Stimmen einer Revolution
22:43 Minuten
Noch ist nicht klar, wie der Machtkampf in Belarus ausgehen wird. Und die, die auf die Straße gehen, haben auch Angst. Unsere Autorin kennt einige der Demonstrierenden und führt seit der Präsidentschaftswahl Anfang August Gespräche mit ihnen.
Anja kenne ich von meinem ersten Besuch in Minsk 2015. Sie ist selbständige Designerin und verkauft selbstbestickte Taschen. Ihr Freund ist Fotograf – er ist zurzeit unermüdlich in den Straßen von Minsk unterwegs, wo er sich jedes Mal in Gefahr begibt. Mit Anja habe ich schon viele Abende in Punkclubs und alternativen Kunstgalerien verbracht. Trotz der immer drohenden Repressionen gibt es eine blühende Undergroundkultur in Belarus. Ich erreiche Anja vier Tage nach den Wahlen, in ihrer Wohnung in Minsk.
"Wie geht es dir?"
"Wie es mir geht? Wenn wir Freunde treffen, fragen wir nur noch nach der physischen Gesundheit, weil die Psyche bei allen sehr schlecht ist. Ich bin sicher, dass sehr viele Menschen durch das, was gerade passiert, traumatisiert worden sind. Um das zu verarbeiten, werden wir viel Zeit brauchen. Ich fürchte sogar, einige Jahre. Es ist sehr schwer, bei dieser Flut an Informationen Kraft zu tanken und Ruhe zu bewahren. Die Sorge nimmt sehr viel Raum ein, ich nehme Beruhigungsmittel. Ohne sie komme ich grade nicht klar.
Das Einzige, was wir jetzt machen können, ist, uns gegenseitig zu fragen, wie es uns geht, und darüber zu reden, was passiert. Ich bleibe zu Hause, weil ich mich da sicher fühle, aber ich rede viel mit Leuten und versuche, ihnen psychologisch zu helfen. Aber das befreit mich nicht von meinen Schuldgefühlen, dass ich zu Hause sitze."
"Hast du irgendeine Hoffnung, was jetzt passieren kann? Oder denkst du darüber gar nicht nach?"
Es kann sich total ändern – oder noch schlimmer werden
"Ich habe zwei Gedanken: Alles kann sich total ändern, ein komplett anderes Land und ein Neuanfang. Oder es kann viel schlimmer als vorher werden. Wenn sich nichts ändert, wenn wir das Regime nicht stürzen, dann erwarten uns Repressionen, die noch viel schlimmer sein werden als früher."
Während Anja zu Hause bleibt, versammeln sich in jeder belarussischen Stadt Tausende Menschen auf den Straßen. Sie schwenken die weiß-rot-weiße Flagge, ein Symbol des Widerstands, das unter Lukaschenko verboten war. Weil die Männer so brutal festgenommen werden, organisieren Frauen die Demos, in denen sie mit Blumen auf der Straße stehen, als friedliches Zeichen gegen die Gewalt. Arbeiter und Arbeitnehmerinnen im ganzen Land beginnen zu streiken. Sie fordern die sofortige Freilassung der Gefangenen, demokratische Neuwahlen und ein Ende der Gewalt.
Ich rufe Marina an, die Mutter eines guten Freundes. Vor zwei Jahren saß ich noch bei ihr im Wohnzimmer und habe Tee getrunken und Kekse gegessen. Nach 38 Jahren Arbeit in einem staatlichen Betrieb ist Marina vor Kurzem in Rente gegangen. Jetzt geht sie mit den anderen Protestierenden auf die Straße. Ich erreiche sie in einem Café in Minsk.
Hupkonzert auf den Straßen von Minsk
"Hallo Judith, sorry, dass ich mit Ihnen unter diesen Umständen spreche, aber ich kann einfach nicht von hier weggehen. Ich sitze im Café, ganz in der Ecke, und trotzdem hört man es: Die ganze Stadt dröhnt von den Hupen der Autos. Ich mach jetzt mal die Tür auf, damit Sie es hören. Hören Sie?"
