Beim Krimi-Gucken Spannungen abbauen
Den Boom von TV-Krimis führt der Hallenser Ethnologe Thomas Hauschild darauf zurück, dass der "Aggressionspegel" in der Bevölkerung aktuell recht hoch sei. Nach Hauschilds Einschätzung können Krimis den Zuschauern helfen, aggressive Spannungen abzubauen.
Liane von Billerbeck: Millionen Menschen sahen gestern Abend im Ersten den "Polizeiruf 110" nach dem Drehbuch von Günter Schütter, einen Krimi, der so gar nicht in das übliche Schema vom überschaubaren Grauen passte. Der Zuschauer wurde mit seinen unguten Gefühlen weitgehend allein gelassen, und am Ende löste sich eben nichts in Wohlgefallen auf. Denn Kommissar von Meuffels machte einen riesigen Fehler, als er Polizeikollegen quasi vom Vorwurf des Totschlags oder der Körperverletzung mit Todesfolge an einem Transsexuellen in einer Ausnüchterungszelle freispricht. Dann taucht ein Handy-Video von der Tat auf und die psychischen Konsequenzen, die muss am Ende der Kommissar tragen.
Eine Ausnahme in der deutschen Fernsehlandschaft, in der Krimis, vor allem Krimiserien, immer mehr zum Zentrum des Abendprogramms werden. Bevor wir mit dem Hallenser Ethnologen Thomas Hauschild darüber sprechen, warum uns Krimis so vor den Bildschirm ziehen, obwohl doch die Mordrate hierzulande so gering ist wie lange nicht, liefert Tobias Wenzeleinen Eindruck von der Krimiflut im Fernsehen.
von Billerbeck: Wie das zusammenpasst und über die Sucht nach dem Nervenkitzel wollen wir jetzt mit Thomas Hauschild sprechen. Er ist Professor für Ethnologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ich grüße Sie.
Thomas Hauschild: Guten Morgen.
von Billerbeck: Haben Sie gestern Abend "Polizeiruf" geguckt?
Hauschild: Ja, ich habe es mir angeschaut. Und mir fiel auf, dass diese Unsicherheit, mit der man zurückgelassen wurde, ja auch ein bisschen trügerisch ist, weil man ja genau weiß, was passiert ist. Und ich glaube, das ist das Wichtige an Krimis, dass man am Ende ziemlich gut Bescheid weiß. Entweder schaut man jemandem über die Schulter oder man hat sich mit einer der Figuren identifiziert, und am Ende sind die ganzen technischen und praktischen und Handlungen und die ganzen Einstellungen, die ganzen Lügen und so weiter aufgeklärt und dann weiß man ungefähr oder sehr genau, wer was getan hat und was passiert ist. Und dieses Aufräumen, das scheint mir die Hauptfunktion des Krimis zu sein.
von Billerbeck: Jetzt hat er schon alles erklärt in der ersten Antwort. Ich wollte Sie noch fragen, ob "Tatort" und Co. eigentlich auch zu Ihren sonntäglichen Ritualen gehört.
Hauschild: "Tatort" gehört bei mir dazu. Ich benutze das als Wissenschaftler ganz sicher …
von Billerbeck: Ah, guter Vorwand!
Hauschild: … um mehr über meine Gesellschaft zu erfahren, und gleichzeitig benutze ich das, um Spannungen abzubauen. Und das tun eben sehr, sehr viele Menschen. Das kann man auch in den USA sehen, wo Serien, die kriminologische Inhalte haben, ja mittlerweile das Objekt sind aller großen intellektuellen Bemühungen. Also man fragt sich immer, wo überhaupt noch in den USA geistiger Saft rein geht und viel Geld, ja, das sind die HBO-Serien wie "The Wire".
