Iryna Herasimovich wurde 1978 in Minsk/Belarus geboren und ist als freie Übersetzerin, Kulturmanagerin und Kuratorin in Minsk tätig. Sie übersetzte ins Belarussische unter anderem Werke von Ilma Rakusa, Brigitte Schär, Monika Rinck und anderen deutschsprachigen Autorinnen und Autoren. Als Kulturmanagerin konzipiert und veranstaltet sie Projekte in den Bereichen Theater, Literatur und Bildende Kunst. (ostpol.de)
"Das System ist bereits auseinandergefallen"
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Die "fast heimliche" Vereidigung Alexander Lukaschenkos habe die Protestbewegung eher gestärkt, meint die Minsker Kulturmanagerin Iryna Herasimovich. Es sei ein deutliches Zeichen dafür, dass sich der belarussische Machthaber nicht mehr sicher fühle.
Nach der Amtseinführung des umstrittenen Staatschefs Alexander Lukaschenko in Belarus haben die Behörden mit Gewalt auf erneute regierungskritische Proteste reagiert. Lukaschenko hatte sich ohne vorherige Ankündigung zum sechsten Mal in dem Amt vereidigen lassen. Die Bevölkerung bekam erst etwas von dem Staatsakt mit, als in Minsk die großen Straßen gesperrt wurden.
Für Iryna Herasimovich, Übersetzerin, Kulturmanagerin und Kuratorin aus Belarus, bedeutet dieser geheime Staatsakt jedoch nicht, dass die Widerstandbewegung geschwächt ist: "Im Gegenteil. Ich würde sagen, dass die Widerstandsbewegung sich eher gestärkt fühlt - dadurch, wie diese Amtseinführung stattfand, und zwar fast heimlich, so versteckt."
Lukaschenko fühlt sich nicht mehr sicher
Es sei noch klarer geworden, dass "das, was von der Protestbewegung verlangt wird, auch bei der Gegenseite ankommt", und es sei ein "deutliches Zeichen" dafür gewesen, dass Lukaschenko sich selbst nicht sicher fühle. Sie habe auch beobachtet, so Herasimovich, dass viele "fast belustigt" waren von der Art und Weise der Amtseinführung.
Wenn man sich die Protestbewegung genauer anschaue, "diesen Karneval-Charakter, wie die Macht ausgelacht wird, wie die Macht überhaupt nicht mehr ernst genommen wird", dann werde auch immer klarer, dass die Gesellschaft und der Staat sich komplett auseinandergelebt haben. "Ich würde schon fast behaupten, dass das System bereits auseinandergefallen ist", sagt die Kulturmanagerin, "womit wir es jetzt zu tun haben, sind eher die Folgen dieses Zusammenbruchs." Jedem sei klar: "So wie es war, kann es nicht weitergehen."
Die nach wie vor brutale Gewalt, die gegen die Protestierenden eingesetzt werde, sei beängstigend, und Herasimovich befürchtet, es könne noch schlimmer kommen: "Wir wissen alle, dass die Rückzugskämpfe die schlimmsten sind normalerweise. Und da habe ich große Angst um mich selber und auch um meine Freunde, um alle Belarussen."
Proteste auf der Straße und im Alltag
Aber es gebe auch "Hoffnung auf die natürliche Entwicklung der Dinge, auf den natürlichen Lauf der Dinge." Und da sei schon klar, dass dieses System nicht mehr lebendig sei. "Das ist ein Kampf der Lebenden gegen die Toten."
Die Proteste der "Lebenden" seien "extrem wichtig". Nicht nur auf der Straße, sondern auch im Alltag: "Zum Beispiel, wo man einkaufen geht, dass man Geschäfte ausschließt, die das Regime unterstützen, oder Restaurants, die die Protestierenden nicht reingelassen haben und so weiter." Es sei eine "enorme Stärkung der Zivilgesellschaft" zu beobachten. "Ich glaube, die Gesellschaft reift jetzt. Es ist eine sehr lebendige Energie - trotz der ganzen Angst und Unterdrückung."
Intellektuelle finden Gehör
Intellektuelle, die sich heute zu den Ereignissen äußerten, seien im Gegensatz zu früher nun interessant für den Rest der Gesellschaft: "Heute hört man auf sie und man sucht die Worte von Schriftstellern zum Beispiel aus, um auch eigene Eindrücke zu beschreiben. Die Kulturschaffenden in Belarus, die waren noch nie so sehr Teil der Gesellschaft wie jetzt."
(kpa)