"Was haben Sie heute auf der Straße gesehen?"
"Ich habe heute auf der Straße Schönheit gesehen. So eine Schönheit, wie sie es wahrscheinlich nirgendwo auf der Welt gibt. So schöne Frauen, so viele Blumen. Männer verteilen Rosen. Alle lächeln, alle umarmen sich, alle reden miteinander. So eine Einheit, man könnte auch Brüderlichkeit sagen. Wir haben verstanden, dass wir alle eine Familie sind.
"Ich habe heute auf der Straße Schönheit gesehen. So eine Schönheit, wie sie es wahrscheinlich nirgendwo auf der Welt gibt. So schöne Frauen, so viele Blumen. Männer verteilen Rosen. Alle lächeln, alle umarmen sich, alle reden miteinander. So eine Einheit, man könnte auch Brüderlichkeit sagen. Wir haben verstanden, dass wir alle eine Familie sind.
Ich habe die Frauen auf der Straße gefragt, was ich Ihnen im Interview sagen soll. Und alle Frauen sagten einstimmig: Jetzt müssen wir den Weg bis zum Ende gehen, umkehren können wir nicht. Wir können nur noch nach vorne gehen. Ich finde, die ganze Welt sollte das sehen und wissen und von uns begeistert sein. Und jeder hilft von seinem Platz aus. Ich bin Rentnerin, ich bin schon den zweiten Tag hier draußen, ich winke, ich rufe. Jeder macht das, was er kann. Und keine Angst haben, im Leben sollte man keine Angst haben.
Wir warten sehr darauf, dass wir mehr weltweite Unterstützung bekommen. Wir machen alles, was wir tun können, wir wissen nicht, wie es weitergeht. Aber es hängt nicht nur von uns ab. Es hängt von unserer Regierung ab, und Sie wissen, wie unsere Regierung ist. Je länger sie schweigen, desto klarer ist, dass sie Verbrecher sind. Es gibt kein anderes Wort. Sie unterstützen die Gewalt."
Das war am 13. August. Eine Woche später schreibt mir Marina, als ich sie frage, wie es ihr geht:
Angst, Zuversicht und Hilflosigkeit
"Ich fühle endlosen Schmerz für die verkrüppelten und getöteten Menschen, Unfähigkeit, das zu beeinflussen, Gebete und den Wunsch, alles wieder in Ordnung zu bringen. Das Warten auf Nachrichten, als kämen sie von der Front, Stolz und durchdringende Angst, Zuversicht und Hilflosigkeit. All das fühle ich und auch alle anderen hier."
Die queerfeministische Punkband "Messed Up" aus Grodno singt in ihrem Song "Schrei lauter":
"Hier gab es für lange Zeit keine Redefreiheit.
Wage es nicht einmal darüber nachzudenken.
Wir ertrinken in Lügen, wieder und wieder.
Aber unsere Herzen schlagen zusammen stärker.
Während du jung bist, glaube den Provokationen nicht
stehe nicht untätig daneben.
während du jung bist, schreie lauter.
Vergiss deine Ängste und halte deine Fäuste geschlossen."
Pascha kenne ich nicht persönlich. Den Kontakt vermittelt mir eine Freundin. Pascha ist 30 Jahre alt, wie ich, und Techniker von Beruf. Zwei Tage nach der Wahl fahren er und seine Freundin Polina in die Stadt, um ein paar Erledigungen zu machen. Sie werden von der Verkehrspolizei grundlos angehalten, Pascha soll aussteigen.
Als Pascha sich weigert, schlägt der Polizist ihm ins Gesicht, zieht ihn aus dem Auto und schlägt ihm mehrere Male mit einem Schlagstock auf den Kopf. Dann wird er mitgenommen, seine Freundin Polina bleibt alleine auf der Straße zurück. Zwei Tage verbringt Pascha im Gefängnis, erst in der Polizeistation Sovjetskaja, dann im Gefängnis Akrestina. Polina weiß die ganze Zeit nicht, wo er ist. Ich rufe ihn einen Tag nach seiner Freilassung an.