Man kann daran erkennen, dass die Menschen eigentlich nicht richtig glauben, was ihnen ständig gepredigt wird, nämlich, dass wir in einem globalisierten, unübersichtlichen Zeitalter leben, in der Postmoderne. Die Menschen wollen nicht in der Postmoderne leben, sondern sie arbeiten dagegen an und wollen dann wenigstens für einen Ort, für eine Leiche, für einen Bösewicht, für einen zwielichtigen Kommissar ganz genau wissen, was los ist. Und das ist richtig regional, lokal. Es gibt ja auch sehr viele regionale Krimis. Und es gibt eigentlich gar keinen Krimi, der vollkommen global ist, weil die Tat eben an einem ganz bestimmten Ort passiert, und da wird sie auch aufgeklärt.
von Billerbeck: Bleiben wir mal bei, bleiben wir mal hierzulande bei den "Tatorten" und Co., "Polizeiruf", Ermittler, Fahnder, et cetera. Der "Tatort", der steckte ja Mitte der 90er in einer heftigen Krise und galt als ziemlich spießig. Heute ist das ganz anders. Es gibt Freundeskreise, die sich zum "Tatort"- oder "Polizeiruf"-Gucken verabreden, und manche Menschen, die sollte man zwischen 20 Uhr 15 und 21 Uhr 40 am Sonntag nicht stören. Was ist denn heute anders?
Eine Ausnahme in der deutschen Fernsehlandschaft, in der Krimis, vor allem Krimiserien, immer mehr zum Zentrum des Abendprogramms werden. Bevor wir mit dem Hallenser Ethnologen Thomas Hauschild darüber sprechen, warum uns Krimis so vor den Bildschirm ziehen, obwohl doch die Mordrate hierzulande so gering ist wie lange nicht, liefert Tobias Wenzeleinen Eindruck von der Krimiflut im Fernsehen.
von Billerbeck: Wie das zusammenpasst und über die Sucht nach dem Nervenkitzel wollen wir jetzt mit Thomas Hauschild sprechen. Er ist Professor für Ethnologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ich grüße Sie.
Thomas Hauschild: Guten Morgen.
von Billerbeck: Haben Sie gestern Abend "Polizeiruf" geguckt?
Hauschild: Ja, ich habe es mir angeschaut. Und mir fiel auf, dass diese Unsicherheit, mit der man zurückgelassen wurde, ja auch ein bisschen trügerisch ist, weil man ja genau weiß, was passiert ist. Und ich glaube, das ist das Wichtige an Krimis, dass man am Ende ziemlich gut Bescheid weiß. Entweder schaut man jemandem über die Schulter oder man hat sich mit einer der Figuren identifiziert, und am Ende sind die ganzen technischen und praktischen und Handlungen und die ganzen Einstellungen, die ganzen Lügen und so weiter aufgeklärt und dann weiß man ungefähr oder sehr genau, wer was getan hat und was passiert ist. Und dieses Aufräumen, das scheint mir die Hauptfunktion des Krimis zu sein.
von Billerbeck: Jetzt hat er schon alles erklärt in der ersten Antwort. Ich wollte Sie noch fragen, ob "Tatort" und Co. eigentlich auch zu Ihren sonntäglichen Ritualen gehört.
Hauschild: "Tatort" gehört bei mir dazu. Ich benutze das als Wissenschaftler ganz sicher …
von Billerbeck: Ah, guter Vorwand!
Hauschild: … um mehr über meine Gesellschaft zu erfahren, und gleichzeitig benutze ich das, um Spannungen abzubauen. Und das tun eben sehr, sehr viele Menschen. Das kann man auch in den USA sehen, wo Serien, die kriminologische Inhalte haben, ja mittlerweile das Objekt sind aller großen intellektuellen Bemühungen. Also man fragt sich immer, wo überhaupt noch in den USA geistiger Saft rein geht und viel Geld, ja, das sind die HBO-Serien wie "The Wire".
