, wenn wir schöne Lieder gesungen haben, hab ich auch mit viel Freude mitgesungen und fand es besonders schön, wenn die Orgel auch gespielt hat, obwohl die immer schrecklich langsam war. Das Kirchenschiff hat eigentlich immer ein bisschen zu schnell gesungen. Und diese Festlichkeit, diese Stimmung, die hat mir gut gefallen. An Ostern fand ich es ganz besonders schön nun nach dem traurigen Karfreitag. Das Auferstehungsfest, das war besonders festlich. Da durften wir immer etwas mitnehmen im Körbchen, was dann geweiht wurde. Ich hab auch immer bewundert, wenn der Pfarrer mit dem Wasserbehälter am Schluss durch die Reihen ging mit den Ministranten und hat uns mit Weihwasser bespritzt. Das war nicht ein Pinsel, das war ein kleiner Stab mit einer Kugel, die gelöchert war, und dann wurde das eben so weggespritzt, das hat mir sehr gut gefallen. Und ich war auch ein bisschen neidisch, dass die Jungs Ministranten sein durften und die Mädchen nicht, weil man da so wichtig war und diese schönen Glöckchen dann immer in der Hand gehabt hat."
Margarete Weber: "Es waren natürlich solche Feste wie Fronleichnam, wo wir vier, fünf Tage vorher schon angefangen haben, Blumen zu sammeln. Damals wurden durch das ganze Dorf durch Blumenteppiche gebaut. Alle Gemeinden trafen sich bei uns im Ort, und jede Gemeinde hatte einen eigenen Altar. Und wir sind nachts aufgestanden und haben diese Altäre geschmückt. Das war einfach schön. Da haben wir uns auch jedes Jahr drauf gefreut."
Sylvia Poppitz: "Da ging ja der Pfarrer immer unter einem Baldachin und die Ministranten außen rum. Und immer mit dem Weihrauch. Das fanden wir als Kinder sehr schick. Wir fühlten uns auch wichtig, dass wir dabei waren."
Johannes Wöllfert: "Mich hat schon als Kind Gregorianik interessiert. Ich hab das irgendwo mal gehört, und das hat mich sehr berührt. Das war ein Gottesdienst aus einer Kathedrale in Ungarn. Das hat mich richtig erschauern lassen."
Kirchgang und Gesang, Gebete, Messfeier und Prozession. Gott, dem zu Ehren all das geschah, war für die Kinder auch an Werktagen allgegenwärtig:
Michael Siedle: "Ich hatte keine feste Vorstellung. Es war ein Gefühl. Die Gottesvorstellung war bei mir noch vor der Kirche. Also ich hatte da einen Bezug, sicherlich vielleicht auch durch das Elternhaus. Es war ein Gefühl: Gott ist bei mir."
Margarete Weber: "Es muss irgendwas ganz allumfassendes gewesen sein, weil ich habe mich immer beobachtet gefühlt. Ich glaube, ich habe mir einen alten Mann vorgestellt, der aber andauernd gucken konnte, überall. Wir wurden ja in unserer Kindheit ja auch noch überhäuft mit solchen Heiligenbildchen, wo das auch immer dargestellt war. Man sah ja immer aus den Wolken heraus diesen alten Mann, der immer überall gucken konnte. Von dem fühlte man sich natürlich auch permanent beobachtet. Der war ja immer da."
Johannes Wöllfert: "Gott war für mich ein Vater, der meinen Vater, der in Italien gefallen war, zu sich genommen hat. Das war für mich ein Stück Heimat."
Sylvia Poppitz: "Als Kind habe ich mir Gott als lieben, gütigen Vater vorgestellt, aber gleichzeitig auch als Kontrollorgan, denn es wurde uns täglich mehrmals mitgeteilt, Gott sieht alles und Gott hört alles. Und dadurch hatte ich bei allem ein schlechtes Gewissen, wenn ich Dinge tat, die Kinder nun mal tun."
Monsignore Peter Mies, Gemeindepfarrer in Hamburg ist selbst als katholisches Kind in der Nachkriegszeit aufgewachsen.
Peter Mies: "Typisch für diese Zeit ist, dass auch deutlich darauf hingewiesen wurde, was verboten ist, und was nicht gut ist, was man nicht tun soll. Typisch für manche Menschen ist allerdings eher, dass sie das besonders gehört haben und besonders darauf anspringen. Das gibt es auch heute noch. Das hängt aber auch mit der persönlichen Verfasstheit zusammen, und die dann sehr mit sich selber in Clinch kommen über all diese Fragen. Andere haben da etwas breitere Schultern gehabt, denen haben ja auch die Lehrer und die Eltern dauernd gesagt, was sie nicht dürfen, das hat die auch nicht so gekratzt, und sind deswegen unbeschadet durch diese Situation hindurch gekommen."
Für Menschen, die sich wie Sylvia Poppitz, noch heute durch ihre katholische Kindheit belastet fühlen, dürfte das kein Trost sein.
Sylvia Poppitz: "Das war die größte Schweinerei überhaupt an der ganzen Erziehung: Alles, was Spaß macht im Leben, wurde einem madig gemacht oder verboten. Die Pfarrer, die haben sich die Wampe voll geschlagen, die haben auch Wein getrunken und Wasser gepredigt. Und wir sollten immer nur Milch und Kekse zu uns nehmen. Und da habe ich immer gedacht, irgendwo kann das nicht stimmen, wenn da oben so ein kluger, allwissender Gott ist, dann kann es nicht angehen, dass er uns so gemacht hat und lässt uns das gar nicht ein bisschen durchleben."
