Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier
Ch. Links Verlag, Berlin 2015
344 Seiten, 19,90 Euro
Deutschlands Verantwortung gegenüber den Armeniern
Jürgen Gottschlich hat mit "Beihilfe zum Völkermord" eine Bresche in die bisherige Forschung zum Völkermord an den Armeniern geschlagen. Von Deutschlands weitreichendem Einfluss bei der Vernichtung der Armenier wollte bisher keiner so genau wissen.
Jürgen Gottschlich: "Nachdem dann sowohl die deutschen Politiker als auch die Militärs (...) festgestellt haben, dass es der türkischen Seite nicht nur um Deportationen geht, also nicht nur darum, eine bestimmte Bevölkerung von A nach B zu bringen, sondern tatsächlich um die Vernichtung der armenischen Rasse im osmanischen Reich, wie der deutsche Botschafter Wangenheim dann auch selber nach Berlin gemeldet hat, geht, spätestens dann hätte man ja erwarten müssen, dass die Deutschen versuchen zu intervenieren."
Das machten sie aber nicht. Denn die nationalistischen Jungtürken waren für deutsche Großmachtbestrebungen sehr nützlich. Seit dem 1. August 1914 war die Türkei Bündnispartner Deutschlands. Das deutsche Kaiserreich wollte sich nach Osten ausdehnen, um dem britischen Empire Paroli bieten zu können. Die Eroberung der armenischen Gebiete entlang der ostanatolischen Grenze bedeutete freie Bahn nach Russland und in den Kaukasus. Bestens informiert war einer der deutschen Helfershelfer, den Gottschlich benennt.
"Das Buch hat als roten Faden eine Person, und das ist die Person von Marineattaché Hans Humann. Der Humann ist der Sohn von dem Carl Humann, der Mitte des 19. Jahrhunderts den Pergamonaltar (...) wiederentdeckt hat und dann bekanntermaßen nach Berlin gebracht hat. (...) Und dessen Sohn, Hans Humann, spielt in der ganzen Geschichte eine wichtige Rolle. Und ich habe, mehr oder weniger per Zufall, entdeckt, dass an einer amerikanischen Universität, der Yale Universität, der Nachlass eines anderen deutschen Journalisten, der zwischenzeitlich im Auswärtigen Amt gearbeitet hat, Ernst Jäckh lagert. (...) Und die Mentalität dieser Leute erschließt sich sehr gut über diesen Briefwechsel zwischen Jäckh und Humann."
Ein Fundstück, das bisher von der Forschung wenig beachtet wurde. Und im deutschen Militärarchiv in Freiburg fand Gottschlich ergänzende Materialien zu Humann und seinem Netzwerk. Das deutsche Kaiserreich lieferte Waffen und Munition in die Türkei und es stellte entscheidende Befehlshaber und Berater: Generalstabschef der türkischen Streitkräfte war General Friedrich Bronsart von Schellendorf; Operationschef des türkischen Heeres war Otto von Feldmann; und Hans Human war eng mit dem allmächtigen Kriegsminister und Deportationsbefürworter Enver Pascha befreundet. "Hart, aber nützlich" kommentiert Humann im Juni 1915 die Ausrottung der Armenier.
"Er ist in Smyrna, also in Izmir, damals geboren. Sein Vater hat da als Archäologe gearbeitet. Er war sehr vertraut mit der Türkei, war auch selber sehr turkophil. Und war eng befreundet mit dem damals mindestens zweitwichtigsten Mann in der türkischen Regierung, nämlich Kriegsminister Enver Pascha, hatte unmittelbaren Zugang zu ihm, war über alles informiert, hat die auch informiert, was die Deutschen wollen und umgekehrt, und hat dadurch hinter den Kulissen einen sehr viel größeren Einfluss gehabt als qua Amt. (...) Ich hab dann an der Figur von Humann die ganze Geschichte erzählt. Und das ist meiner Meinung nach, als Charakterstudie auch für die handelnden Personen, die damals beteiligt waren, sehr erhellend."
"Beihilfe zum Völkermord", lautet der Titel von Gottschlichs Studie, in der er die verwickelte Geschichte anschaulich und plausibel macht. Wolfgang Gust hatte das Thema vor zehn Jahren erstmals in die Öffentlichkeit gebracht. Der Journalist veröffentlichte in einer umfangreichen Dokumentation unter dem Titel "Der Völkermord an den Armeniern 1915/16" Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes. Daraus geht das Mitwissen deutscher Diplomaten und Militärs eindeutig hervor, sagt Gust.
Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Armenier
Wolfgang Gust: "Die deutschen Diplomaten haben zwar protestiert. Sie haben Noten an die osmanische Regierung geschickt. Aber diese Noten waren sehr weich verfasst. Ganz anders war das Mittun deutscher Militärs. (...) Die deutschen Offiziere waren eindeutig, das kann man nachlesen, der Meinung, dass dieser Völkermord gerechtfertigt war."
Jürgen Gottschlich zitiert ausgiebig aus Gusts Dokumentation von 2005. Doch nun kann Gottschlich die bisherigen Erkenntnisse vertiefen.
Jürgen Gottschlich: "Insgesamt war das ja nur eine kleine Gruppe, die damit beschäftigt war. Also in der Türkei von den wichtigen Soldaten und Diplomaten waren es vielleicht zehn, zwölf Leute. In Deutschland waren es ein paar entscheidende Figuren. Im Auswärtigen Amt und Reichskanzler und seine Berater, also vielleicht 20, 25 Leute, die mit der ganzen Thematik beschäftigt waren und dann auch die Entscheidungen getroffen haben."
Reichskanzler Bethmann Hollweg entschied im Dezember 1915 eindeutig. Ans Auswärtige Amt schrieb er:
Zitator: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht."
Gleichgültig und nützlich, so lauteten die entscheidenden Positionen deutscher Amtsträger zum Völkermord an den Armeniern. Jürgen Gottschlich hat ein reifes und aufregendes Buch verfasst, ein Buch, das Folgen haben wird. Und doch ist auch dieses nur ein erster Schritt zur Klärung. Denn Gottschlich wurde bei seinen Recherchen in der Türkei, speziell im türkischen Militärarchiv, massiv behindert.
"Es gibt diverse Dokumente, da steht drauf in den Findbüchern: in Deutsch. Dachte ich, na super! Weil das andere ist in osmanisch, das ist wirklich sehr schwer zu lesen. (...) Ist arabische Schrift, eine Mischung aus arabisch, persisch, türkisch, also wirklich sehr schwer. In Deutsch fand ich natürlich klasse. Ja, und da haben die mir gesagt: Die Dokumente in Deutsch können wir Ihnen nicht geben. Ich sag: Ja, warum nicht? Ist doch gerade interessant. Ja, die können wir ja nicht lesen, deswegen wissen wir da nicht, was wir Ihnen geben, also es geht nicht."
Wenn also der türkische Präsident Erdogan irgendwann sein Versprechen wahrmachen sollte, sämtliche türkischen Archive für die unabhängige Forschung zu öffnen, dann wird gewiss auch weiteres Licht auf die Beteiligung Deutschlands am Völkermord an den Armeniern fallen. Gottschlich hat einen sehr wichtigen Schritt zur Klärung unternommen. Weitere Dokumente liegen im militärischen Staatsarchiv der Türkei unter Verschluss. Die Forschung hat weiterzugehen.
Wolfgang Gust (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts
ZuKlampen Verlag, Springe 2005
675 Seiten, 39,80 Euro