Man kann daran erkennen, dass die Menschen eigentlich nicht richtig glauben, was ihnen ständig gepredigt wird, nämlich, dass wir in einem globalisierten, unübersichtlichen Zeitalter leben, in der Postmoderne. Die Menschen wollen nicht in der Postmoderne leben, sondern sie arbeiten dagegen an und wollen dann wenigstens für einen Ort, für eine Leiche, für einen Bösewicht, für einen zwielichtigen Kommissar ganz genau wissen, was los ist. Und das ist richtig regional, lokal. Es gibt ja auch sehr viele regionale Krimis. Und es gibt eigentlich gar keinen Krimi, der vollkommen global ist, weil die Tat eben an einem ganz bestimmten Ort passiert, und da wird sie auch aufgeklärt.
von Billerbeck: Bleiben wir mal bei, bleiben wir mal hierzulande bei den "Tatorten" und Co., "Polizeiruf", Ermittler, Fahnder, et cetera. Der "Tatort", der steckte ja Mitte der 90er in einer heftigen Krise und galt als ziemlich spießig. Heute ist das ganz anders. Es gibt Freundeskreise, die sich zum "Tatort"- oder "Polizeiruf"-Gucken verabreden, und manche Menschen, die sollte man zwischen 20 Uhr 15 und 21 Uhr 40 am Sonntag nicht stören. Was ist denn heute anders?
"Die Leute suchen wieder Orientierung"
Hauschild: Die Menschen sind ein bisschen vorsichtiger geworden und wollen gerne gemeinsam Spannung abbauen, wollen bei irgendeiner Sache wenigstens noch richtig durchblicken, und das hat dann alle diese Methoden des Schick-Seins und des International-Seins und des Sich-Vernetzens hat das abgelöst so ein bisschen. Sodass diese lokalen Krimikreise entstanden sind und viele Menschen sich an Sendungen wie "Tatort" orientieren. Da wird ja nichts verkündet, da werden ja keine Heilslehren verkündet, aber man bekommt was raus. Und das wissen Menschen eben doch letztlich sehr zu schätzen. Das Zeitalter der Postmoderne ist ganz offensichtlich vorbei. Die Leute suchen wieder nach Orientierung.
von Billerbeck: Nun ist ja ein Teil der deutschen Krimiserien wie "Tatort" das Element der Serie. Und Sie haben auch gesagt, es gibt sehr viele lokale Bezüge. Wie wichtig ist das, dass es also immer wieder der gleiche Ermittler oder ein Ermittler-Duo ist – der Kommissar aus Münster mit dem Haschisch konsumierenden, Taxi fahrenden Vater und der Schnösel von Gerichtsmediziner. Geht es da eigentlich noch um den Kriminalfall?
Hauschild: Auch. Dieses Spannung-Abbauen über den Kriminalfall spielt eine Rolle, und zugleich entsteht ein Milieu, in dem man so ein bisschen mit lebt. Und das ersetzt vielleicht auch andere Milieus. Ich erkläre mir das so ein bisschen wie die Kochsendungen, die ganz viel von Leuten geschaut werden, die kaum noch kochen. Wir wollen gerne irgendwo zu Hause sein, wo es einigermaßen übersichtlich ist verläuft und wo wir auch Einfluss ausüben können. Was tun können, das spielt bei den Krimis meiner Ansicht nach auch eine große Rolle, dass man sich unterschwellig natürlich mit den Verbrechern identifiziert, die ja durch hektische Aktivität auffallen, die sich was aneignen und die richtig was hinbekommen und die auch teilweise unglaubliche Leistungen vollbringen.