Pfarrer Mies ist in Norddeutschland aufgewachsen. Ist die katholische Kirche in der Diaspora bekömmlicher?
Peter Mies: "Viele sagen das. Ich selber kenne sie im Wesentlichen in der Diaspora, und ich liebe diese Situation. Das Gute daran ist wahrscheinlich, dass man sich selbst mehr klar darüber werden muss, was man selber meint, und das man im Gespräch steht, selbstverständlich, mit anderen, die etliche Dinge anders sehen. Dadurch werden Urteile klarer und werden nicht unbedacht allmächtig und immer größer. Also hier muss man schon offenen Geistes sein. Aber nicht nur für die beiden Konfessionen, sondern für alle möglichen anderen Lebensarten auch. Wir leben als Christen ja in einer Welt, wo durchaus nicht alle Christen sind und ihre eigenen Lebensentwürfe haben."
Für Sylvia Poppitz in der Nähe von München und Margarete Weber in ihrem katholischen 370-Seelen-Eifeldorf waren die Vorgaben in ihrer Kinderwelt klar und allmächtig.
Sylvia Poppitz: "Manchmal habe ich schon auch diese Masse der Katholiken als bedrohend empfunden, weil ich oft dachte als Kind, oh Gott, ich denke so anders, und das ist nicht in Ordnung. Und die denken ja alle anders und hatten viel Macht. Und die Macht hat mir auch Angst gemacht."
Margarete Weber: "Ich hatte immer das Gefühl, ich muss mich auch total anpassen. Ich kann nicht so sein wie ich will. So mit zwölf, 13 fing das an, dass ich gemerkt habe, dass wenn ich mich auch nur einen Schritt weit außerhalb stelle, dass ich dann sofort sanktioniert werde. Dass man so vieles nicht durfte, dass man immer in der Angst lebte, bestraft zu werden."
Katholische Mädchen wurden meist noch strenger erzogen als katholische Jungen. Und alle Kirchenmacht war männlich, am Altar und im Beichtstuhl.
Sylvia Poppitz: "Ich bin am Anfang schon zur Beichte gegangen und hab immer mir abgelesen, was hab ich denn alles gemacht, ich war frech zu meinen Eltern, ich habe gelogen, was man so sagt. Und ich hab dann auch zum Beispiel mit meinem Bruder sexuelle Spielchen gemacht, und dann hab ich gemerkt, wie der Kaplan ganz gezielt nachfragte. Ja, was für Spielchen habt ihr denn gemacht? Wie weit wart ihr denn ausgezogen? Was habt ihr genau gemacht? Da fing es an, dass es mir äußerst unangenehm wurde. Dann hab ich angefangen, mich zu drücken. Und dann hab ich angefangen zu lügen. Und dann hab ich mir ausgedacht, ja gut, ich muss jetzt lügen, denn solche intimen Geständnisse kann ich vor dem Kaplan nicht mehr machen. Und dann hab ich immer gesagt, gut ich überleg mir jetzt so einen Trick, ich sage vorher, ich habe gelogen, und dann kann ich das andere weglassen."
Die Beichte. Seit Martin Luther Inbegriff katholischer Glaubenslehre, verband für kleine Kinder, die sie vor der Erstkommunion mit acht oder neun Jahren zum ersten Mal absolvieren mussten, Gewissenserforschung und Absolution, Pein und Erleichterung.
Michael Siedle: "Klar, man wusste so im Hinterkopf, Dinge sind verboten, aber auf der anderen Seite: Es gab ja auch die Beichte, wo man dann eben wieder beichten konnte. Ich hab also Glauben eigentlich auch nicht so einschränkend empfunden. Wir hatten beim Pfarrer Erstkommunionunterricht, der hat uns dann mal eine Geschichte erzählt, da ist dann jemand bei uns im Ort verunglückt mit einem Motorrad, und wenn der jetzt nicht gebeichtet hat, dann sieht's schlecht aus. Aber das hat mich dann eher dazu gebracht, mal nachzudenken, ob das dann so stimmt mit dem Gottesbild. Und ich neig eher dazu, Gebote nicht als Verbote aufzufassen, aber das ist erst heute, sondern als eine Möglichkeit, vernünftig zusammenzuleben. Man kann die natürlich auch nicht alle einhalten. Es fängt ja schon mit dem Lügen an: Wann lügt man? Wann lügt man nicht?"
Michael Siedle als älterer Junge und Johannes Wöllfert als junger Mann lernten Priester kennen, die ihre Fragen und Gewissenskonflikte so beantworteten, dass sie sich ermutigt fühlten. Pfarrer Peter Mies lädt heutzutage alle Eltern ein, deren Kinder am Erstkommunionunterricht teilnehmen. Ganz am Anfang fragt er Väter und Mütter, wie sie selbst diese Zeit erlebt haben, was sie weitergeben möchten und was auf keinen Fall.
