"Wir kochen bei jeder Aufführung für 500 Leute"
Der libanesische Choreograf Omar Rajeh ist beim Hamburger Festival "Theater der Welt" mit seiner Performance "Beytna" zu Gast. In seiner Heimat hat er den zeitgenössischen Tanz etabliert - unter anderem mit einem Tanzfestival in Beirut, das er gemeinsam mit seiner Frau Mia Habis veranstaltet.
Susanne Burkhardt: Tanz ist ja vielleicht die Kunstform, die sich am stärksten internationalisieren lässt, weil es eben eine gemeinsame Sprache gibt, nämlich die des Körpers und eben nicht diese Sprachbarriere, die es in vielen anderen eine Rolle spielt, dazwischen steht. Wenn Sie jetzt Ihre Erfahrungen in Deutschland – in Kooperation mit anderen Künstlern von dort – und Ihrer Arbeit hier mit arabischen Künstlern auch: Gibt es so etwas wie eine eigene Tanzsprache, die man geografisch verorten könnte?
Omar Rajeh: Definitiv. Es gibt eine gewisse Abstraktion im Tanz, die ihn den Menschen vielleicht leichter zugänglich macht. Es ist einfacher, sich Bewegungen anzusehen, als Worte zu hören oder zu versuchen diese zu verstehen. Die Abstraktion lässt mehr Raum für Vorstellungskraft und Inspiration.
Andererseits glaube ich auch, dass der Tanzperformance eine Logik der Konstruktion innewohnt – darüber, wie man Dinge zusammensetzt und was die Ordnung der Dinge ausmacht. Und diese Logik steht in engem Bezug zum Individuum oder zu der jeweiligen Künstlergruppe. Sie wird von der kulturellen Umgebung beeinflusst, in der man lebt, dem Alltag des Künstlers oder der Gruppe. Das ist meiner Ansicht nach die Schönheit der Kunst, dass sie so sehr im Bezug zu ihrer kulturellen Umgebung steht.
Egal ob eine Tanz-Performance aus Deutschland oder aus dem Libanon oder sonstwo herkommt, interessiert mich dahinter zu blicken, zu schauen, wie sie konstruiert ist. Das ist es, was die Einzigartigkeit ausmacht. Tanz kann auch eine Schöpfung sein – etwas, das zum ersten Mal stattfindet. Man kann auch einen Tanz entwerfen, der wie etwas anderes aussieht, das es schon gibt, aber dann ist es keine Schöpfung, sondern eine Kopie. Das ist wichtig bei der Arbeit der Künstler, wenn sie etwas erschaffen, welche Logik, welches Denken, welche Wahrnehmung hinter einer Inszenierung steckt.
Burkhardt: Und wenn Sie sagen, dass natürlich die Kultur, in der man aufgewachsen ist, eine Rolle spielt – auch natürlich für das Körpergefühl, dafür wie man Dinge wahrnimmt, wie man Dinge ausdrückt vielleicht. Welche Rolle spielt dann die aktuelle Situation, in der man im Libanon ja lebt – umgeben von einem Land, in dem gerade Krieg herrscht – eine Erfahrung, die die Libanesen durch die lange Zeit des Bürgerkriegs auch gemacht haben. Die vielen Flüchtlinge, die in das Land gekommen sind. In welcher Form spielt das in Ihre Arbeit hinein?
Mia Habis: Ich denke nicht, dass unsere Arbeit sich um diese Thematik drehen muss, weil wir aus dieser Region kommen. Es gibt viele Künstler im zeitgenössischen Tanz, die Arbeiten präsentieren, die irgendwie schon einen Bezug zu gesellschaftlichen Thematiken haben, diese aber nicht direkt aufzeigen.
"Schöne Dinge, die gar nichts bedeuten"
Rajeh: Ich möchte dem noch hinzufügen, um auf die Struktur zurückzukommen: Was in meinem Fall starken Einfluss hatte, auch wenn man es vielleicht nicht immer so sieht, ist die Idee der Dringlichkeit, auch die Idee praktisch zu handeln. Vielleicht kommt das ja noch aus meiner Kindheit, aus der Zeit des Krieges – der Wunsch bei allem sehr präzise zu sein. Krieg und Alltag können das Denken beeinflussen, und auch wie wir mit einer Tanz-Performance umgehen, was dabei das Wichtigste ist, das auf die Bühne gehört.