Und dann kann man wieder springen und sich mit den Kommissaren, sofern noch richtig vorhanden, identifizieren und an der Aufklärung der Sache mitwirken. Und das ist alles ganz wunderbar lokal geregelt und da funktioniert was und am Ende sinkt der Spannungspegel dann natürlich auch, und dann kann man wieder ausmachen. Und dann lebt man wieder in so einer komischen postmodernen Blase, wo man Nachrichten aus Afghanistan, aus China bekommt und verunsichert wird durch irgendwelche Nachrichten über Finanzströme, von denen man keine Ahnung hat.
von Billerbeck: Funktioniert denn so ein Krimi auch, ich hatte gerade Münster erwähnt, also mit Axel Prahl und Jan-Josef Liefers, das ist ja oft sehr klamaukig – funktioniert denn so ein Krimi auch, wenn es tatsächlich Tote gibt, oder muss da gar kein Blut fließen?
Hauschild: Das muss nicht sein. Was sein muss, ist eben, es muss einen Plot geben. Es muss etwas gelöst werden. Und es muss eine Frage geben und eine Antwort. Das ist, was die Leute suchen, und das kann auf ironische Weise passieren wie bei "Mord mit Aussicht" oder in diesen Münsteraner Tatorten. Oder das kann ganz lebensnah an den Alltag ran gedreht sein wie in dem "Polizeiruf 110" gestern, der ja durch eine ganz spezielle Machart auch aufgefallen ist. Dass Nebengeräusche nicht unterdrückt wurden und man das Gefühl hatte, man sitzt da praktisch unterm Tisch im Polizeikommissariat. Da gibt es ganz unterschiedliche Varianten, die einen mehr oder weniger packen, mehr oder weniger wieder distanzieren. Die scheinen alle ganz wichtig zu sein, deswegen wechseln die sich auch ab und werden in großer Vielfalt angeboten. Und im Verlauf der Serien werden da auch ganz unterschiedliche Töne dann angeschlagen.
von Billerbeck: Es ist also nicht entscheidend, dass wir den guten Schluss am Ende haben?
von Billerbeck: Nun ist ja ein Teil der deutschen Krimiserien wie "Tatort" das Element der Serie. Und Sie haben auch gesagt, es gibt sehr viele lokale Bezüge. Wie wichtig ist das, dass es also immer wieder der gleiche Ermittler oder ein Ermittler-Duo ist – der Kommissar aus Münster mit dem Haschisch konsumierenden, Taxi fahrenden Vater und der Schnösel von Gerichtsmediziner. Geht es da eigentlich noch um den Kriminalfall?
Hauschild: Auch. Dieses Spannung-Abbauen über den Kriminalfall spielt eine Rolle, und zugleich entsteht ein Milieu, in dem man so ein bisschen mit lebt. Und das ersetzt vielleicht auch andere Milieus. Ich erkläre mir das so ein bisschen wie die Kochsendungen, die ganz viel von Leuten geschaut werden, die kaum noch kochen. Wir wollen gerne irgendwo zu Hause sein, wo es einigermaßen übersichtlich ist verläuft und wo wir auch Einfluss ausüben können. Was tun können, das spielt bei den Krimis meiner Ansicht nach auch eine große Rolle, dass man sich unterschwellig natürlich mit den Verbrechern identifiziert, die ja durch hektische Aktivität auffallen, die sich was aneignen und die richtig was hinbekommen und die auch teilweise unglaubliche Leistungen vollbringen.
Und dann kann man wieder springen und sich mit den Kommissaren, sofern noch richtig vorhanden, identifizieren und an der Aufklärung der Sache mitwirken. Und das ist alles ganz wunderbar lokal geregelt und da funktioniert was und am Ende sinkt der Spannungspegel dann natürlich auch, und dann kann man wieder ausmachen. Und dann lebt man wieder in so einer komischen postmodernen Blase, wo man Nachrichten aus Afghanistan, aus China bekommt und verunsichert wird durch irgendwelche Nachrichten über Finanzströme, von denen man keine Ahnung hat.
von Billerbeck: Funktioniert denn so ein Krimi auch, ich hatte gerade Münster erwähnt, also mit Axel Prahl und Jan-Josef Liefers, das ist ja oft sehr klamaukig – funktioniert denn so ein Krimi auch, wenn es tatsächlich Tote gibt, oder muss da gar kein Blut fließen?