"Wie ist dein Zustand?"
"Mich hat es weniger getroffen als andere. Mein Zustand ist im Ganzen okay, mir tun der Nierenbereich, die Beine und der Kopf weh, wegen der Schläge. Aber im Vergleich mit den Sachen, die wir jetzt in den Sozialen Medien sehen, ist es bei mir weniger ernst als bei anderen. Ich bin aber in einem Schockzustand, das war ein extremer Stress für den Organismus, wegen des Schlafmangels und des andauernden psychischen Drucks.
So eine Aggression habe ich noch nie erlebt. Aber ich bin okay, ich habe keine Angst, und ich bin froh, dass Leute mich unterstützen, das gibt mir viel Kraft. Ich bin bereit, weiterzumachen, um die Veränderungen zu erreichen, über die jetzt alle reden und die alle erwarten.
Gefangen auf der Polizeistation – schrecklich und eindrücklich
Die 20 Stunden in der Polizeistation Sowjetskaya waren die eindrücklichsten und schrecklichsten. Überall um mich herum wurden die ganze Zeit Menschen geschlagen. Wir waren ungefähr 50 bis 70 Leute. Wir wurden so aufgestellt, dass wir die Soldaten nicht sehen konnten. Die hatten alle große Angst, dass wir ihre Gesichter sehen, obwohl sie Masken trugen.
Sie waren überzeugt davon, dass den Leuten, die an den Protesten teilgenommen haben, Geld gegeben worden war, vor allem US-Dollar. Sie glaubten wirklich, die Leute auf der Straße wollten nicht die Gesetze einhalten, sie wollten keine ehrlichen Wahlen und es geht ihnen nicht um freie Meinungsäußerung, sondern sie wollen damit Geld verdienen. Das wurde ihnen eingetrichtert, damit sie härter durchgreifen.
Sie haben die Leute geschlagen und es war offensichtlich, dass sie dabei Spaß hatten. Sie haben Witze gemacht. Das war nicht nur Verachtung, das war unmenschlich. Sie waren davon überzeugt, dass wir Verräter sind, Abschaum. Es wurden vor allem junge Wehrpflichtige eingesetzt. Sie haben sich sehr aggressiv verhalten, obwohl sie doch erst 18 oder 19 Jahre alt waren.
Am Abend wurden wir in ein anderes Gefängnis gebracht. Dort wurde ich über Nacht mit 78 Menschen in einen 20 Quadratmeter großen Innenhof gesperrt. Alle, die dort waren, waren normale Leute, der Älteste war 65 Jahre alt. Programmierer, Ingenieure, Bauarbeiter, Unternehmer. Alle sind menschlich geblieben. Niemand war hysterisch, keiner hat sich gestritten. Alle waren schockiert, was mit ihnen passiert. In den sozialen Netzwerken wird schon von Luka-Faschismus gesprochen. Diese Leute müssen bestraft werden, und ich bin bereit, alles dafür zu tun."
Lied der Perestroika wird zum Symbolsong in Belarus
Der Song "Hochu Peremen" der sowjetischen Rockband Kino war eigentlich das Lied der Perestroika. Jetzt ist er zum Symbolsong für die Proteste in Belarus geworden. Viktor Tsoi singt:
"Veränderungen brauchen unsere Herzen,
Veränderungen brauchen unsere Augen,
In unserem Gelächter und in unseren Tränen
Und im Pulsieren unserer Venen
Veränderungen!
Wir erwarten Veränderungen."
Vika Biran ist eine queere LGBT-Aktivistin aus Minsk. Seit einem Monat ist sie meine Mitbewohnerin. In Berlin wollte sie eigentlich Kraft schöpfen, da die Repressionen in Belarus bereits vor der Wahl unerträglich waren. Zwei Tage nach der Wahl entscheidet sie sich, zurück nach Minsk zu fliegen.