Wenn es um Leben und Tod geht, denkt man manchmal auch: Was ist jetzt das Wichtigste? Da gibt es schöne Dinge, die aber vielleicht nicht wichtig sind und an entscheidenden Momenten gar nichts bedeuten. Was ich tue, muss grundlegend sein – nicht dekorierend, nicht exhibitionistisch.
Was ich auch interessant finde und worüber wir bei den Proben viel sprechen, ist: Dass wir, dadurch, dass wir hier leben, einen Reichtum mitbekommen, der sich auf das, was wir tun, auswirkt. Wenn wir künstlerische Arbeit machen, müssen wir aufpassen, dass unser Alltag sich nicht zu sehr in den Vordergrund drängelt. Die künstlerische Struktur und das künstlerische Statement haben also Priorität, werden aber davon beeinflusst, wo wir leben und wie wir leben.
Burkhardt: Wie drückt sich das in dem Stück aus, das Sie beim Theater der Welt zeigen?
Rajeh: Dieses Stück heißt "Beytna" – das heißt übersetzt "unser Zuhause" und basiert auf dem libanesischen Sonntagsessen. Das ist auch etwas aus meiner Kindheit, als wir jeden Sonntag mit der ganzen Familie, mit 40 Leuten, morgens zum Haus meines Großvaters gingen, dort kochten und dann fünf bis sechs Stunden zusammen aßen, sangen und spielten, diskutierten manchmal auch stritten bis ungefähr sechs Uhr abends. Ich wollte diese Form des Zusammentreffens in ein künstlerisches Zusammentreffen übertragen und habe drei weitere Choreographen eingeladen.
Wir haben an dieser Idee des Zusammenkommens, Teilens und gemeinsamen Kochens gearbeitet, der Idee gemeinsam etwas zu erschaffen, was auch eine Performance sein kann, mit dem Trio Joubran und mit meiner Mutter auf der Bühne. Wir kochen alle zusammen auf der Bühne und wir bereiten ein Gericht für das Publikum zu. Am Ende teilen sie mit uns dieses Essen, aber wir machen trotzdem mit der Performance weiter. Das Konzept des Teilens und Zusammenkommens war die Grundlage dieser Performance, gleichzeitig aber auch die Idee der Unterschiedlichkeit. So unterschiedlich wir sind, kommen wir doch in diesem Prozess des gemeinsamen Erschaffens zusammen und bringen es auf die Bühne, auf die schließlich auch das Publikum kommt, während wir mit ihnen zusammen dieses Kunstwerk spontan weiter formen. Diese Performance endet also jedes Mal anders, das hängt auch von der jeweiligen Beteiligung des Publikums ab, davon wie die Leute mit diesen letzten 15 Minuten umgehen und in die Performance eingreifen.
Burkhardt: Was war die überraschendste Erfahrung bei den bisher gezeigten Performances?
"Riesenapplaus für Mama, Musiker und Tänzer"
Hablis: Ich weiß nicht genau, es ist jedes Mal anders. Normalerweise isst die Crew immer nach der Performance, wir kochen ja bei jeder Aufführung für 500 Leute. In Italien zum Beispiel ist nichts mehr in den Pfannen und Töpfen geblieben, es war alles alle, kein Stückchen Brot mehr, nichts. Dort gab es einen Riesenapplaus, vielleicht noch mehr für die Mama auf der Bühne als für die Musiker und Tänzer, das war schon etwas Besonderes in Italien. Hier im Libanon ist es auch sehr schön, wir treffen das Publikum ja direkt. Omar versucht nicht, dem Publikum irgendetwas aufzuzwingen – man muss nicht mitmachen. Es steht einem frei, ob man auf die Bühne gehen möchte, sich dort hinzusetzen oder zu stellen und sich so in die Performance einzubringen. In Beirut haben die Leute alles kommentiert, wie wir Libanesen das immer machen. In Wien dagegen kamen die Leute nur kurz auf die Bühne und sind dann alle zu ihren Sitzen zurückgekehrt, da war die Bühne am Ende leer.