Hauschild: Das muss nicht sein. Was sein muss, ist eben, es muss einen Plot geben. Es muss etwas gelöst werden. Und es muss eine Frage geben und eine Antwort. Das ist, was die Leute suchen, und das kann auf ironische Weise passieren wie bei "Mord mit Aussicht" oder in diesen Münsteraner Tatorten. Oder das kann ganz lebensnah an den Alltag ran gedreht sein wie in dem "Polizeiruf 110" gestern, der ja durch eine ganz spezielle Machart auch aufgefallen ist. Dass Nebengeräusche nicht unterdrückt wurden und man das Gefühl hatte, man sitzt da praktisch unterm Tisch im Polizeikommissariat. Da gibt es ganz unterschiedliche Varianten, die einen mehr oder weniger packen, mehr oder weniger wieder distanzieren. Die scheinen alle ganz wichtig zu sein, deswegen wechseln die sich auch ab und werden in großer Vielfalt angeboten. Und im Verlauf der Serien werden da auch ganz unterschiedliche Töne dann angeschlagen.
von Billerbeck: Es ist also nicht entscheidend, dass wir den guten Schluss am Ende haben?
"Belehrt, aber auch angewidert"
Hauschild: Na, den guten Schluss müssen Sie nicht haben, aber sie müssen einen Schluss haben. Es muss irgendwie aufhören. Und das folgt einfach den klassischen Regeln jeder literarischen Form und jedes Theaterstücks. Das sind die uralten Regeln, wie sie schon Aristoteles in seinem Gespräch über die Katharsis rausbekommen hat, nämlich dass erst Spannung aufgebaut wird, ein großes Fragezeichen, dann muss eine Antwort kommen. Und da muss vielleicht auch irgendeine Art von Moral kommen. Viele Leute mögen das ja, wenn zum Beispiel reiche Leute dann als besonders verwerflich erscheinen, letztendlich sehr hinterhältig, oder manche werfen auch gerne einen Blick in das Rotlichtmilieu und wenden sich dann belehrt, aber auch doch wieder angewidert ab – also, da gibt es ganz viele Spielzüge, die man machen kann in diesen Fällen.
Deswegen ist das Genre des Krimis auch meiner Ansicht nach gesellschaftlich so zentral geworden. In einer Gesellschaft, die Aggressionen zunehmend immer stärker kontrolliert und dämmt und die auch ganz viele Befriedigungen anbietet für Leute, die unruhig sind. In diesem Rahmen hat der Krimi so eine sehr vielfältige Rolle, wo man hin und her gehen kann, böse sein kann, gut sein kann, die Sache aufklären wollen, die Sache verheimlichen wollen.
von Billerbeck: 37 Prozent des deutschen Fernsehkonsums sind Krimis. Ich glaube, die zehn meistgesehenen Sendungen, mal abgesehen von der Champions League beim Fußball, das waren "Tatorte". Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann ist das so eine Art, Aggressionen abzubauen, die ich ansonsten noch im Fußballstadion abbauen kann oder – wo?
Hauschild: Zur Not eben, indem man auch mal tagträumt oder Gewaltfantasien hat in bestimmten Momenten, aggressive Witze erzählt. Also die Krimis und die Fußballkrimis, die setzen ja nur so Alltagspraktiken fort, bei denen Aggression spielerisch verarbeitet wird. Also ich hab mal Feldforschung gemacht in Andalusien bei sehr armen Leuten, bei sogenannten Zigeunern, die Aggression ständig abbauen, indem sie im Alltag, bei Konflikten in diesen Flamenco-Modus verfallen und anfangen zu klatschen und so ein Stegreifliedchen über ihren Konflikt zu singen. Das würde auch gehen.