Peter Mies: "Die Eltern möchten eine offene Atmosphäre haben und keinen Zwang. Genau diesen Gedanken nehmen wir auf. Zum Beispiel in der Beichte, den Versöhnungsfeiern, war es früher mehr so, dass man das, was als Sünden in Frage kam, in einem sogenannten Beichtspiegel schon vorformuliert hatte und die Kinder dann abhakten, hab ich das gemacht, hab ich das nicht gemacht, habe ich gelogen, geklaut oder sonst irgendwas getan. Heute gehen wir davon aus, dass wir den Kindern da gar keine Vorgaben machen müssen. Wir können ein neutrales Foto zum Beispiel hintun, wo ein paar Kinder zusammen spielen oder zu Hause am Mittagstisch sitzen, und mit ihnen darüber reden, was könnte da passieren, was könnte passiert sein, was davon wäre gut, was wäre nicht gut. Die Kinder selber wissen, es kommt sozusagen aus ihnen heraus, was gut ist und was nicht gut ist. Das gewährleistet auch, dass sie dann in der Versöhnungsfeier und auch in ihrem Bekenntnis nicht irgendwelche auswendig gelernten Dinge wiedergeben, wo sie gar nicht wissen, was das soll und entsprechend unangenehm es für sie ist, sondern dass sie von dem erzählen, was sie selber betrifft und was sie selber auch verstehen."
Was aber ist aus den katholischen Kindern von einst geworden? Aus jenen, die mit Sündenangst und Beichtspiegel, mit Keuschheitsgeboten und Verhütungsverboten groß und erwachsen wurden?
Margarete Weber: "Schon ein Gefühl, dass man immer Rechenschaft ablegen muss, dass man sich nie richtig frei fühlt. Das ist schon geblieben. Es ist auch so im Miteinander, dass man zum Beispiel seinen Eltern irgendwann so kritisch gegenüber steht. Dass ist etwas, was auch die katholische Kirche, die ja immer wieder lehrt, man seine Eltern ehren, aber man muss, um sich loszulösen einfach irgendwann auch einen ganz anderen Blick darauf bekommen, man muss sich weiterentwickeln. Man muss dann auch irgendwann so sein können, wie man will, ohne dass man irgendwelchen anderen gefallen will dabei. Die katholische Kindheit stärkt die Macht der Eltern und gibt ihnen einfach Macht so über das Leben."
Sylvia Poppitz: "Ich hab mein Leben lang, das krieg ich ganz schwer weg, Schuldgefühle. Wenn ich etwas gemacht habe, was nicht in Ordnung war, meine ich immer, ich werde bestraft, vom Leben oder dass mir irgendein Unglück widerfährt. Ich glaube immer, dass alles kausal zusammenhängt. Und das hängt bestimmt mit der Erziehung. Es gab so viele Todsünden, so unglaublich streng, dass ich schon sehr eingeschränkt war. Und das hat Auswirkungen schon auch bis heute."
An Gott glaubt Margarete Weber heute nicht mehr. Aber dennoch ist sie Mitglied der katholischen Kirche geblieben. Der Mutter zuliebe.
Margarete Weber: "Es ist einfach meine Kindheit gewesen. Man kann das nicht einfach abstreifen und sagen: Ich bin ab heute nicht mehr katholisch. Das geht nicht. Ich steh sehr, sehr vielen Sachen kritisch gegenüber und finde das auch nicht in Ordnung, was da passiert, aber ich glaube, man kann es nicht einfach mit so einem Austreten beiseite legen."
Auch Sylvia Poppitz hat der katholischen Provinz den Rücken gekehrt. Lange hat sie im Ausland gelebt, jetzt wohnt sie in Hamburg. Gläubig ist sie geblieben, auch wenn ihre Gottesvorstellung sich beträchtlich verändert hat. Ihre drei Kinder hat sie sehr bewusst christlich erzogen, aber getauft sind sie nicht.
Sylvia Poppitz: "Ich bin ja nicht mehr in der Kirche. Das war vielleicht auch ein Effekt dieser Erziehung, dass ich dann diese Verlogenheit doch als sehr schlimm empfunden habe und habe dann später, wie ich 20 war und aus dem Elternhaus war, dann habe ich mir gesagt, so, und jetzt der erste Schritt ist, ich bin Christin, aber ich bin nicht Katholikin, und ich trete aus der Kirche aus. Das war auch für mich ein guter Schritt. Ich habe ihn nie bereut. Und ich fühle mich trotzdem als Christin. Ich glaube auch an Jesus, und ich glaube auch an dieses gute Vorleben, das ist eigentlich ein Hintergrund, den ich auch nicht abstreifen möchte."
Michael Siedle und Johannes Wöllfert sind beide in ihren Gemeinden aktive Katholiken. Das Gottesbild ihrer Kindheit hat sich kaum verändert.
Michael Siedle: "Ich hab nie den Drang gehabt, ein Bild zu haben. Es ist ein Gefühl. Manchmal spür ich’s so, wenn ich Lebensentscheidungen getroffen habe und das geht dann so, dann habe ich das Gefühl, ja, da bist du getragen worden. Wobei ich immer das Gefühl hab, dass ich mich entscheiden kann. Ich habe eine Wahlmöglichkeit, nicht so, dass Gott möchte so oder so. Ich habe das Gefühl, dass Glaube etwas Befreiendes ist. Ich habe schon vorher an Gott geglaubt, bevor ich mit Kirche zu tun bekommen habe. Und deshalb ist es für mich immer so ein Gefühl erst mal zu Gott, und ich sehe manche Dinge auch kritisch und sie müssen auch lebbar sein."