Rajeh: Es sehr interessant zu sehen, wie an den verschiedenen Orten das Publikum unterschiedlich reagiert, ob sie sich mehr am Rand halten, zu ihren Sitzen zurückgehen oder auf der Bühne bleiben. Ich glaube, das Wichtigste, was wir mit dieser Produktion bereits bei den Proben gelernt haben, ist den anderen ihren Raum zu geben. Es ist eine Gruppenarbeit und oft denken wir: Ja wir verstehen uns.
Aber wenn es darum geht, was auf die Bühne soll, was uns jeweils repräsentiert, dann denken wir plötzlich: Nein, das bin nicht ich - wie kann ich akzeptieren, dass das da passiert? Da zeigt sich das Konzept des Akzeptierens, des Machen-Lassens, sich gegenseitig Raum zu geben, den anderen zu erlauben, Entscheidungen zu treffen und zu existieren, sich entspannen zu können und sich zu sagen: Ich hatte meinen Moment, an dem ich gesagt habe, wir müssen das so und so machen, und jetzt muss ich akzeptieren, was andere machen. Das war bei den Proben sehr wichtig.
Hablis: Was bedeutet es wirklich, den anderen zu akzeptieren und ihm Raum zu geben? Denn manchmal denken wir: Ja, wir sind sehr offen. Aber in realen Lebenssituationen merkt man oft, dass man vielleicht doch ein bisschen verschlossener ist, als man dachte. Es ist also sehr interessant, wenn der Prozess der Performance ein Lebensprozess wird.
Rajeh: Bei der Performance ist das so, als ob jemand zu mir nach Hause kommt und dort Dinge umräumt und ich das akzeptieren muss. Wir müssen unseren Geist trainieren, zu akzeptieren und zu realisieren, dass wir zum Beispiel in der Performance versuchen etwas Gemeinsames zu schaffen, eine Welt zu entwerfen und akzeptieren müssen, dass wir uns in diesem Raum befinden. Wir können das nicht ignorieren. Manchmal streiten wir uns oder mögen manche Dinge nicht. Aber am Ende steht die Performance und diese Performance müssen wir hinkriegen, egal wie, das ist ein bisschen wie das Leben selber.
"Unser künstlerischer Weg und unser Lebensweg sind eng verknüpft"
Burkhardt: Hat das denn das Alltagsleben auch verändert?
Hablis: Es hat auf jeden Fall einiges verändert. Das Thema des Unmöglichen steht ganz groß in unserem Leben, weil wir immer wieder das Unmögliche möglich machen müssen. Unmöglich oder möglich ist in unserem Leben zu einer Frage der Perspektive geworden. Ich erinnere mich an sehr schwierige Momente, die Omar und ich durchlebt haben, an denen wir uns sagten, wenn wir es schaffen mit "Beytna" klarzukommen, dann kriegen wir alles hin.
Aber das Schöne an dem, was wir machen, ist, dass es sehr organisch, sehr lebendig ist, seit vielen Jahren schon. Unser künstlerischer Weg ist eng verknüpft mit unserem persönlichen Lebensweg. Was wir mit den Performances tun, verändert uns, es findet auch beim Publikum einen Wiederhall. Was Omar als Choreograph macht ist nicht nur Choreographie, es geht auch um eine Lebensweise, eine Sicht des Lebens, um Fragen, die im Leben auftauchen. Und bei allem, was wir tun, liegt, so glaube ich, die Priorität in der Erfahrung. Sie hält uns am Leben.
Wir arbeiten von morgens bis abends, bis in die Nacht, und wenn uns eine Erfahrung nicht interessiert, machen wir etwas anderes, etwas, das uns lebendig werden lässt. Ich hoffe, dass wir das weitermachen werden, dass wir nicht einfach nur da sind, etwas zeigen und die Leute kommen und gehen und nichts ist passiert.