Oder die ganze Rap-Szene lebt letztlich noch davon, dass es eine riesige mündliche Tradition gibt und Verhaltenstradition, wo Spannung in Jugendgruppen in den USA und vorher auch am Ursprung des Rap und all dieser Dinge, in der afrikanischen Musik, wo Spannungen direkt abgebaut werden, indem man ein bisschen tanzt und singt. Also das wäre auch denkbar, aber die Krimis, die haben da so eine niedertourige Lösung zu bieten, bei der man ganz ruhig vorm Fernseher sitzen, nichts mehr machen muss und auch nichts mehr können muss und nur noch gerade mal mitkriegen muss, wie der Plot verläuft.
von Billerbeck: Aber manche Krimis sind ja doch schon so, dass sie Gewalt auch explizit zeigen. Da hat es also eine Erhöhung und eine Verstärkung gegeben. Und der ARD-Vorsitzende Lutz Marmor hat jüngst gesagt im "Spiegel", es gäbe möglicherweise die Gefahr, dass wir den Bogen überspannen. Gibt es denn so was wie ein "zu viel" aus Sicht der Zuschauer, oder, anders gefragt, wo liegt die Schmerzgrenze?
Deswegen ist das Genre des Krimis auch meiner Ansicht nach gesellschaftlich so zentral geworden. In einer Gesellschaft, die Aggressionen zunehmend immer stärker kontrolliert und dämmt und die auch ganz viele Befriedigungen anbietet für Leute, die unruhig sind. In diesem Rahmen hat der Krimi so eine sehr vielfältige Rolle, wo man hin und her gehen kann, böse sein kann, gut sein kann, die Sache aufklären wollen, die Sache verheimlichen wollen.
von Billerbeck: 37 Prozent des deutschen Fernsehkonsums sind Krimis. Ich glaube, die zehn meistgesehenen Sendungen, mal abgesehen von der Champions League beim Fußball, das waren "Tatorte". Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann ist das so eine Art, Aggressionen abzubauen, die ich ansonsten noch im Fußballstadion abbauen kann oder – wo?
Hauschild: Zur Not eben, indem man auch mal tagträumt oder Gewaltfantasien hat in bestimmten Momenten, aggressive Witze erzählt. Also die Krimis und die Fußballkrimis, die setzen ja nur so Alltagspraktiken fort, bei denen Aggression spielerisch verarbeitet wird. Also ich hab mal Feldforschung gemacht in Andalusien bei sehr armen Leuten, bei sogenannten Zigeunern, die Aggression ständig abbauen, indem sie im Alltag, bei Konflikten in diesen Flamenco-Modus verfallen und anfangen zu klatschen und so ein Stegreifliedchen über ihren Konflikt zu singen. Das würde auch gehen.
Oder die ganze Rap-Szene lebt letztlich noch davon, dass es eine riesige mündliche Tradition gibt und Verhaltenstradition, wo Spannung in Jugendgruppen in den USA und vorher auch am Ursprung des Rap und all dieser Dinge, in der afrikanischen Musik, wo Spannungen direkt abgebaut werden, indem man ein bisschen tanzt und singt. Also das wäre auch denkbar, aber die Krimis, die haben da so eine niedertourige Lösung zu bieten, bei der man ganz ruhig vorm Fernseher sitzen, nichts mehr machen muss und auch nichts mehr können muss und nur noch gerade mal mitkriegen muss, wie der Plot verläuft.
von Billerbeck: Aber manche Krimis sind ja doch schon so, dass sie Gewalt auch explizit zeigen. Da hat es also eine Erhöhung und eine Verstärkung gegeben. Und der ARD-Vorsitzende Lutz Marmor hat jüngst gesagt im "Spiegel", es gäbe möglicherweise die Gefahr, dass wir den Bogen überspannen. Gibt es denn so was wie ein "zu viel" aus Sicht der Zuschauer, oder, anders gefragt, wo liegt die Schmerzgrenze?