Johannes Wöllfert: "Mein Gottesbild hat sich eigentlich nicht so viel verändert. Ich habe trotz aller Wirren, die man so als junger Mensch hat, doch immer den Kontakt zur Kirche gehalten. Ich fühlte mich in der Kirche aufgehoben und fühle das auch heute noch. Wenn ich Gott in seiner ganzen Größe vor mir sehe, dann bin ich das Kind Gottes, und ich fühle mich in seiner Hand wohlgeborgen."
Gläubige, die aus der Kirche austreten; Ungläubige, die Kirchenmitglied bleiben. Die Gründe für Entscheidungen der einen oder anderen Art sind vielschichtig. Viel gesprochen wurde und wird über die Entscheidungen der Päpste in Rom, über deren politisches Gewicht. Auch wenn sie sich kritisch dazu äußern, für Michael Siedle und Johannes Wöllfert zählt das Alltagsleben in ihren Gemeinden weit mehr:
Michael Siedle: "Als Jugendlicher hat mich das schon beschäftigt die Institution der Kirche, wie sie mit den Menschen umgeht. Und da gibt es natürlich schon Ansatzpunkte, die man kritisieren kann. Da spielt auch eine Rolle dann, ob Nächstenliebe in der Gemeinde verwirklicht wird, ob das, was Jesus gesagt hat, auch umgesetzt wird, oder ob man eher als Institution sich versteht und sich abschottet nach außen. Es hängt wirklich von der Atmosphäre in der Gemeinde ab, die kann völlig unterschiedlich sein. Das hat dann auch nichts mit der Großinstitution zu tun."
Johannes Wöllfert: "Für meine Seele ist es wichtig, dass die Gemeinde da ist, dass sich Menschen sonntäglich zum Gottesdienst zusammenfinden. Und dass ich in der Gemeinde getragen bin."
Auch aus theologischer Sicht ist das Gemeindeleben unverzichtbar, sagt Pfarrer Monsignore Peter Mies:
Peter Mies: "Unser Glaube ist keine Einzel- und Exklusivbeziehung zu Gott, sondern der Glaube lebt davon, dass wir ihn gemeinsam feiern und auch gemeinsam bedenken. Also wenn sich einige Leute zusammenfinden, ein Gleichnis von Jesus lesen und darüber untereinander reden, dann ist Gottes Geist bei ihnen, und dann sind sie Gemeinde. Und das ist unverzichtbar für einen lebendigen Glauben, auch für einen Glauben, der nicht abstrus wird oder wie man früher gesagt hätte, der nicht in die Irre geht. Letztendlich ist das eigenständige Gewissen die letzte Instanz."
Für Johannes Wöllfert, der seit langer Zeit in Schleswig-Holstein lebt, geht die Vorstellung von christlicher Gemeinschaft über die eigene katholische Gemeinde weit hinaus:
Johannes Wöllfert: "Ich sehe die Christen insgesamt, evangelische, griechisch-orthodoxe, katholische hier in einer Diaspora, denn die Gemeinschaft der aktiven Christen ist in einer Minderheit. Meine Frau ist evangelisch, meine Kinder sind konfirmiert. Ich bin aber im katholischen Kirchengemeinderat aktiv. Ich sage, diejenigen, die noch zur Kirche halten, sollten zusammenstehen. Deswegen setze ich mich jetzt besonders auch in meinem Amt als Ökumenebeauftragter für die Ökumene ein."
Über die einst so heiklen "Mischehen" wird heute nicht mehr gesprochen. So wie Johannes Wöllfert ist auch Michael Siedle mit einer Protestantin verheiratet. Die katholische Strenge und Enge der 50er- und 60er-Jahre ist, zumindest in der Diaspora und in Großstädten, ökumenischer Großzügigkeit gewichen. Aber in Margarete Webers Heimatdorf ist manches noch ganz so, wie es früher war.
Margarete Weber: "Es gab auch schon sehr frustrierende Erfahrungen, die ich dann total vergessen hatte, dass meine Mutter in der Woche vor Ostern nicht kocht, sondern dass gefastet wird. Und ich mich wahnsinnig ein halbes Jahr schon auf meine Mutter gefreut habe und vor allen Dingen auf das Essen und in der Woche vorher hinkomme, und dann immer nur trockenen Reis drei Tage kriege, weil in der Zeit einfach nichts anderes gegessen wird."
Johannes Wöllfert: "Ich bin ja in der DDR aufgewachsen, und habe in einer nichtchristlichen, atheistischen Umwelt eben in dieser Gemeinschaft die christlichen Werte behauptet."
Sylvia Poppitz: "Ich bin in einem Vorort von München aufgewachsen, eine kleinere Provinzgemeinde. Die Erziehung war eben katholisch, obwohl bei uns war schon eben der Sonderfall, dass mein Vater Protestant war, und das war eine Mischehe, nannte man damals so. Ja, das merkten wir schon als Kinder, dass das eigentlich nicht so gehört."
Michael Siedle: "Aufgewachsen bin ich in Baden-Württemberg. In dieser Gemeinde mit 15.000 Einwohnern gab's 6000, 7000 katholische Christen. Da kam also nicht ein Diaspora-Gefühl auf. Man wusste halt nur, es gab zwei Religionen, evangelisch, katholisch. Ich hatte ja auch Freunde dann, die evangelisch waren."