"Ich habe mehrere Gründe: Erstens hat meine Freundin, die zwischen Krakau und Minsk lebt, gesagt: Wer, wenn nicht wir? Wir haben keine Kinder, wir sind erwachsen, wir haben keine staatlichen Jobs, die wir verlieren könnten, wir sind gut vernetzt. Wir müssen auf die Straße! Zweitens geht es darum, dass hier Polizeigewalt passiert.
Ich war nicht so aktiv während der Wahlen, die Kandidaten und Kandidatinnen haben mich nicht interessiert. Aber jetzt sind schon 900 Menschen im Gefängnis, die Leute gehen weiter auf die Straße. Und drittens: Ich habe eine Freundin, wir haben uns entschieden, ein Team zu sein. Wir werden keine Barrikaden bauen, oder schreien. Ich möchte konkrete Dinge tun. Flugblätter drucken, denn es gibt dort gerade kein Internet. Ich möchte Wasser und Medikamente verteilen. Ich möchte den Menschen konkret jetzt helfen."
Eine Woche später sitzt Vika wieder neben mir in der Küche – ein kurzer Zwischenstopp, um dringende Arbeiten zu erledigen, bevor sie zurück nach Belarus fährt.
Spezielle Tasche, falls du gefangen genommen wirst
"Ich war eine Woche lang in Belarus. Größtenteils war ich dort auf der Straße, mit meinen Freunden und Freundinnen. Ich bin angekommen, als es keine Gummigeschosse, Tränengas oder Granaten mehr gab, ich hatte Glück.
Ich hatte eine spezielle Tasche, wir alle hatten so eine: Dinge, die du brauchst, wenn du gefangen genommen wirst. Toilettenpapier, ein Beutel mit Nüssen, eine Zahnbürste, oder auch ein Buch. Ich stand vor meinem Regal und habe mich für Nabokov entschieden: ´Frühling in Fialta`."
"Du bist Aktivistin und bekämpfst das Regime schon lange. Was bedeutet es für dich, jetzt dabei zu sein?"
"Einer der Gründe, warum dieser Protest anders ist als so viele zuvor, ist, dass Leute auf der Straße sind, die noch nie zusammengeschlagen wurden, sie sind keine Aktivisten und Aktivistinnen, keine NGO-Mitarbeiter. Es ist eine Graswurzelbewegung, sie ist anarchistisch und horizontal organisiert. Die Fabrikarbeiter haben ihre eigene Stimme, das ist absolut einzigartig und neu. Die Leute waren jahrelang verängstigt und eingeschüchtert und jetzt haben sie entschieden, dass sie ihre Freiheit nur bekommen, wenn sie dafür kämpfen. Es ist aber nicht einfach, deine Denkweise zu ändern, wenn es gefährlich ist, das Wort Freiheit überhaupt in den Mund zu nehmen.
Ich hoffe, es wird noch weitergehen, aber es sieht so aus, als ob unser toller Diktator einen Scheiß darauf gibt. Massen an Menschen sind auf der Straße, die EU erkennt die Resultate der Wahlen nicht an, aber er sagt: 'Solange ihr mich nicht umbringt, wird es keine Neuwahlen geben'.
Die Leute sind müde, ich bin auch müde. Sie haben fast alles getan, was sie können. In den Medien sieht man die wunderschönen Bilder von Frauen mit Blumen, die die Polizei umarmen. Aber gleichzeitig werden Menschen immer noch verschleppt, umgebracht, es gibt Beweise für Folter und Vergewaltigung, und es passiert jetzt in diesem Moment.
Wir brauchen jetzt dringend Unterstützung von Politikern und Politikerinnen, Institutionen und der Wirtschaft. Wir brauchen das, weil wir müde sind und wir haben mit unseren Möglichkeiten alles getan, was wir können."