"Rituale des Spannungsabbaus haben ein Doppelgesicht"
Hauschild: Also, aus Sicht der Zuschauer weiß ich nicht, da bin ich immer wieder überrascht, was da alles geboten wird. Ich hab als Jugendlicher sehr viel Gewalterfahrung machen müssen und bin deswegen da gar nicht so geneigt, mir diese Sachen alle anzugucken. Aber für sehr harmlos groß gewordene und ein bürgerliches Leben führende Zuschauer scheint das eine ganz normale Sache zu sein, sich die ungeheuerlichsten Gewalttaten anzusehen mittlerweile. Ich sehe das auch so, dass diese Rituale des Spannungsabbaus, die wir hier haben, diese niedertourigen Rituale über die Medien, dass die natürlich auch ein Doppelgesicht haben.
Das heißt, wenn der Gewaltpegel unterschwellig oder der Aggressionspegel in der Bevölkerung steigt, dann werden die immer wichtiger, und irgendwann kippt das auch um. Und dann können auch solche Szenen und solche Medienerlebnisse zum Auslöser werden für Gewalt. Da sind wir aber im Moment noch weit entfernt, anscheinend. Aber wenn die äußere Spannung sehr steigt, Arbeitslosigkeit und diese Dinge, dann könnte man sich vorstellen, dass das dann irgendwann entartet, und dann sucht man nach Vorbildern, wenn man Gewalt ausüben will und muss, und das kann man an der Geschichte Deutschlands in den späten 20er-, frühen 30er-Jahren gut sehen, als dann große Teile der jungen männlichen Bevölkerung mit Knüppeln und Messern aufeinander losgegangen sind und mit Pistolen. Und das Ganze mündete dann in der Gewaltdiktatur des Nationalsozialismus.
Ich will jetzt hier nicht behaupten, dass Krimis faschistisch wären oder Nationalsozialismus oder Ähnliches hervorbringen können oder eine Diktatur, aber man kann da sehr sensitiv, funktionieren die im Kern der Gesellschaft und sie sind ein Anzeiger des Gewaltpegels und sie beruhigen den Gewaltpegel so ein bisschen, und das Ganze, das kann auch sofort sich in andere Dimensionen verschieben, wenn sich die äußeren Faktoren verändern.
von Billerbeck: Das sagt der Hallenser Ethnologe Thomas Hauschild. Danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Das heißt, wenn der Gewaltpegel unterschwellig oder der Aggressionspegel in der Bevölkerung steigt, dann werden die immer wichtiger, und irgendwann kippt das auch um. Und dann können auch solche Szenen und solche Medienerlebnisse zum Auslöser werden für Gewalt. Da sind wir aber im Moment noch weit entfernt, anscheinend. Aber wenn die äußere Spannung sehr steigt, Arbeitslosigkeit und diese Dinge, dann könnte man sich vorstellen, dass das dann irgendwann entartet, und dann sucht man nach Vorbildern, wenn man Gewalt ausüben will und muss, und das kann man an der Geschichte Deutschlands in den späten 20er-, frühen 30er-Jahren gut sehen, als dann große Teile der jungen männlichen Bevölkerung mit Knüppeln und Messern aufeinander losgegangen sind und mit Pistolen. Und das Ganze mündete dann in der Gewaltdiktatur des Nationalsozialismus.
Ich will jetzt hier nicht behaupten, dass Krimis faschistisch wären oder Nationalsozialismus oder Ähnliches hervorbringen können oder eine Diktatur, aber man kann da sehr sensitiv, funktionieren die im Kern der Gesellschaft und sie sind ein Anzeiger des Gewaltpegels und sie beruhigen den Gewaltpegel so ein bisschen, und das Ganze, das kann auch sofort sich in andere Dimensionen verschieben, wenn sich die äußeren Faktoren verändern.
von Billerbeck: Das sagt der Hallenser Ethnologe Thomas Hauschild. Danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.