Katholische Kindheit in der Nachkriegszeit. In der Diaspora war sie anders als in einem katholischen Dorf oder dort, wo die christlichen Konfessionen nahezu gleich stark vertreten waren. Aber es gibt Gemeinsamkeiten. Und an manche erinnern sich viele gern:
Johannes Wöllfert: "Die lateinischen Festgottesdienste, die in Peter und Paul in Potsdam sehr feierlich begangen wurden. Da war ein schöner Chor, Weihnachten, an den Feiertagen. Wir sind fast jeden Sonntag zur Kirche gegangen. Überhaupt die lateinische Messe, die hat mir sehr viel gegeben."
Margarete Weber: "Wir hatten ja damals noch Sonntagskleidung. Wir hatten extra Kleidung für die Kirche. Die haben wir dann angezogen und sind dahin gegangen. Dann saßen wir da alle. Auf der einen Seite die Jungs, auf der anderen Seite die Mädchen. Die Kirche war jeden Sonntag rappelvoll. Die Leute standen bis in den Kirchengang rein. Das war jeden Sonntag wirklich ein Ereignis."
Michael Siedle: "Wenn ich mit meiner Oma zur Kirche gegangen bin, das fand ich sehr schön dann. Ja, sie war ein sehr gläubiger Mensch. Sie hat auch mit uns manchmal gebetet. Das empfand ich eben auch als schön. Das hatte einfach auch mit der Person zu tun."
Sylvia Poppitz: "Besonders schön fand ich, wenn wir schöne Lieder gesungen haben, hab ich auch mit viel Freude mitgesungen und fand es besonders schön, wenn die Orgel auch gespielt hat, obwohl die immer schrecklich langsam war. Das Kirchenschiff hat eigentlich immer ein bisschen zu schnell gesungen. Und diese Festlichkeit, diese Stimmung, die hat mir gut gefallen. An Ostern fand ich es ganz besonders schön nun nach dem traurigen Karfreitag. Das Auferstehungsfest, das war besonders festlich. Da durften wir immer etwas mitnehmen im Körbchen, was dann geweiht wurde. Ich hab auch immer bewundert, wenn der Pfarrer mit dem Wasserbehälter am Schluss durch die Reihen ging mit den Ministranten und hat uns mit Weihwasser bespritzt. Das war nicht ein Pinsel, das war ein kleiner Stab mit einer Kugel, die gelöchert war, und dann wurde das eben so weggespritzt, das hat mir sehr gut gefallen. Und ich war auch ein bisschen neidisch, dass die Jungs Ministranten sein durften und die Mädchen nicht, weil man da so wichtig war und diese schönen Glöckchen dann immer in der Hand gehabt hat."
Margarete Weber: "Es waren natürlich solche Feste wie Fronleichnam, wo wir vier, fünf Tage vorher schon angefangen haben, Blumen zu sammeln. Damals wurden durch das ganze Dorf durch Blumenteppiche gebaut. Alle Gemeinden trafen sich bei uns im Ort, und jede Gemeinde hatte einen eigenen Altar. Und wir sind nachts aufgestanden und haben diese Altäre geschmückt. Das war einfach schön. Da haben wir uns auch jedes Jahr drauf gefreut."
Sylvia Poppitz: "Da ging ja der Pfarrer immer unter einem Baldachin und die Ministranten außen rum. Und immer mit dem Weihrauch. Das fanden wir als Kinder sehr schick. Wir fühlten uns auch wichtig, dass wir dabei waren."
Johannes Wöllfert: "Mich hat schon als Kind Gregorianik interessiert. Ich hab das irgendwo mal gehört, und das hat mich sehr berührt. Das war ein Gottesdienst aus einer Kathedrale in Ungarn. Das hat mich richtig erschauern lassen."
Kirchgang und Gesang, Gebete, Messfeier und Prozession. Gott, dem zu Ehren all das geschah, war für die Kinder auch an Werktagen allgegenwärtig:
Michael Siedle: "Ich hatte keine feste Vorstellung. Es war ein Gefühl. Die Gottesvorstellung war bei mir noch vor der Kirche. Also ich hatte da einen Bezug, sicherlich vielleicht auch durch das Elternhaus. Es war ein Gefühl: Gott ist bei mir."
Margarete Weber: "Es muss irgendwas ganz allumfassendes gewesen sein, weil ich habe mich immer beobachtet gefühlt. Ich glaube, ich habe mir einen alten Mann vorgestellt, der aber andauernd gucken konnte, überall. Wir wurden ja in unserer Kindheit ja auch noch überhäuft mit solchen Heiligenbildchen, wo das auch immer dargestellt war. Man sah ja immer aus den Wolken heraus diesen alten Mann, der immer überall gucken konnte. Von dem fühlte man sich natürlich auch permanent beobachtet. Der war ja immer da."
Johannes Wöllfert: "Gott war für mich ein Vater, der meinen Vater, der in Italien gefallen war, zu sich genommen hat. Das war für mich ein Stück Heimat."
Sylvia Poppitz: "Als Kind habe ich mir Gott als lieben, gütigen Vater vorgestellt, aber gleichzeitig auch als Kontrollorgan, denn es wurde uns täglich mehrmals mitgeteilt, Gott sieht alles und Gott hört alles. Und dadurch hatte ich bei allem ein schlechtes Gewissen, wenn ich Dinge tat, die Kinder nun mal tun."
Monsignore Peter Mies, Gemeindepfarrer in Hamburg ist selbst als katholisches Kind in der Nachkriegszeit aufgewachsen.
Peter Mies: "Typisch für diese Zeit ist, dass auch deutlich darauf hingewiesen wurde, was verboten ist, und was nicht gut ist, was man nicht tun soll. Typisch für manche Menschen ist allerdings eher, dass sie das besonders gehört haben und besonders darauf anspringen. Das gibt es auch heute noch. Das hängt aber auch mit der persönlichen Verfasstheit zusammen, und die dann sehr mit sich selber in Clinch kommen über all diese Fragen. Andere haben da etwas breitere Schultern gehabt, denen haben ja auch die Lehrer und die Eltern dauernd gesagt, was sie nicht dürfen, das hat die auch nicht so gekratzt, und sind deswegen unbeschadet durch diese Situation hindurch gekommen."
Für Menschen, die sich wie Sylvia Poppitz, noch heute durch ihre katholische Kindheit belastet fühlen, dürfte das kein Trost sein.
Sylvia Poppitz: "Das war die größte Schweinerei überhaupt an der ganzen Erziehung: Alles, was Spaß macht im Leben, wurde einem madig gemacht oder verboten. Die Pfarrer, die haben sich die Wampe voll geschlagen, die haben auch Wein getrunken und Wasser gepredigt. Und wir sollten immer nur Milch und Kekse zu uns nehmen. Und da habe ich immer gedacht, irgendwo kann das nicht stimmen, wenn da oben so ein kluger, allwissender Gott ist, dann kann es nicht angehen, dass er uns so gemacht hat und lässt uns das gar nicht ein bisschen durchleben."
Pfarrer Mies ist in Norddeutschland aufgewachsen. Ist die katholische Kirche in der Diaspora bekömmlicher?
Peter Mies: "Viele sagen das. Ich selber kenne sie im Wesentlichen in der Diaspora, und ich liebe diese Situation. Das Gute daran ist wahrscheinlich, dass man sich selbst mehr klar darüber werden muss, was man selber meint, und das man im Gespräch steht, selbstverständlich, mit anderen, die etliche Dinge anders sehen. Dadurch werden Urteile klarer und werden nicht unbedacht allmächtig und immer größer. Also hier muss man schon offenen Geistes sein. Aber nicht nur für die beiden Konfessionen, sondern für alle möglichen anderen Lebensarten auch. Wir leben als Christen ja in einer Welt, wo durchaus nicht alle Christen sind und ihre eigenen Lebensentwürfe haben."
Für Sylvia Poppitz in der Nähe von München und Margarete Weber in ihrem katholischen 370-Seelen-Eifeldorf waren die Vorgaben in ihrer Kinderwelt klar und allmächtig.
Sylvia Poppitz: "Manchmal habe ich schon auch diese Masse der Katholiken als bedrohend empfunden, weil ich oft dachte als Kind, oh Gott, ich denke so anders, und das ist nicht in Ordnung. Und die denken ja alle anders und hatten viel Macht. Und die Macht hat mir auch Angst gemacht."
Margarete Weber: "Ich hatte immer das Gefühl, ich muss mich auch total anpassen. Ich kann nicht so sein wie ich will. So mit zwölf, 13 fing das an, dass ich gemerkt habe, dass wenn ich mich auch nur einen Schritt weit außerhalb stelle, dass ich dann sofort sanktioniert werde. Dass man so vieles nicht durfte, dass man immer in der Angst lebte, bestraft zu werden."
Katholische Mädchen wurden meist noch strenger erzogen als katholische Jungen. Und alle Kirchenmacht war männlich, am Altar und im Beichtstuhl.
Sylvia Poppitz: "Ich bin am Anfang schon zur Beichte gegangen und hab immer mir abgelesen, was hab ich denn alles gemacht, ich war frech zu meinen Eltern, ich habe gelogen, was man so sagt. Und ich hab dann auch zum Beispiel mit meinem Bruder sexuelle Spielchen gemacht, und dann hab ich gemerkt, wie der Kaplan ganz gezielt nachfragte. Ja, was für Spielchen habt ihr denn gemacht? Wie weit wart ihr denn ausgezogen? Was habt ihr genau gemacht? Da fing es an, dass es mir äußerst unangenehm wurde. Dann hab ich angefangen, mich zu drücken. Und dann hab ich angefangen zu lügen. Und dann hab ich mir ausgedacht, ja gut, ich muss jetzt lügen, denn solche intimen Geständnisse kann ich vor dem Kaplan nicht mehr machen. Und dann hab ich immer gesagt, gut ich überleg mir jetzt so einen Trick, ich sage vorher, ich habe gelogen, und dann kann ich das andere weglassen."
Die Beichte. Seit Martin Luther Inbegriff katholischer Glaubenslehre, verband für kleine Kinder, die sie vor der Erstkommunion mit acht oder neun Jahren zum ersten Mal absolvieren mussten, Gewissenserforschung und Absolution, Pein und Erleichterung.
Michael Siedle: "Klar, man wusste so im Hinterkopf, Dinge sind verboten, aber auf der anderen Seite: Es gab ja auch die Beichte, wo man dann eben wieder beichten konnte. Ich hab also Glauben eigentlich auch nicht so einschränkend empfunden. Wir hatten beim Pfarrer Erstkommunionunterricht, der hat uns dann mal eine Geschichte erzählt, da ist dann jemand bei uns im Ort verunglückt mit einem Motorrad, und wenn der jetzt nicht gebeichtet hat, dann sieht's schlecht aus. Aber das hat mich dann eher dazu gebracht, mal nachzudenken, ob das dann so stimmt mit dem Gottesbild. Und ich neig eher dazu, Gebote nicht als Verbote aufzufassen, aber das ist erst heute, sondern als eine Möglichkeit, vernünftig zusammenzuleben. Man kann die natürlich auch nicht alle einhalten. Es fängt ja schon mit dem Lügen an: Wann lügt man? Wann lügt man nicht?"
Michael Siedle als älterer Junge und Johannes Wöllfert als junger Mann lernten Priester kennen, die ihre Fragen und Gewissenskonflikte so beantworteten, dass sie sich ermutigt fühlten. Pfarrer Peter Mies lädt heutzutage alle Eltern ein, deren Kinder am Erstkommunionunterricht teilnehmen. Ganz am Anfang fragt er Väter und Mütter, wie sie selbst diese Zeit erlebt haben, was sie weitergeben möchten und was auf keinen Fall.
Peter Mies: "Die Eltern möchten eine offene Atmosphäre haben und keinen Zwang. Genau diesen Gedanken nehmen wir auf. Zum Beispiel in der Beichte, den Versöhnungsfeiern, war es früher mehr so, dass man das, was als Sünden in Frage kam, in einem sogenannten Beichtspiegel schon vorformuliert hatte und die Kinder dann abhakten, hab ich das gemacht, hab ich das nicht gemacht, habe ich gelogen, geklaut oder sonst irgendwas getan. Heute gehen wir davon aus, dass wir den Kindern da gar keine Vorgaben machen müssen. Wir können ein neutrales Foto zum Beispiel hintun, wo ein paar Kinder zusammen spielen oder zu Hause am Mittagstisch sitzen, und mit ihnen darüber reden, was könnte da passieren, was könnte passiert sein, was davon wäre gut, was wäre nicht gut. Die Kinder selber wissen, es kommt sozusagen aus ihnen heraus, was gut ist und was nicht gut ist. Das gewährleistet auch, dass sie dann in der Versöhnungsfeier und auch in ihrem Bekenntnis nicht irgendwelche auswendig gelernten Dinge wiedergeben, wo sie gar nicht wissen, was das soll und entsprechend unangenehm es für sie ist, sondern dass sie von dem erzählen, was sie selber betrifft und was sie selber auch verstehen."
Was aber ist aus den katholischen Kindern von einst geworden? Aus jenen, die mit Sündenangst und Beichtspiegel, mit Keuschheitsgeboten und Verhütungsverboten groß und erwachsen wurden?
Margarete Weber: "Schon ein Gefühl, dass man immer Rechenschaft ablegen muss, dass man sich nie richtig frei fühlt. Das ist schon geblieben. Es ist auch so im Miteinander, dass man zum Beispiel seinen Eltern irgendwann so kritisch gegenüber steht. Dass ist etwas, was auch die katholische Kirche, die ja immer wieder lehrt, man seine Eltern ehren, aber man muss, um sich loszulösen einfach irgendwann auch einen ganz anderen Blick darauf bekommen, man muss sich weiterentwickeln. Man muss dann auch irgendwann so sein können, wie man will, ohne dass man irgendwelchen anderen gefallen will dabei. Die katholische Kindheit stärkt die Macht der Eltern und gibt ihnen einfach Macht so über das Leben."
Sylvia Poppitz: "Ich hab mein Leben lang, das krieg ich ganz schwer weg, Schuldgefühle. Wenn ich etwas gemacht habe, was nicht in Ordnung war, meine ich immer, ich werde bestraft, vom Leben oder dass mir irgendein Unglück widerfährt. Ich glaube immer, dass alles kausal zusammenhängt. Und das hängt bestimmt mit der Erziehung. Es gab so viele Todsünden, so unglaublich streng, dass ich schon sehr eingeschränkt war. Und das hat Auswirkungen schon auch bis heute."
An Gott glaubt Margarete Weber heute nicht mehr. Aber dennoch ist sie Mitglied der katholischen Kirche geblieben. Der Mutter zuliebe.
Margarete Weber: "Es ist einfach meine Kindheit gewesen. Man kann das nicht einfach abstreifen und sagen: Ich bin ab heute nicht mehr katholisch. Das geht nicht. Ich steh sehr, sehr vielen Sachen kritisch gegenüber und finde das auch nicht in Ordnung, was da passiert, aber ich glaube, man kann es nicht einfach mit so einem Austreten beiseite legen."
Auch Sylvia Poppitz hat der katholischen Provinz den Rücken gekehrt. Lange hat sie im Ausland gelebt, jetzt wohnt sie in Hamburg. Gläubig ist sie geblieben, auch wenn ihre Gottesvorstellung sich beträchtlich verändert hat. Ihre drei Kinder hat sie sehr bewusst christlich erzogen, aber getauft sind sie nicht.
Sylvia Poppitz: "Ich bin ja nicht mehr in der Kirche. Das war vielleicht auch ein Effekt dieser Erziehung, dass ich dann diese Verlogenheit doch als sehr schlimm empfunden habe und habe dann später, wie ich 20 war und aus dem Elternhaus war, dann habe ich mir gesagt, so, und jetzt der erste Schritt ist, ich bin Christin, aber ich bin nicht Katholikin, und ich trete aus der Kirche aus. Das war auch für mich ein guter Schritt. Ich habe ihn nie bereut. Und ich fühle mich trotzdem als Christin. Ich glaube auch an Jesus, und ich glaube auch an dieses gute Vorleben, das ist eigentlich ein Hintergrund, den ich auch nicht abstreifen möchte."
Michael Siedle und Johannes Wöllfert sind beide in ihren Gemeinden aktive Katholiken. Das Gottesbild ihrer Kindheit hat sich kaum verändert.
Michael Siedle: "Ich hab nie den Drang gehabt, ein Bild zu haben. Es ist ein Gefühl. Manchmal spür ich’s so, wenn ich Lebensentscheidungen getroffen habe und das geht dann so, dann habe ich das Gefühl, ja, da bist du getragen worden. Wobei ich immer das Gefühl hab, dass ich mich entscheiden kann. Ich habe eine Wahlmöglichkeit, nicht so, dass Gott möchte so oder so. Ich habe das Gefühl, dass Glaube etwas Befreiendes ist. Ich habe schon vorher an Gott geglaubt, bevor ich mit Kirche zu tun bekommen habe. Und deshalb ist es für mich immer so ein Gefühl erst mal zu Gott, und ich sehe manche Dinge auch kritisch und sie müssen auch lebbar sein."
Johannes Wöllfert: "Mein Gottesbild hat sich eigentlich nicht so viel verändert. Ich habe trotz aller Wirren, die man so als junger Mensch hat, doch immer den Kontakt zur Kirche gehalten. Ich fühlte mich in der Kirche aufgehoben und fühle das auch heute noch. Wenn ich Gott in seiner ganzen Größe vor mir sehe, dann bin ich das Kind Gottes, und ich fühle mich in seiner Hand wohlgeborgen."
Gläubige, die aus der Kirche austreten; Ungläubige, die Kirchenmitglied bleiben. Die Gründe für Entscheidungen der einen oder anderen Art sind vielschichtig. Viel gesprochen wurde und wird über die Entscheidungen der Päpste in Rom, über deren politisches Gewicht. Auch wenn sie sich kritisch dazu äußern, für Michael Siedle und Johannes Wöllfert zählt das Alltagsleben in ihren Gemeinden weit mehr:
Michael Siedle: "Als Jugendlicher hat mich das schon beschäftigt die Institution der Kirche, wie sie mit den Menschen umgeht. Und da gibt es natürlich schon Ansatzpunkte, die man kritisieren kann. Da spielt auch eine Rolle dann, ob Nächstenliebe in der Gemeinde verwirklicht wird, ob das, was Jesus gesagt hat, auch umgesetzt wird, oder ob man eher als Institution sich versteht und sich abschottet nach außen. Es hängt wirklich von der Atmosphäre in der Gemeinde ab, die kann völlig unterschiedlich sein. Das hat dann auch nichts mit der Großinstitution zu tun."
Johannes Wöllfert: "Für meine Seele ist es wichtig, dass die Gemeinde da ist, dass sich Menschen sonntäglich zum Gottesdienst zusammenfinden. Und dass ich in der Gemeinde getragen bin."
Auch aus theologischer Sicht ist das Gemeindeleben unverzichtbar, sagt Pfarrer Monsignore Peter Mies:
Peter Mies: "Unser Glaube ist keine Einzel- und Exklusivbeziehung zu Gott, sondern der Glaube lebt davon, dass wir ihn gemeinsam feiern und auch gemeinsam bedenken. Also wenn sich einige Leute zusammenfinden, ein Gleichnis von Jesus lesen und darüber untereinander reden, dann ist Gottes Geist bei ihnen, und dann sind sie Gemeinde. Und das ist unverzichtbar für einen lebendigen Glauben, auch für einen Glauben, der nicht abstrus wird oder wie man früher gesagt hätte, der nicht in die Irre geht. Letztendlich ist das eigenständige Gewissen die letzte Instanz."
Für Johannes Wöllfert, der seit langer Zeit in Schleswig-Holstein lebt, geht die Vorstellung von christlicher Gemeinschaft über die eigene katholische Gemeinde weit hinaus:
Johannes Wöllfert: "Ich sehe die Christen insgesamt, evangelische, griechisch-orthodoxe, katholische hier in einer Diaspora, denn die Gemeinschaft der aktiven Christen ist in einer Minderheit. Meine Frau ist evangelisch, meine Kinder sind konfirmiert. Ich bin aber im katholischen Kirchengemeinderat aktiv. Ich sage, diejenigen, die noch zur Kirche halten, sollten zusammenstehen. Deswegen setze ich mich jetzt besonders auch in meinem Amt als Ökumenebeauftragter für die Ökumene ein."
Über die einst so heiklen "Mischehen" wird heute nicht mehr gesprochen. So wie Johannes Wöllfert ist auch Michael Siedle mit einer Protestantin verheiratet. Die katholische Strenge und Enge der 50er- und 60er-Jahre ist, zumindest in der Diaspora und in Großstädten, ökumenischer Großzügigkeit gewichen. Aber in Margarete Webers Heimatdorf ist manches noch ganz so, wie es früher war.
Margarete Weber: "Es gab auch schon sehr frustrierende Erfahrungen, die ich dann total vergessen hatte, dass meine Mutter in der Woche vor Ostern nicht kocht, sondern dass gefastet wird. Und ich mich wahnsinnig ein halbes Jahr schon auf meine Mutter gefreut habe und vor allen Dingen auf das Essen und in der Woche vorher hinkomme, und dann immer nur trockenen Reis drei Tage kriege, weil in der Zeit einfach nichts anderes gegessen wird."